Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Siebentes Kapitel

Corinna erreichte ihre Wohnung in einem Zustande des Schmerzes, der an Verstandeszerrüttung gränzte, und von nun an war ihre Kraft auf immer gebrochen. Sie beschloß, an Lord Nelvil zu schreiben, ihm ihre Ankunft in England mitzutheilen, und Alles, was sie seitdem gelitten hatte! Wirklich begann sie auch einen Brief voll der bittersten Vorwürfe, aber sie zerriß ihn bald. »Was sollen Vorwürfe in der Liebe?« rief sie; »könnte sie das reinste, großherzigste, innerlichste aller Gefühle sein, wenn sie nicht ein freiwilliges wäre? Was würde ich denn mit meinen Klagen erreichen? Eine andere Stimme, ein anderer Blick beherrschen jetzt sein Herz, ist damit nicht Alles gesagt?« – Sie fing von Neuem an; und dieses Mal wollte sie Lord Nelvil die Einförmigkeit schildern, die er in seiner Verbindung mit Lucile zu erwarten habe; sie versuchte, ihm auseinanderzusetzen, daß ohne eine vollendete Übereinstimmung der Seelen und der Geister kein Glück der Liebe dauern könne; aber auch diesen Brief zerriß sie, noch ungeduldiger selbst, als den ersten. »Wenn er nicht weiß, was ich werth bin«, sagte sie, »darf er's von mir erfahren? Und darf ich so von meiner Schwester sprechen? Ist's auch wahr, daß sie so untergeordnet ist, als ich's mir vorstellen will? Und wäre sie's, ziemte es sich für mich, die ich sie in ihrer Kindheit wie eine Mutter an's Herz gedrückt habe, ziemte es sich für mich, es ihm zu sagen? Ach nein, man darf sein eigen Glück nicht um jeden Preis wollen. Dieses Leben, das uns so viele Wünsche giebt – es geht vorüber; und lange selbst vor dem Tode löst uns ein weiches, träumerisches »In die Ferne schauen« allmählig vom Dasein ab.

Sie griff noch einmal nach der Feder und sprach nur von ihrem Unglück; aber wie sie diesem hier Worte gab, fühlte sie das tiefste Mitleid mit sich selbst; ihre Thränen fielen auf das Papier. »Nein«, sagte sie sich noch weiter, »wenn er diesem Briefe widerstände, könnte ich ihn hassen; und rührte er ihn, so könnte ich doch nicht wissen, ob er mir nicht ein Opfer bringt, ob ihm nicht die Erinnerung an eine Andere bliebe. Besser ist's, ihn zu sehen, zu sprechen, und ihm den Ring, das Pfand seiner Treue, wiederzugeben.« – Auf ein neues Blatt schrieb sie nichts, als ein kurzes: »Sie sind frei!« dann fügte sie den Ring dazu, und diesen letzten Brief in den Brustfalten ihres Kleides bergend, wartete sie die Abendstunde ab, um ihn Oswald selbst zu bringen. Ihr war, als müsse sie im hellen Tageslicht vor der Welt erröthen; wieder aber wünschte sie auch Lord Nelvil anzutreffen, ehe er sich nach seiner Gewohnheit zu Lady Edgermond begab. Um sechs Uhr ging sie aus, zitternd wie eine Verurtheilte. Wie fürchtet man sich vor dem Geliebten, wenn das Vertrauen einmal dahin ist! Ach, der Gegenstand einer leidenschaftlichen Liebe ist in unsern Augen entweder der sicherste Beschützer oder der gefürchtetste Despot.

Corinna ließ vor Lord Nelvils Thür halten und fragte einen öffnenden Bedienten mit unsicherer Stimme, ob der Herr zu Hause sei. »Mylord ist vor einer halben Stunde nach Schottland gereist, Madame«, war die Antwort. Diese Nachricht fiel drückend auf ihr Herz; zwar bangte sie, Oswald zu sehen, aber dennoch war ihre Seele, über die entsetzliche Aufregung hin, ihm schon entgegengeeilt. Sie hatte sich einmal überwunden, hatte sich fähig gehalten, seine Stimme hören, seinen Blick ertragen zu können. Um das wieder zu erlangen, bedurfte es einer neuen Anstrengung, mußte sie wieder mehrere Tage warten, mußte sie zu einem neuen, schweren Schritt ihre erschöpfte Kraft zusammenraffen. Indessen wollte sie ihn nun um jeden Preis antreffen; am folgenden Tage reiste sie nach Edinburg ab.

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