Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Achtzehntes Buch: Das Leben in Florenz.

Zweites Kapitel

Bei günstigem Wind erreichte Corinna Livorno in kaum vier Wochen. Sie litt während dieser Zeit beständig am Fieber; das körperliche mischte sich dem Seelenleiden bei, und in ihrer gänzlichen Zerrüttung hatte sie von all diesen verworrenen Schmerzen keine klaren Eindrücke mehr. Sie schwankte bei ihrer Ankunft, ob sie sich nicht zuerst nach Rom begeben solle; aber wenngleich ihre besten Freunde sie dort erwarteten, hinderte sie ein unübersteiglicher Widerwille, an dem Orte zu leben, wo sie Oswald gekannt hatte. Sie gedachte ihrer Wohnung, der Thür, durch welche er zweimal des Tages einzutreten pflegte, und die Vorstellung, dort ohne ihn leben zu müssen, machte sie schaudern. Aus diesem Grunde entschied sie sich, nach Florenz zu gehen; da sie ein Vorgefühl hatte, als werde der Rest ihres Lebens dem Gram nicht gar zu lange Widerstand leisten, war sie es ganz zufrieden, sich allmählig vom Dasein loszulösen, und hiermit zu beginnen, indem sie allein lebte, fern von den Freunden, fern von der Stadt, die Zeuge ihrer Triumphe gewesen, fern von einem Aufenthalte, wo man versuchen würde, ihren Geist neu anzuregen, wo man verlangen würde, sie solle sich zeigen, wie sie früher war; sie, die in ihrer unbezwingbaren Niedergeschlagenheit auf jede Anstrengung mit Widerwillen sah.

Als sie sich dem fruchtbaren Toscana, dem von Blumen duftenden Florenz näherte, kurz: als sie ihr Italien wiedersah, empfand sie doch nichts als Trauer. Nur Schwermuth bereitete ihr jetzt der Anblick dieser Gefilde, über welche ihr Kinderauge einst in trunkener Lebensfreude hingeschweift. »Wie schrecklich«, sagt Milton, »ist eine Verzweiflung, die sich in dieser milden Luft nicht zu beruhigen vermag!« – Um die Natur zu verstehen, bedarf es der Liebe oder der Religion; und in diesem Augenblick hatte die beklagenswerthe Corinna das köstlichste der irdischen Güter verloren, ohne dafür jene Ruhe gefunden zu haben, welche tief empfindenden und unglücklichen Menschen dann allein noch durch die Frömmigkeit gewährt werden kann.

Toscana ist ein lachendes, reich bebautes Land; auf die Einbildungskraft aber wirkt es nicht wie die Umgebungen Roms. Die Römer haben einst die ursprünglichen Einrichtungen jenes Volkes, das früher Toscana bewohnte, so völlig vernichtet, daß von den Bauten des Alterthums, die Rom und Neapel so interessant machen, hier fast nichts mehr übrig geblieben ist. Dafür hat das Mittelalter Erinnerungen zurückgelassen, die noch ganz das Gepräge seines republikanischen Geistes tragen. In Siena z. B. wird der öffentliche Platz, wo das Volk sich versammelte, wie der Balcon, von welchem aus seine Lenker es anredeten, auch dem am wenigsten zum Nachdenken geneigten Reisenden noch von Bedeutung sein; überall fühlt sich's heraus, daß dort eine demokratische Regierungsform gewaltet hat.

Ein wahres Vergnügen ist's, die Toscaner, selbst die der untersten Klassen, sprechen zu hören. Ihr Ausdruck ist vornehm und bilderreich; er kann einen Begriff von dem reinen Griechisch geben, das in Athen vom ganzen Volke geredet wurde, und wohlklingend war, wie lauterste Musik. Es ist ein ganz seltsames Gefühl, mit dem man sich inmitten eines Volks sieht, dessen Individuen alle gleich gebildet, alle von höherem Stande zu sein scheinen; und wenigstens die Täuschung dieses Gefühls gewinnt man auf Augenblicke in Toscana durch diese allgemein verbreitete Reinheit der Sprache.

Das heutige Florenz erinnert am meisten an den Abschnitt seiner Geschichte, welcher der Thronerhebung der Medici vorausging. Die Paläste der vornehmsten Familien sind gewissermaßen nur Festungen, die auf nachdrückliche Vertheidigung vorbereitet standen; außen sieht man noch die eisernen Ringe, bestimmt die Standarten der Parteien zu tragen. Genug, Alles war dort viel mehr darauf eingerichtet, die Gewalt des Einzelnen, eine jede für sich, zur Geltung zu bringen, als sie für das allgemeine Wohl zu concentriren. Die Stadt scheint für den Bürgerkrieg gebaut. Der Justizpalast hat Thürme, von welchen aus man den nahenden Feind erspähen und zugleich sich gegen ihn vertheidigen konnte. Man sieht hier Paläste von wunderlichster Gestalt, welche daraus entstand, daß ihre Erbauer sie nicht über einen Boden ausdehnen wollten, auf welchem feindliche Häuser geschleift worden. Derartig war der Haß der Familien unter einander. Hier verschworen sich die Pazzi gegen die Medici; dort ermordeten die Guelfen die Ghibellinen, die Spuren des Kampfes und der Rivalität finden sich eben überall. Jetzt aber liegt das Alles wieder im Todesschlaf und nur die Steine haben noch einige Physiognomie behalten. Man haßt sich nicht mehr, weil es nichts mehr zu behaupten giebt, weil die Einwohner sich um die Lenkerschaft eines ruhm- und machtlosen Staates nicht mehr streiten. Das Leben, welches man heutzutage in Florenz führt, ist wunderbar einförmig: Nachmittags geht man am Ufer des Arno spazieren, und Abends fragt man sich, ob man dort gewesen ist.

Corinna richtete sich in einem, nicht fern von der Stadt gelegenen Landhause ein, und meldete dem Fürsten Castel-Forte ihre Absicht, dort bleiben zu wollen. Dies war der einzige Brief, den sie schrieb; sie hatte jetzt einen Abscheu vor den herkömmlichen Beschäftigungen des Lebens; es kostete sie viel Mühe, den geringsten Entschluß zu fassen, die kleinste Anordnung zu treffen. Ihre Tage schleppten sich in völliger Unthätigkeit hin. Sie stand auf, legte sich nieder, stand wieder auf; öffnete vielleicht ein Buch, ohne auch nur den Sinn von ein paar Seiten zu fassen; stundenlang stand sie am Fenster, oder eilte rastlos im Garten umher, oder griff nach einem Blumenstrauß, an dessen Duft sie sich zu betäuben suchte. Das Gefühl vom Dasein verfolgte sie wie ein nie rastender Schmerz. Auf tausendfache Art suchte sie dieses reiche Denkvermögen in sich zu beschränken, das ihr ja doch nicht mehr, wie sonst, hohe weitreichende Betrachtungen vor die Seele führte, sondern nur das eine, eine Bild, den einen furchtbaren Gedanken, der ihr das Herz zerfleischte.

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