Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Siebzehntes Buch
Fünftes Kapitel
Corinna kehrte halb verwirrt in ihre Wohnung zurück; sie wußte nicht, welchen Entschluß sie fassen, wie sie Lord Nelvil mit ihrer Ankunft bekannt machen und was sie ihm sagen solle, um dieselbe zu motiviren. Denn immer mehr schwand ihr Vertrauen in die Treue des Freundes, und es war ihr zuweilen, als wolle sie einen Fremden wiedersehen, einen Fremden, den sie mit Leidenschaft liebte, und der sie nicht mehr wiedererkennen werde. Am Abend des nächsten Tages schickte sie zu Lord Nelvil, und erfuhr, daß er bei Lady Edgermond sei; am folgenden Tage brachte man ihr dieselbe Botschaft mit der Bemerkung, Lady Edgermond sei krank und wolle gleich nach ihrer Genesung wieder auf das Land zurückkehren. Corinna beschloß nun, diesen Augenblick erst abzuwarten, ehe sie Lord Nelvil von ihrer Gegenwart benachrichtige. Inzwischen ging sie allabendlich an dem Hause der Lady vorüber, und sah vor deren Thür stets Oswalds Wagen halten. Ein unaussprechliches Weh beschlich dann ihr armes Herz, aber am nächsten Tage unternahm sie doch denselben Weg, um dieselben Schmerzen zu empfinden. Indessen irrte sich Corinna, wenn sie annahm, Oswalds Besuche bei Lady Edgermond hatten seine Werbung um Lucile zum Zweck.
Während Oswald die Lady an jenem Theaterabend nach ihrem Wagen geleitete, hatte diese ihm mitgetheilt, daß die Hinterlassenschaft des in Indien verstorbenen Verwandten Lord Edgermonds Corinna ebenso viel als Lucile angehe, und ihn gebeten, sich in ihrem Hotel einzufinden, damit sie ihn mit den getroffenen Bestimmungen bekannt machen und er diese dann weiter nach Italien berichten könne. Oswald versprach zu kommen, und da er in diesem Augenblick Lucile zum Abschied die Hand reichte, schien es ihm, als ob die kleine Hand zittere. Corinnens Stillschweigen konnte ihn glauben machen, er sei nicht mehr von ihr geliebt, und die Erregung dieses jungen Mädchens mußte ihm die Vermuthung an eine für ihn aufsteigende Neigung erwecken. Noch dachte er nicht daran, seinem Versprechen mit Corinna untreu zu werden. War ja doch der Ring, den sie von ihm besaß, ein sicheres Pfand, daß er, ohne ihre Einwilligung, nie eine Andere heirathen werde! Um also Corinnens Interesse zu vertreten, begab er sich Tags darauf zu Lady Edgermond, fand aber diese so krank, und Lucile von ihrer Verlassenheit in der großen Stadt, welche derartig war, daß sie nicht einmal wußte, an welchen Arzt sich wenden, so beunruhigt, daß Oswald es als eine Pflicht gegen die Freundin seines Vaters betrachtete, ihr seine ganze Zeit zu widmen.
Lady Edgermond, von Natur herbe und stolz, schien nur für Oswald milder gestimmt zu sein; sie empfing ihn täglich, wiewohl er nichts that und sagte, das eine Absicht auf ihre Tochter verrathen hätte. Lucilens Name wie ihre Schönheit machten sie zu einer der glänzendsten Partien Englands; seit sie im Theater erschienen und man sie in London wußte, war ihre Thüre von Besuchern aus den höchsten Kreisen des Adels umlagert worden. Doch Lady Edgermond wies diese beständig zurück, ging niemals aus und empfing nur Lord Nelvil. Wie hätte er von so feiner Auszeichnung nicht geschmeichelt sein sollen? Die schweigende Großmuth, mit der man sich auf ihn verließ, ohne etwas zu verlangen, ohne sich über etwas zu beklagen, rührte ihn tief; und doch fürchtete er immer, daß man seine Besuche als verpflichtend auffassen möge. Er würde sie eingestellt haben, sobald der Abschluß von Corinnens Angelegenheiten sie unnöthig machte, wenn Lady Edgermond wieder hergestellt gewesen wäre. Aber grade, als man sie auf dem Wege der Besserung hielt, erkrankte sie von Neuem und gefährlicher, als das erste Mal. Wäre sie jetzt gestorben, hätte Lucile, da ihre Mutter mit Niemand Verbindungen angeknüpft hatte, keinen andern Schutz in London gehabt als Oswald.
Nicht ein einziges Wort hatte Lucile sich erlaubt, das Lord Nelvil verrathen konnte, sie gewähre ihm im Stillen irgend welchen Vorzug; doch durfte er solchen aus diesem leichten und plötzlichen Verändern ihrer Farben, aus den sich oft so scheu senkenden Augen, aus manchem ungleichen Aufathmen wohl voraussetzen. Jedenfalls studirte er das Herz des jungen Mädchens mit neugierigem und wohlwollendem Interesse; wenn ihre große Zurückhaltung ihn über die Natur ihrer Gefühle auch stets in Zweifel und Ungewißheit ließ. Der höchste Grad der Leidenschaft und die große Sprache, durch welche sie zum Ausdruck kommt, genügen der Einbildungskraft noch nicht; man wünscht immer noch mehr, und da man es nicht erhalten kann, wird man kalt und müde; während jener schwache Schimmer, den man hinter Wolken bemerkt, unsere Neugierde lange in Spannung erhält, und uns für die Zukunft neue Gefühle, neue Entdeckungen zu verheißen scheint. Jedoch nur scheint: denn die Erwartung wird durchaus nicht erfüllt; und sieht man schließlich ein, was diese reizvolle, aus Schweigen und Unbekanntschaft gewebte Hülle verbirgt, ist auch der geheimnißvolle Zauber zerstoben, und man kommt darauf zurück, die Hingebung und reiche Beweglichkeit eines lebhaften Charakters reuevoll anzuerkennen. Ach! auf welche Weise wäre diese Trunkenheit des Herzens, wäre dies seelische Entzücken zu verlängern, das sich im Vertrauen wie im Zweifel, im Glück wie im Unglück so bald verflüchtigt? Wie sind diese himmlischen Freuden unserm Erdenloose so ganz entfremdet! Sie ziehen manchmal durch das Gemüth, aber nur um uns an unsern Ursprung, an unsere Hoffnungen zu erinnern.
Lucilens Mutter war wieder genesen. In einigen Tagen dachte sie nach dem Landsitze Lord Edgermonds, welcher an den Lord Nelvils grenzte, abzureisen. Sie erwartete, dieser werde ihr vorschlagen, sie dorthin zu begleiten, da er geäußert hatte, daß er Willens sei, vor dem Antritte der Expedition noch einmal nach Schottland zu gehen. Er sagte indeß nichts darauf Hinweisendes; Lucile sah ihn an, und dennoch schwieg er. Sie stand schnell auf, und eilte ans Fenster; kurz darauf fand Lord Nelvil einen Vorwand, ihr dorthin zu folgen: sie hatte die Augen voll Thränen. Er war bewegt davon, und seufzte, und eben jetzt trat ihm die Untreue, deren er Corinna anklagte, so lebhaft vor die Seele, daß er sich fragte, ob dieses junge Mädchen nicht eines beständigeren Gefühls fähiger sei als Jene.
Oswald suchte Lucilens Kummer wieder zu verscheuchen; es ist so süß, auf ein noch kindliches Gesicht wieder Freude und Sonnenschein zurückzubringen! Der Schmerz ist für Physiognomien, auf denen selbst der Gedanke noch keine Spur zurückließ, nicht gemacht. Ueber Lord Nelvils Regiment sollte am folgenden Morgen in Hyde-Park eine Revue abgehalten werden. Er bat nun Lady Edgermond, dort ebenfalls zu Wagen einzutreffen und zu gestatten, daß nach abgenommener Parade Lucile ein Pferd besteige, damit sie zusammen neben ihrer Kalesche reitend noch ein wenig den Park durchstreiften. Lucile hatte einmal geäußert, wie gern sie reite. Sie blickte auf ihre Mutter mit einem Ausdruck, der zwar immer noch ein gehorsamer blieb, in welchem aber doch die Bitte um gütige Einwilligung deutlich genug zu lesen war. Lady Edgermond überlegte einige Augenblicke; dann reichte sie Lord Nelvil ihre schwache, täglich mehr abzehrende Hand und sagte: »Wenn Sie selbst es sehr wünschen, Mylord, so erlaube ich's gern.« Aeußerst betroffen von dem bedeutsamen Ton dieser Worte, stand Oswald im Begriff, auf die Gewährung der eben von ihm selbst gestellten Bitte Verzicht zu leisten. Lucile hatte aber schon mit einer noch nie gezeigten Lebhaftigkeit die Hand der Mutter geküßt, um für die erhaltene Erlaubniß zu danken, und Lord Nelvil fehlte nun der Muth, das unschuldige Geschöpf, dessen Leben so einförmig und traurig verfloß, des kaum gehofften Vergnügens wieder zu berauben.