Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Achtzehntes Buch: Das Leben in Florenz.

Erstes Kapitel

ens seine Zuneigung für Lord Nelvil ein, und mit dem Grundsatze, daß nur in der wahren Freundschaft das wahre Glück zu finden sei, reiste er nach Schottland ab. Auf dem Landsitze Lord Nelvils angekommen, erfuhr er, daß dieser abwesend sei, wenn auch nur, um auf dem benachbarten Schlosse der Lady Edgermond einer großen Festlichkeit beizuwohnen. Unverzüglich bestieg der Graf ein Pferd, um den Freund dort aufzusuchen, den wiederzusehen ihm ein so höchst dringendes Bedürfniß geworden war. Während er schnell dahinsprengte, gewahrte er am Rande der Straße eine regungslos liegende Frauengestalt. Er hielt an, stieg ab, ihr zu Hülfe zu eilen, und wie groß war sein Erstaunen, als er, trotz ihrer tödtlichen Blässe, Corinna erkannte! Vom lebhaftesten Mitleid erfaßt, suchte er, mit Hülfe seines Bedienten, aus Zweigen eine Art Bahre herzurichten, um sie auf diese Weise nach dem Schlosse der Lady Edgermond zu schaffen. Allein eben jetzt kam Theresina herzu, die im Wagen sitzen geblieben war, denselben jedoch, über die verzögerte Rückkehr der Herrin besorgt, endlich verlassen hatte, und da sie annahm, nur Lord Nelvil könne diese in einen solchen Zustand versetzt haben, bestimmte sie, man müsse die Erkrankte nach der nächsten Stadt bringen. Graf d'Erfeuil begleitete Corinna auch dorthin; und während der acht Tage, welche die Unglückliche nun in Fieber und Geisteszerrüttung zubrachte, verließ er sie keinen Augenblick; so war es also der frivole Mann, der ihr im Elende half, während der empfindungsvolle ihr das Herz gebrochen!

Corinna war, als sie ihre Besinnung wieder hatte, von diesem Widerspruch nur allzu schmerzlich ergriffen; sie dankte dem Grafen in tiefer Bewegung. Seine Antwort verrieth ein Bemühen, sie schnell zu trösten; er war edler Handlungen fähiger, als ernster Worte, und Corinna konnte in ihm viel eher einen Beistand, als einen Freund finden. Sie suchte ihre Verstandeskräfte zu sammeln, sich das Geschehene ins Gedächtniß zurückzurufen; es kostete sie lange Mühe, sich zu erinnern, was sie gethan, und weshalb sie so gethan. Vielleicht begann sie schon, ihr Opfer zu groß zu finden, vielleicht dachte sie daran, Lord Nelvil wenigstens ein letztes Lebewohl zu sagen, ehe sie England verließe: da fand sie am zweiten Tage, nachdem sie wieder bei Bewußtsein war, in einem öffentlichen Blatt, das ihr durch Zufall in die Hände kam, folgende Mittheilung:

»Lady Edgermond hat soeben erfahren, daß ihre Stieftochter, von der sie geglaubt, sie sei in Italien gestorben, noch lebt, und sich in Rom unter dem Namen Corinna eines großen literarischen Rufes erfreut. Lady Edgermond rechnet es sich zur Ehre, sie anzuerkennen und mit ihr die Erbschaft des kürzlich in Indien verstorbenen Bruders des Lord Edgermond zu theilen.

»Lord Nelvil wird sich am nächsten Sonntage mit Miß Lucile Edgermond vermählen, der jüngsten Tochter Lord Edgermonds und seiner Wittwe, Lady Edgermond. Der Ehekontrakt wurde gestern unterzeichnet.«

Zu ihrem Unglücke wurde Corinna nicht wahnsinnig, als sie diese Nachricht las; aber eine jähe Umwälzung ging in ihr vor. Alle Interessen des Lebens wichen von ihr; sie fühlte sich eine zum Tode Verurtheilte, nur daß sie noch nicht wußte, wann das Urtheil vollzogen werde, und von Stunde an herrschte allein die Stille der Verzweiflung in ihrer gebrochenen Seele.

Graf d'Erfeuil trat jetzt in ihr Zimmer; er fand sie bleicher noch und schattenhafter, als sie selbst im ohnmächtigen Zustande ihm erschienen war; voller Sorge fragte er nach ihrem Befinden. »Es geht mir nicht schlechter, und ich möchte übermorgen abreisen. Es ist ein Sonntag«; fügte sie mit feierlichem Ernst hinzu, »ich denke nach Plymouth zu gehen, und mich dort nach Italien einzuschiffen.« – »Ich begleite Sie«, erwiderte Graf d'Erfeuil, »nichts hält mich hier zurück, und es wird mir ein Vergnügen sein, diese Reise mit Ihnen zu machen.« – »Sie sind gut«, entgegnete Corinna, »wahrhaft gut; man muß nicht nach dem Schein urtheilen ... «, sie hielt inne; dann fuhr sie fort: »Ich nehme bis Plymouth Ihre Begleitung an, denn ich bin nicht gewiß, daß ich mich allein dort hinfände; nachher, wenn ich nur erst einmal in der Kajüte bin, führt mich das Schiff hinweg; und in welchem Zustande ich dann auch sei, das ist ja ganz gleichgültig.« – Sie wünschte nun, allein zu sein; lange weinte sie vor Gott und bat ihn um Kraft, ihren Schmerz zu tragen. Das war nicht mehr die ungestüme, die aufstrebende Corinna; ihre reiche mächtige Lebenskraft war erschöpft, und dieses gänzliche Vernichtetsein, von dem sie sich nicht eigentlich Rechenschaft geben konnte, gab ihr Gelassenheit. Das Unglück hatte sie überwunden: müssen denn nicht früher oder später auch die Widerstrebendsten den Nacken unter sein Joch beugen lernen?

Am Sonntage verließ Corinna Schottland, vom Grafen d'Erfeuil begleitet. »Heute also!« – sagte sie, als sie sich vom Bette erhob, um in den Wagen zu steigen, »Heute!« Graf d'Erfeuil fragte, was sie meine; sie antwortete jedoch nicht, und versank wieder in Stillschweigen. Der Weg führte an einer Kirche vorüber, und Corinna bat ihren Begleiter, für einen Augenblick dort hineintreten zu dürfen. Vor dem Altar sank sie auf die Kniee und betete für Oswald und Lucile, die sie in Gedanken wohl eben jetzt an gleicher Stätte knieen sah. Als sie aber wieder aufstehen wollte, wankte sie, vor übermächtiger Erschütterung, und nur gestützt auf den Grafen und Theresina vermochte sie die Kirche zu verlassen. Wo sie vorüberschritt, erhoben sich die Betenden in mitleidiger Ehrfurcht. »Ich sehe wohl recht krank und traurig aus?« fragte sie den Grafen, »es giebt jüngere und glücklichere Menschen als ich, die sich um eben diese Stunde triumphirend vom Altare wenden.«

Graf d'Erfeuil hörte das Ende dieser Worte schon nicht mehr; er war gut, aber nicht mitfühlend. Gewiß, er hatte Corinna herzlich lieb, aber dennoch langweilte ihn ihre Niedergeschlagenheit unterwegs recht sehr, und er versuchte, sie derselben zu entziehen, als ob man nur zu wollen habe, um alle Noth des Lebens zu vergessen. »Ich hatte es Ihnen ja vorhergesagt«, äußerte er zuweilen. Eine sonderbare Art zu trösten, diese Genugthuung, welche die Eitelkeit sich auf Kosten des Schmerzes erlaubt!

Corinna machte die unerhörtesten Anstrengungen, um zu verbergen, was sie litt; denn vor oberflächlichen Menschen schämt man sich seiner großen Leidensfähigkeit: mit keuschem Gefühl hält man Alles zurück, was nicht verstanden wird, was man erst erklären muß, und bewahrt still diese Geheimnisse der Seele, für welche man Erleichterung nur von Menschen erfahren kann, die sie ohne Worte verstehen. Auch Vorwürfe machte sich Corinna, für Graf d'Erfeuils Freundschaftsbeweise nicht dankbar genug zu sein; doch seine Stimme, sein Ton, sein Blick verriethen so viel Zerstreuung, so sehr das Bedürfniß sich zu amüsiren, daß man unaufhörlich im Begriffe stand, sein großmüthiges Thun zu vergessen, wie er selbst es vergaß. Es ist ja ohne Zweifel sehr schön, wenn man wenig Gewicht auf dasselbe legt, aber für gewisse Charaktere kann die Sorglosigkeit, mit welcher man über den eigenen Edelmuth hinwegsieht, wohl auch den Eindruck der Leichtfertigkeit machen.

In ihren Fieberfantasien hatte Corinna fast all ihre Geheimnisse verrathen, und aus den öffentlichen Blättern erfuhr der Graf das Uebrige. Zu wiederholten Malen wollte er mit ihr über das, was er ihre »Angelegenheiten« nannte, reden; aber schon dieser Ausdruck war hinreichend, um ihr Vertrauen zu erstarren; sie flehte ihn an, den Namen Lord Nelvils lieber gar nicht zu nennen. Als sie sich vom Grafen d'Erfeuil trennte, wußte sie, in banger Verlegenheit, nicht, wie sie ihm ihre Dankbarkeit ausdrücken solle; denn war es ihr auch lieb, fortan allein zu sein, so schied sie doch höchst ungern von einem Manne, der ihr so viel ächte Güte bewiesen. Sie versuchte ihm zu danken, doch die einfache Natürlichkeit, mit der er sie bat, nicht weiter davon zu reden, hieß sie verstummen. Darauf ersuchte sie ihn, Lady Edgermond mitzutheilen, daß sie auf die Erbschaft des Onkels gänzlich Verzicht leiste, und fügte hinzu, er möge sich des Auftrages in solcher Weise entledigen, als habe er ihn von Italien aus erhalten; es solle ihrer Stiefmutter nichts von ihrem Aufenthalt in England bekannt werden.

»Und darf Lord Nelvil es wissen?« fragte Graf d'Erfeuil darauf. Corinna bebte, und schwieg einige Augenblicke. »Sie werden es ihm bald sagen können«, erwiderte sie endlich; »ja bald! Meine römischen Freunde sollen Ihnen melden, wenn es so weit ist.« – »Pflegen Sie wenigstens Ihre Gesundheit, theure Corinna«, sagte Graf d'Erfeuil; »wissen Sie wohl, daß ich recht besorgt Ihretwegen bin?« – »Wirklich?« erwiderte Corinna lächelnd, »aber ich glaube selbst, Sie haben Recht.« – Der Graf reichte ihr den Arm, um sie an den Strand zu geleiten; im Begriffe, sich einzuschiffen, wendete sie sich noch einmal diesem England zu, das sie auf immer verließ, und das den einzigen Gegenstand ihrer Liebe und ihres Leides zurückbehielt. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, den ersten, die sie in des Grafen Gegenwart vergoß. »Schöne Corinna«, sagte er, »vergessen Sie einen Undankbaren; erinnern Sie sich der Freunde, die Ihnen so herzlich ergeben sind, und denken Sie doch mit Vergnügen an die großen Vorzüge, die Sie noch besitzen.« – Während dieser Rede entzog ihm Corinna ihre Hand und trat ein paar Schritte von ihm zurück; dann schnell diese Regung bereuend, reichte sie ihm beide Hände hin und sagte ihm sanft Lebewohl. Graf d'Erfeuil bemerkte durchaus nicht, was in ihr vorgegangen war. Er bestieg mit ihr das Schiff, empfahl sie dem Capitän auf's Dringendste, und kümmerte sich mit liebenswürdiger Sorgfalt um alle die Einzelheiten, durch welche ihr die Ueberfahrt angenehmer gemacht werden konnte. Dann, während er sich mit dem Boot an's Land zurückbegab, grüßte er noch lange mit dem Taschentuch nach dem Schiffe hinüber. Corinna erwiderte ihm voll inniger Dankbarkeit; aber ach! war denn dies der Freund, auf welchen sie zählen sollte?

Oberflächliche Gefühle haben zuweilen eine lange Dauer; da sie nicht hochgespannt sind, zerreißen sie auch nicht. Sie schmiegen sich den Umständen an, verschwinden mit diesen, kehren mit diesen wieder; während die tiefen, leidenschaftlichen Zuneigungen unwiederbringlich zerreißen und nichts an ihrer Statt zurücklassen, als eine schmerzende Wunde.

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