Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.
Corinna in Schottland.
Neuntes Kapitel
Lady Edgermond war schon seit zwei Tagen auf ihrem Gute, und grade an diesem Abend von Corinnens Eintreffen fand dort ein großes Ballfest statt. Sämmtliche Nachbarn hatten die Lady gebeten, sich zur Feier ihrer Ankunft bei ihr vereinigen zu dürfen, und Lucile sich diesem Wunsche angeschlossen, in der geheimen Hoffnung vielleicht, auch Oswald werde sich zu dem Feste einfinden. So war es auch: als Corinna ankam, war er schon dort. Die Auffahrt schien von Equipagen angefüllt; sie ließ deshalb die ihrige eine Strecke vorher halten, stieg aus, und stand nun wieder auf dem Boden, wo sie von dem theuren Vater so viele Beweise seiner Liebe erhalten hatte. Welch ein Unterschied zwischen jenen Zeiten, die sie damals doch für glücklose hielt, und ihrer gegenwärtigen Lage! So werden wir im Leben für die Schmerzen unserer Einbildungskraft oft durch ein Leid gestraft, das uns nur zu gut erkennen lehrt, was wahrer Kummer ist.
Corinna ließ sich erkundigen, aus welchem Grunde das Schloß erleuchtet und welches die Namen der dort versammelten Gäste seien. Der Zufall wollte, daß Corinnens Bediente einen von Lord Nelvils Leuten fragte, der erst seit dessen Heimkehr von Italien in seine Dienste getreten war. Jener berichtete die erhaltene Antwort: »Lady Edgermond giebt heute einen Ball, und mein Herr, Lord Nelvil, hat ihn soeben mit Miß Lucile, der Erbin dieses Schlosses, eröffnet.« – Corinna bebte, doch gab sie ihren Entschluß nicht auf. Eine unselige Neugier zog sie nach der Stätte, wo so viel Schmerzen ihrer warteten. Sie schickte ihre Leute fort und trat allein in den offenen Park, in welchem sich ungesehen zu bewegen die Dunkelheit dieser Stunde ihr gestattete. Es war zehn Uhr, und seit dem Beginn des Balles tanzte Oswald mit Lucile jene englischen Contretänze, die fünf- bis sechsmal in einem Abend, und stets mit derselben Dame, wiederholt werden; der größeste Ernst waltet zuweilen über diesem Vergnügen.
Lucile tanzte mit edlem Anstand, doch ohne Leben, und das Gefühl, von dem sie jetzt beschäftigt war, vermehrte noch ihren natürlichen Ernst. Da man in der Nachbarschaft begierig war, zu wissen, ob sie Lord Nelvil liebe, wurde sie von aller Welt mehr als gewöhnlich beobachtet. Das hinderte sie, die Augen zu Oswald aufzuschlagen, wie sie denn überhaupt vor lauter Schüchternheit nichts mehr sah und hörte. Anfangs war Lord Nelvil von so vieler Verwirrung und Zurückhaltung äußerst gerührt; da sich diese Situation aber gar nicht änderte, fing er doch an, derselben müde zu werden, und er verglich diese langen Reihen von Damen und Herren und diese einförmige Musik mit der seelenvollen Anmuth der italienischen Weisen und Tänze. Diese Betrachtung versenkte ihn in tiefe Träumerei, und Corinna würde noch einige Augenblicke des Glückes genossen haben, wenn sie jetzt Lord Nelvils Gefühle hätte ahnen können. Aber die Unglückliche, die auf dem väterlichen Boden als Fremde stand, die eine Verlassene in der Nähe des Mannes war, den sie als Gatten zu besitzen gehofft, sie durchirrte ziellos, schmerzzerrissen die dunklen Alleen eines Wohnsitzes, den sie einst als den ihren hatte betrachten dürfen. Die Erde schwankte unter ihren Füßen, und nur die Aufregung der Verzweiflung vertrat die mangelnde Kraft. Vielleicht hoffte sie, Oswald im Garten zu begegnen; doch sie wußte selber nicht, was sie wünschen sollte.
Das Schloß lag auf einer Anhöhe, an deren Abdachung sich ein kleiner anmuthiger Fluß hinzog. Sein diesseitiges Ufer schmückten reiche Baumgruppen; das jenseitige wurde von nackten, mit wenigem Gestrüpp bedeckten Felsen gebildet. Corinna befand sich jetzt in der Nähe dieses Flusses, zu dessen leisem Rauschen die Klänge der festlichen Musik herniederschwebten, als suchten sie Vereinigung. Auch der Glanz der Lichter fiel von der Höhe herab tief in die Fluthen hinein, während allein des Mondes Schimmer die schroffen Abhänge des jenseitigen Ufers erhellte. Wie in der Tragödie des Hamlet, irrten hier die Schatten um das von froher Lustbarkeit wiederhallende Schloß.
Die einsame und verstoßene, die beklagenswerthe Corinna, sie hatte jetzt nur einen Schritt zu thun, um in ewiges Vergessen zu tauchen! »Ach!« rief sie, »wenn er morgen im Kreise heiterer Genossen an diesem Ufer wandelte und sein siegender Blick fiele dann auf den Körper der Frau, die er doch einst liebte, würde er dann nicht ein Furchtbares empfinden, das mich rächte, einen Schmerz, der dem gliche, was ich leide? Nein! Nein!« rief sie, »nicht Rache soll man in dem Tode suchen, sondern Ruhe!« Sie schwieg; nachdenklich blickte sie auf dieses eifrige schnelle und dennoch so gleichmäßig dahinfließende Wasser, und bedachte, wie es in der Natur gelassen weiter treibt und webt, während des Menschen Seele im höchsten Aufruhr kämpft. Jener Tag, an welchem Lord Nelvil sich in das tobende Meer stürzte, um einen Greis zu retten, kam ihr ins Gedächtniß. »Wie gut er damals war!« rief Corinna. »Ach!« fuhr sie weinend fort, »vielleicht ist er es noch! Weshalb soll ich ihn tadeln, weil ich leide? Vielleicht weiß er es nicht, vielleicht würde er, wenn er mich sähe ...« Und plötzlich kam ihr der Entschluß, Lord Nelvil mitten aus diesem Feste abrufen zu lassen, um augenblicklich mit ihm zu reden. In der Anspannung, die sich aus einer neu errungenen Entscheidung erzeugt, stieg sie nun wieder zum Schlosse hinauf; allein als sie dasselbe erreicht, fühlte sie sich längst wieder entkräftet und verzagt, und war genöthigt, sich auf einer Steinbank niederzulassen, welche unter den Fenstern des Saales stand. Die Menge der Landleute, welche herbeigeströmt waren, um den Tanz mit anzusehen, schützte sie vor Entdeckung.
Lord Nelvil trat eben jetzt auf den Balcon hinaus; er athmete die frische Abendluft begierig ein; der Duft einiger in der Nähe befindlicher Rosenbüsche erinnerte ihn an das Parfüm, das Corinna immer trug, – es durchschauerte ihn! Die lange, eintönige Festlichkeit war so ermüdend! Er erinnerte sich, mit welchem Geist Corinna dergleichen zu arrangiren wußte, er gedachte ihres künstlerischen Verständnisses für alles Schöne und Große, und es fiel ihm ein, daß er sich Lucile nur in einem regelmäßigen, häuslichen Leben mit Wohlgefallen als Gefährtin denken könne. Alles nur im entferntesten in das Reich der Einbildungskraft, der Poesie Hinübergreifende erweckte ihm Gedanken an Corinna, erneuerte ein schmerzliches Bangen nach ihr! In diesem Augenblick wurde Oswald von einem seiner Freunde angeredet, und Corinna vernahm seine Stimme. In wie unaussprechliche Bewegung bringt sie uns, die Stimme des Geliebten! Welch ein Durcheinander von Wonne und Schreck! Schreck: denn es giebt so heftige Eindrücke, daß die arme Menschennatur, die ihnen unterworfen ist, vor sich selber scheut.
»Finden Sie den Ball nicht entzückend?« fragte einer von Oswalds Bekannten. »Ja«, sagte er, »ja in der That«, wiederholte er zerstreut und seufzend. Dieses Seufzen und der schwermüthige Klang seiner Stimme gaben Corinna ein Gefühl des Glücks. Mit Sicherheit hoffte sie jetzt, Oswalds Herz noch wiederzufinden, noch von ihm verstanden zu werden, und schnell erhob sie sich, um einen der Bedienten zu bitten, er möge Lord Nelvil rufen. Wie verschieden würde sich ihr Schicksal und das Oswalds gestaltet haben, wenn sie dieser Regung gefolgt wäre!
In diesem Moment näherte sich Lucile dem Fenster; beim Hinausblicken fiel ihr Auge auf die Gestalt einer fremdartig gekleideten und dennoch nicht festlich geschmückten Frau. Mit vorgebeugtem Haupt spähte sie aufmerksam prüfend der Erscheinung nach; sie glaubte die Züge der Schwester klar zu erkennen, und da sie dieselbe seit sieben Jahren zweifellos für todt hielt, sank sie im Entsetzen über deren vermeintlichen Schatten ohnmächtig zusammen. Alles lief ihr zu Hülfe. Corinna fand den Diener nicht mehr, den sie hatte anreden wollen, und ängstlich zog sie sich tiefer in den Garten zurück, um nicht gesehen zu werden.
Lucile erholte sich wieder; sie wagte aber nicht zu gestehen, was sie so erschreckt hatte. Ihr Geist war von Kindheit auf durch die mütterliche Erziehung mit frommgläubigen Vorstellungen überfüllt worden, und so wähnte sie denn, dieser auf des Vaters Grab zuschreitende Schatten der Schwester sei ihr erschienen, um ihr das Vergessen dieses Grabes und den Leichtsinn vorzuwerfen, mit welchem sie hier an Lustbarkeiten Theil nahm, ohne vorher der heiligen Asche mindestens ein frommes Gedenken geweiht zu haben. In einem Augenblicke daher, als Lucile sich unbeobachtet glaubte, verließ sie schnell den Ballsaal, und mit Erstaunen sah Corinna die Schwester allein in den Garten treten. Sie zweifelte nicht, Lord Nelvil werde ihr bald folgen; ja vielleicht hatte er eine geheime Unterredung von ihr erbeten, um die Erlaubniß nachzusuchen, daß er mit seinen Wünschen zu ihrer Mutter gehen dürfe. Bei dieser Vermuthung zitterte Corinna; bald jedoch sah sie Lucile den Weg nach einem Bosquet einschlagen, welches das Grabmal Lord Edgermonds umschloß; und sich nun gleichfalls anklagend, daß sie ihr Herz und ihre Schritte nicht zuerst dorthin gerichtet, folgte sie der Schwester in einiger Entfernung, während sie immer Acht hatte, sich im Dunkel der Bäume zu halten. Sie konnte jetzt die scharfen Umrisse des Sarkophags genau unterscheiden. Unfähig weiterzugehen, lehnte sie sich in tiefer Erschütterung an einen Baum; Lucile stand vor dem Grabe.
Jetzt war Corinna bereit, sich der Schwester zu entdecken, und im Namen ihres Vaters Rang und Gatten zurückzufordern; aber eben trat Lucile noch einige Schritte näher an das Denkmal heran, und von Neuem sank Corinnens Muth. In dem Herzen einer Frau eint sich so viel Schüchternheit mit der Allmacht ihres Gefühls, daß ein Nichts sie zurückhalten, ein Nichts sie hinreißen kann. Lucile beugte vor dem Grabe ihres Vaters die Kniee. Sie strich ihr blondes Haar zurück, welches heute ein Blumenkranz schmückte, und hob mit holder Andacht die Augen im Gebet zum Himmel. Corinna konnte die vom Licht des Mondes sanft verklärte Gestalt der Schwester deutlich sehen; mit großmüthiger Rührung betrachtete sie diese reine Frömmigkeit, dieses jugendliche Antlitz, auf dem der Kindheit Züge noch erkennbar waren. Sie erinnerte sich der Zeit, als sie Lucile wie eine Mutter liebte; sie dachte an sich selbst und daß sie nicht mehr weit vom dreißigsten Jahre, von dem Höhepunkte sei, wo die Jugend sich abwärts zu neigen beginnt, während ihre Schwester eine lange, lange Zukunft vor sich habe; eine Zukunft, die durch keine Erinnerung, durch keine Vergangenheit, welche man vor Andern, oder vor dem eigenen Gewissen zu verantworten habe, getrübt werde. »Wenn ich vor Lucile trete und mit ihr rede«, sagte sie sich, »stürme ich ihre ruhige Seele auf, und nie vielleicht kehrt der Friede ihr wieder zurück. Ich habe schon so viel gelitten, ich werde auch noch mehr zu leiden wissen; während dieses unschuldige Kind schnell aus tiefer Ruhe in furchtbare Erschütterung versetzt würde. Und ich, die ich sie in meinen Armen hielt, die ich sie an meiner Brust in Schlaf gesungen, ich sollte sie in die Welt des Schmerzes stürzen?« – So dachte Corinna. Aber diesem uneigennützigen Gefühl, dieser edlen Exaltation, mit welcher sie sich selbst hinopfern wollte, stellte sich die Liebe in ihrem Herzen zu schwerem Kampfe entgegen!
»O mein Vater, bitte für mich«, sprach Lucile halblaut; Corinna hörte es; auch sie kniete nieder, auch sie flehte den väterlichen Segen, für beide Schwestern jedoch, hernieder, und vergoß Thränen, die einem noch reineren Gefühl, als dem irdischer Liebe entströmten. Wie tief gerührt war sie, als Lucile in ihrem Gebete fortfuhr: »Und Du, meine Schwester, sprich im Himmel für mich! Du, die Du mich in meiner Kindheit liebtest, beschütze mich auch ferner. Mein Vater, verzeihe mir, daß ich Dich einen Augenblick vergaß; ein von Dir gebotenes Gefühl ist Schuld daran. Ich bin nicht strafbar, wenn ich den Mann liebe, den Du selbst mir zum Gatten bestimmtest; aber vollende Dein Werk und füge es, daß er mich als die Seine erwähle. Ich kann nur mit ihm mein Glück finden; doch soll er niemals wissen, daß ich ihn liebe, niemals soll dies zitternde Herz sein Geheimniß verrathen. O mein Gott! O mein Vater! Tröstet Euer Kind, und macht es der Liebe Oswalds werth.« – »Ja«, wiederholte Corinna, »erhöre sie, mein Vater, und Deinem andern Kinde gewähre bald den Tod.«
Nach diesem Gelübde, dem schwersten Siege, den sie ihrer Seele abzuringen vermocht, zog Corinna den Brief mit Oswalds Ring hervor und entfernte sich schnell. Sie fühlte es wohl: wenn sie diesen Brief an Lord Nelvil schickte, ohne ihn wissen zu lassen, daß sie in England sei, zerriß sie auf ewig das Band, das sie noch an Oswald knüpfte, und gab ihn an Lucile fort. Aber in Gegenwart dieses Grabes hatten sich die Hindernisse, welche sie von Oswald trennten, ihrem Nachdenken furchtbarer denn je entgegengestellt. Sie hatte der Worte Herrn Dicksons gedacht: »Sein Vater verbietet es ihm, jene Italienerin zu heirathen«; und es war ihr, als ob auch der ihre sich dem Vater Oswalds zugeselle, als ob ihre Liebe von dieser hohen väterlichen Machtvollkommenheit verurtheilt werde. Lucilens Unschuld, Jugend und Reinheit begeisterten ihre Einbildungskraft, und einen Augenblick wenigstens war sie stolz, sich hinzuopfern, auf daß Oswald mit seinem Lande, seiner Familie, mit sich selbst im Frieden sei!
Die glanzvolle Musik, welche gleichsam auf sie herniederströmte, als sie sich dem Schlosse näherte, unterstützte ihren Muth. Sie bemerkte einen armen, blinden Greis, der, am Fuße eines Baumes sitzend, auf das Geräusch des Festes lauschen mochte; an diesen trat sie heran und bat ihn, er möge den erwähnten Brief einem der Bedienten des Hauses übergeben. So vermied sie die Gefahr, daß Lord Nelvil entdecke, eine Frau sei die Ueberbringerin desselben gewesen. Wer Corinna gesehen hätte, als sie diesen Brief aushändigte, der würde auch gefühlt haben, daß er die Verurtheilung ihres Lebens, ihres Glückes enthielt. Ihr Blick, ihre zitternde Hand, die feierliche und traurige Stimme, alles entsprach einem jener unseligen Momente, wo das Schicksal sich unserer bemächtigt, wo der glücklose Mensch nur noch als der Sklave des Verhängnisses handelt, das ihn endlich ereilt.
Corinna folgte dem Greise mit den Augen; ein treuer Hund geleitete ihn, und sie sah deutlich, wie er, seinen Auftrag gewissenhaft ausführend, den Brief einem der Bedienten Lord Nelvils übergab. Alle Verhältnisse wirkten zusammen, um ihr keine Hoffnung mehr zu lassen. Noch einige Schritte ging sie weiter, zu beobachten, wie der Diener unter dem Portale verschwand; und dann – als sie ihn nicht mehr sah, als sie die große Straße erreicht hatte, als sie die Festesklänge nicht mehr vernahm, und selbst die erleuchteten Fenster des Schlosses nicht mehr sichtbar waren, da durchbebten sie Todesschauer: kalter Schweiß netzte ihre Stirn, sie wollte weiter, aber die Kräfte versagten, und besinnungslos brach sie auf der offenen Landstraße zusammen.