Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Sechstes Kapitel

Corinna hatte die letzten vierzehn Tage in fürchterlicher Unruhe zugebracht. An jedem Morgen schwankte sie, ob sie an Lord Nelvil schreiben solle, und jeder Abend verfloß ihr in dem unsäglichen Schmerz, ihn bei Lucile zu wissen. Was sie heute litt, machte sie für das Morgen nur noch schüchterner. Sie erröthete, dem Manne, der sie vielleicht nicht mehr liebte, ihren unvorsichtigen, für ihn gethanen Schritt mitzutheilen. »Vielleicht«, sagte sie sich oft, »sind alle Erinnerungen an Italien seinem Gedächtnisse entwichen? Vielleicht ist es ihm kein Bedürfniß mehr, in den Frauen einen überlegenen Geist, ein Herz voll Leidenschaft zu finden? Jetzt gefällt ihm die entzückende Schönheit von sechzehn Jahren, der engelhafte Ausdruck dieses Alters, die schüchterne und junge Seele, die dem Gegenstande ihrer Wahl ihre ersten Gefühle weiht!«

So sehr war Corinnens Fantasie von den körperlichen Vorzügen ihrer Schwester eingenommen, daß sie beinahe Scham empfand, mit so vielen Reizen kämpfen zu wollen. Neben dieser entwaffnenden Unschuld schien ihr das Talent ein listiger Kunstgriff, Geist eine Tyrannei, Leidenschaft eine Gewaltsamkeit; und obwohl Corinna noch nicht achtundzwanzig Jahr zählte, ahnte sie schon das Nahen jener Lebensepoche, in der die Frauen mit so vielem Schmerz ihrer Macht zu gefallen mißtrauen. Eifersucht und stolze Schüchternheit rangen mit einander in ihrer Seele, und von Tag zu Tag verschob sie deshalb den ersehnten und gefürchteten Augenblick des Wiedersehens mit Oswald. Da sie erfuhr, daß man über sein Regiment Revue halten werde, beschloß auch sie, nach Hyde-Park zu fahren. Möglicherweise, dachte sie, sei Lucile da, und dann würde sie mit eigenen Augen über Oswalds Gefühle urtheilen können. Anfangs hatte sie den Gedanken, sich ihm plötzlich und schön geschmückt zu zeigen; als sie aber die Toilette begann, ihr schwarzes Haar, den von der Sonne etwas gebräunten Teint und ihre scharf geschnittenen Züge musterte, deren Ausdruck sie bei dieser Selbstkritik doch nicht zu beurtheilen vermochte, sank ihr der Muth. Stets sah sie das ätherische Angesicht der Schwester im Spiegel, und vor all dem versuchten Putz verzagt zurückscheuend, legte sie einfach das schwarze Kleid nach venetianischem Schnitte an, bedeckte Kopf und Taille mit der üblichen Mantilla und warf sich tief in die Ecke eines Wagens.

Sie hatte Hyde-Park kaum erreicht, als sie auch schon Oswald an der Spitze seines Regiments anrücken sah. Die Uniform brachte seine edle Gestalt zu stattlichster Geltung, und mit vollendetem Anstand lenkte er das Pferd. Die stolzen, weichen Klänge der Militairmusik zogen ihm voran; Corinna war's, als forderten sie zu edler Hinopferung des Lebens auf. Man spielte das berühmte »God save the King«, das so tief auf englische Herzen wirkt. Vornehm blickende Herren, schöne und sittsame Frauen zeigten in ihren Mienen, die einen den Ausdruck männlicher Tugend, die andern den edler Bescheidenheit. Die Leute von Oswalds Regiment schienen mit Vertrauen und Ergebenheit zu ihm aufzuschauen. »O würdiges Land, das meine Heimat sein sollte«, mußte Corinna unwillkürlich ausrufen, »warum habe ich dich verlassen? Was kommt es inmitten so vieler Tugenden auf etwas mehr oder weniger persönlichen Ruhm an? Und welcher Ruhm gliche dem, o Nelvil, Deine beglückte Gattin zu sein!«

Die Musik nahm jetzt einen kriegerischen Charakter an, der Corinnens Gedanken auf die Gefahren hinleitete, denen Oswald entgegen ging. Lang hing ihr Blick an ihm, er ahnte nichts davon, und mit thränenvollen Augen sagte sie sich: »Möge er leben, wenn auch nicht für mich! Er ist's, o Gott, nur er, der erhalten werden muß.« – Jetzt traf auch Lady Edgermond ein. Lord Nelvil grüßte sie hochachtungsvoll, indem er die Spitze seines Degens neigte. Die Kalesche der Damen fuhr mehrmals auf und nieder, wahrend aller Augen bewundernd an Lucile hingen. Oswald betrachtete sie mit Blicken, die Corinnens Herz durchbohrten. Die Unglückselige! Sie kannte diese Blicke – sie hatten einst auch auf ihr geruht!

Die Lord Nelvil gehörenden Rosse vor Lucilens Wagen eilten mit eleganter Flüchtigkeit durch die Alleen des Hyde-Park. Corinnens Equipage bewegte sich dagegen nur langsam fort; sie schlich jenen schnellen, feurigen Rennern wie ein Leichenwagen nach. »Ach! es war nicht so«, dachte Corinna, »nein, nicht so, als ich auf das Kapitol zog, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Er hat mich von dem Triumphwagen in diesen Abgrund der Schmerzen gestürzt. Ich liebe ihn! und alle Freuden des Lebens sind entschwunden. Ich liebe ihn! und alle Gaben der Natur sind dahin. O mein Gott, verzeihe ihm, wenn ich nicht mehr bin!« – Oswald ritt an Corinna vorüber; der italienische Schnitt ihrer schwarzen Gewänder mußte ihm sehr auffallen, denn er sprengte um ihren Wagen herum, kam zurück, sie noch einmal zu sehen, und schien sehr gern errathen zu wollen, wer die Dame sei, die sich so in der Tiefe des Sitzes verberge. Das bange Herz Corinnens schlug während dieser Zeit mit gewaltsamer Heftigkeit; Alles, was sie fürchtete, war, ohnmächtig umzusinken und in Folge dessen erkannt zu werden. Doch gelang es ihr, den innern Aufruhr zu bemeistern, und Lord Nelvil mochte seine anfängliche Vermuthung wohl aufgeben. Um seine Aufmerksamkeit nicht noch weiter auf sich zu ziehen, verließ Corinna, als die Revue beendet war, ihren Wagen; sie verschwand zwischen den Bäumen, und in der Volksmenge. Oswald sprengte jetzt der Kalesche von Lady Edgermond nach, und auf ein sehr frommes Pferd weisend, das seine Leute am Zügel führten, bat er um das versprochene Vergnügen, mit Lucile einen Spazierritt unternehmen zu dürfen. Die Lady gestattete es, indem sie ihm die möglichste Sorgfalt empfahl. Er war abgestiegen, und während er unbedeckten Hauptes an der Wagenthür stand, sprach er mit der Lady in höchst achtungsvoller, ritterlicher Haltung, welche Corinna nur zu deutlich jene Ehrfurcht für die Mutter verrieth, die aus der Bewunderung für die Tochter hervorgeht.

Lucile verließ den Wagen. Sie trug ein Reitkleid, das die Schönheit ihres Wuchses auf das Vortheilhafteste abzeichnete; den Kopf bedeckte ein schwarzer, mit weißen Federn gezierter Hut, und ihre reichen, blonden Haare fielen anmuthig um das reizende Gesicht. Oswald reichte die Hand hin, damit sie, um sich in den Sattel zu schwingen, den Fuß darauf setze. Sie erröthete, diesen Dienst, den sie von einem seiner Leute erwartet hatte, von ihm selbst zu empfangen, und zögerte, ihn anzunehmen. Da er aber darauf bestand, setzte Lucile endlich einen sehr zierlichen Fuß in diese Hand, und die Leichtigkeit, mit der sie sich auf das Pferd schwang, erinnerte an die Sylphiden, welche unsere Fantasie uns mit so duftigen Farben malt. Sie sprengte im Galopp davon. Oswald folgte ihr; er verlor sie nicht aus den Augen, und als ihr Pferd einmal fehl trat, untersuchte er augenblicklich Zaum und Kinnkette mit liebenswürdigster Besorgniß. Ein anderes Mal glaubte er, das Thier gehe durch; todtenblaß sprang er herunter, um ihm in die Zügel zu fallen. Lucile fürchtete, nicht rechtzeitig pariren zu können; aber mit fester Hand brachte er das Pferd zum Stehen, und ließ sie dann, sanft auf ihn gestützt, aus dem Sattel gleiten.

Was bedurfte es noch mehr, um Corinna von Oswalds Gefühl für Lucile zu überzeugen? Sah sie nicht alle die Beweise von Interesse, mit denen er früher sie selbst überschüttet hatte? Und mehr noch: glaubte sie nicht, mit nagender Verzweiflung, in seinen Blicken mehr Schüchternheit, mehr zurückgehaltene Verehrung zu lesen, als während der Zeit seiner Liebe für sie aus ihnen gesprochen? Zweimal zog sie den Ring vom Finger, im Begriff durch die Menge zu stürzen, um ihn Oswald vor die Füße zu schleudern, und die Hoffnung im Augenblick zu sterben, spornte sie an zu so verzweifeltem Thun. Aber wo wäre die Frau, selbst eine unter südlichem Himmel geborene, die, ohne zu schaudern, also die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Empfindungen lenken möchte! Bald genug erbebte Corinna bei dem bloßen Gedanken, jetzt vor Lord Nelvil hinzutreten; verzagt und maßlos elend suchte sie ihren Wagen wieder auf. Als sie durch eine verlassene Seiten-Allee fuhr, sah Oswald noch einmal aus der Ferne die schwarze Gestalt, welche ihm vorher schon so aufgefallen war, und jetzt machte sie einen viel stärkeren Eindruck auf ihn. Indessen schrieb er diese Bewegung der vorwurfsvollen Empfindung zu, mit welcher er sich gestand, daß er Corinna heute zum ersten Mal im Grunde seines Herzens untreu gewesen sei; auf dem Wege zum Hotel faßte er den Entschluß, die beabsichtigte Reise nach Schottland sofort anzutreten.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12