Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Achtes Kapitel

Lord Nelvil war, ehe er London verließ, noch einmal zu seinem Banquier gegangen, um etwaige Briefe aus Italien in Empfang zu nehmen, und da er hörte, daß immer noch nichts von Corinna eingetroffen sei, fragte er sich mit Bitterkeit, ob er ein sicheres und dauerndes häusliches Glück einer Frau zu opfern habe, die sich seiner vielleicht nicht mehr erinnere? Doch beschloß er, nochmals zu schreiben, wie er das seit sechs Wochen schon so oft gethan hatte, um Corinna nach der Ursache ihres Schweigens zu fragen, und wiederholt zu versichern, daß er nie der Gatte einer Andern sein werde, bis sie ihm nicht den Ring wiedersende. Die Reise legte er in sehr verdrossener Stimmung zurück: er liebte Lucile, fast ohne sie zu kennen, gedachte aber auch mit Schmerz Corinnens, und betrübte sich über die Verhältnisse, die sie Beide von einander schieden. Abwechselnd bestach ihn der jungfräuliche Zauber der Einen, erinnerte er sich der edlen Anmuth, der hohen Redegabe der Andern. Hätte er in diesem Augenblick gewußt, daß Corinna ihn mehr als je liebte, daß sie Alles verlassen hatte, um ihm zu folgen, würde er Lucile niemals wiedergesehen haben; doch er glaubte sich vergessen! Die Charaktere von Corinna und Lucile vergleichend, meinte er, daß eine äußerlich kalte und verschlossene Frau oft des wärmsten Empfindens fähig sei. Er täuschte sich: »leidenschaftliche Menschen verrathen sich auf tausendfache Art, und was man stets zurückzuhalten vermag, ist wohl nur schwach empfunden!«

Es kam noch ein Umstand dazu, um Lord Nelvils Interesse an Lucile zu steigern. Der Weg zu seinem Landsitze führte nahe an dem Schlosse der Lady Edgermond vorüber; neugierig machte er dort Halt. Er ließ sich das Kabinet öffnen, in welchem Lucile zu arbeiten pflegte, und fand hier viele Erinnerungen aus der Zeit, die Oswalds Vater, während seines Sohnes Aufenthalt in Frankreich, in diesem Hause verlebt hatte. An der Stelle, wo Lord Nelvil ihr noch wenige Monate vor seinem Tode Unterricht ertheilte, hatte Lucile ein kleines Denkmal errichten lassen, auf welchem die Worte »Dem Gedächtnisse meines zweiten Vaters« zu lesen waren. In einem Buche, das auf dem Tische lag, erkannte Oswald eine Sammlung von Gedanken und Aussprüchen seines Vaters, und auf der ersten Seite stand in dessen eigener Handschrift Folgendes: »An sie, die mich in meinem Kummer tröstete; der reinsten Seele, der engelgleichen Frau, die einst der Stolz und das Glück ihres Gatten sein wird!« – Mit tiefer Bewegung las Oswald diese Zeilen, in denen der Wunsch des hochverehrten Mannes so lebhaft ausgesprochen war. Lucilens Verschweigen der Beweise von Zuneigung, welche sie von seinem Vater empfangen, erstaunte ihn. Er sah in diesem Schweigen ein seltenes Zartgefühl, und die Besorgniß, daß die Pflicht seine Wahl bestimmen könne. Am meisten trafen ihn die Worte: »An Sie, die mich in meinem Kummer tröstete.« – »Also Lucile ist's«, rief er, »Lucile, die den Schmerz zu lindern verstand, den meine Irrthümer dem Vater bereiteten; und ich sollte sie verlassen, während ihre Mutter im Sterben ist, und sie keinen anderen Tröster haben wird, als mich! Ach Corinna! Du Strahlende, Du Vielgesuchte, bedarfst Du, wie Lucile, eines treuen und ergebenen Freundes?« – Sie war nicht mehr strahlend, sie war nicht mehr gesucht, diese Corinna, die eben allein von Station zu Station irrte; die den nicht einmal sah, für den sie Alles geopfert, und welche dennoch die Kraft nicht hatte, sich von ihm loszusagen. In einer kleinen Stadt, auf dem halben Wege nach Edinburg, war sie erkrankt, und trotz aller Selbstbeherrschung nicht im Stande gewesen, ihre Reise fortzusetzen. Oft, in diesen langen Leidensnächten, dachte sie daran, daß, falls sie hier stürbe, Theresina allein ihren Namen wisse, um ihn auf ihr Grab zu setzen. Welch eine Veränderung, welch ein Schicksal für eine Frau, die in Italien keinen Schritt gethan hatte, ohne daß die überschwänglichsten Huldigungen zu ihren Füßen niedergelegt wurden. Muß denn die Fluth eines einzigen Gefühls so das ganze Leben veröden? Endlich, nach acht Tagen der unaussprechlichsten Angst, vermochte sie ihren traurigen Weg wieder anzutreten; wenn das Ziel desselben auch die Hoffnung war, Oswald zu sehen, so lagerte sich um diese bange Erwartung doch eine solche Schaar schmerzlichster Empfindungen, daß die qualvollste Rastlosigkeit doch eigentlich alles Andere in ihrem Herzen überwog. Corinna wünschte, ehe sie Lord Nelvils Schloß erreichte, noch einige Stunden auf dem nahegelegenen Landsitze ihres Vaters zuzubringen, wo sich, nach dessen letztem Willen, sein Grabmal befand. Sie war seit seinem Tode nicht dort gewesen, und hatte überhaupt einst nur einen Monat, allein mit dem Vater, auf diesem Gute zugebracht. Diese Erinnerungen an den glücklichsten Abschnitt ihres Aufenthalts in England machten es ihr zum Bedürfniß, den Ort noch einmal wiederzusehen. Sie konnte nicht voraussetzen, daß Lady Edgermond schon dort sei.

Noch einige Meilen vom Schlosse entfernt, traf Corinna auf der großen Straße eine umgeworfene Reisekalesche. Sie ließ halten, um dem Inhaber derselben, einem greisen Gentleman, der von dem eben stattgehabten Unfalle sehr erschrocken schien, und sich mühsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorarbeitete, Hülfe zu leisten. Voller Dankbarkeit nahm er den von Corinna freundlich angebotenen Platz in ihrer Chaise an und stellte sich ihr als Herr Dickson vor. Corinna erinnerte sich, wie oft sie diesen Namen von Lord Nelvil gehört. Bald wußte sie die Rede dieses guten Mannes auf den einzigen Gegenstand zu leiten, der noch ihr Leben erfüllte. Herr Dickson war ein sehr gesprächiger, alter Herr; wie konnte er ahnen, daß Corinna, deren Namen ihm unbekannt, und die er wohl für eine Engländerin hielt, bei ihren Fragen irgend welch persönliches Interesse haben könne. So erzählte er Alles, was er wußte, mit der größten Umständlichkeit; und da ihre Güte ihn gerührt hatte, und er ihr gern gefallen wollte, wurde er schließlich, nur um zu unterhalten, recht indiscret.

Er erzählte, wie er selber Lord Nelvil davon in Kenntniß gesetzt, daß sein Vater die Ehe, welche er jetzt einzugehen denke, im Voraus gemißbilligt habe. Den darauf bezüglichen Brief des Verstorbenen gab er im Auszuge wieder; es durchschnitt Corinnens Herz, ihn mehrmals eifrig wiederholen zu hören: »Der Vater habe es Oswald nun einmal untersagt, diese Italienerin zu heirathen, und solchem Befehl zu trotzen, hieße sein Gedächtniß entehren.« Damit ließ es Herr Dickson noch nicht genug sein. Er berichtete weiter, daß Oswald Lucile liebe, diese es erwidere, und daß Lady Edgermond nun gar die Angelegenheit auf das Lebhafteste betreibe; kurz, nichts hindere Lord Nelvil, darein zu willigen, als dies in Italien eingegangene Verlöbniß. »Wie!« rief Corinna, indem sie ihre furchtbare Aufregung zu unterdrücken suchte, »Sie glauben, daß Lord Nelvil sich lediglich durch diese Verpflichtung verhindert fühlt, Miß Lucile Edgermond zu heirathen?« – »Ich bin dessen gewiß«, entgegnete Herr Dickson, entzückt von Neuem befragt zu werden, »erst vor drei Tagen habe ich Lord Nelvil gesprochen, und obgleich er mir die Art jenes unglückseligen Verhältnisses nicht mittheilte, sagte er mir doch ein Wort, das Lady Edgermond zu berichten ich nicht unterlassen habe: Wenn ich frei wäre, würde ich um Lucile werben.« – »Wenn er frei wäre!« wiederholte Corinna, in dem Augenblicke, als ihr Wagen vor der Thür des Gasthauses hielt, wo Herr Dickson abzusteigen wünschte. Er wollte ihr danken, sie fragen, wann und wo er sie wiedersehen könne, doch hörte sie ihn nicht mehr. Sie drückte ihm die Hand, und wendete sich ab, ohne zu antworten, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Es war spät geworden; indessen wollte sie noch gern die Stätte aufsuchen, wo ihres Vaters Asche ruhte; die Verwirrung ihres Geistes machte ihr diese Wallfahrt nun ganz zur heiligen Nothwendigkeit.

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