Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Viertes Kapitel

Die Damen der Familie des Banquiers, welche Corinna mit Beweisen von Freundschaft und Theilnahme überschütteten, forderten diese eines Abends auf, in ihrer Begleitung Madame Siddons als »Isabella« in der »Unglücklichen Ehe« zu sehen, einem der englischen Stücke, in welchem diese Schauspielerin ihr Talent am Bewundernswürdigsten entfaltete. Corinna weigerte sich lange, bis die Erinnerung daran, daß Lord Nelvil ihre Declamation oft mit der von Madame Siddons verglichen hatte, einige Neugierde, diese zu hören, in ihr anregte. Verschleiert begab sie sich in eine kleine Loge, wo sie Alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Sie wußte zwar nicht, daß Lord Nelvil am vorhergehenden Tage in London eingetroffen war, doch fürchtete sie auch schon, nur von irgend einem Engländer, der sie vielleicht in Italien gesehen hatte, bemerkt zu werden. Die edle Erscheinung und tiefe Auffassung der Schauspielerin fesselten Corinnens Aufmerksamkeit dergestalt, daß sie während der ersten Aufzüge die Augen nicht von der Bühne wendete. Wenn ein schönes Talent die Kraft und Originalität der englischen Declamation zur Geltung bringt, ist diese mehr als jede andere geeignet, den Hörer zu ergreifen. Sie hat nicht so viel Gekünsteltes, nicht so viel Verabredetes und so zu sagen Uebereingekommenes als die französische; ihre Wirkung ist unmittelbarer, die wahre Verzweiflung würde sich ausdrücken wie sie; und da die Natur der Stücke, wie die Art der Versifikation hier die dramatische Kunst in geringerer Entfernung vom realen Leben halten, bringt diese eine um so ergreifendere Wirkung hervor. Um in Frankreich ein großer Schauspieler zu sein, bedarf es um so viel mehr des Genie's, als die allgemeinen Regeln so breit in den Vordergrund treten, daß wenig Freiheit für individuelle Ausführung bleibt. In England aber darf man Alles wagen, falls es natürliche Eingebung ist. Dieses lange Seufzen z.B., das lächerlich wäre, wenn man es erzählte, durchschauert das Herz, wenn man es hört. Madame Siddons, in ihren Formen die edelste aller Schauspielerinnen, verliert nichts von ihrer Würde, wenn sie zur Erde stürzt. Es liegt hierin auch gar nichts, das nicht bewundernswürdig sein könnte, wenn wahre Erschütterung dazu hinreißt, eine Erschütterung, die, von der innersten Seele ausgehend, den, welcher sie empfindet, noch mehr beherrscht als den, welcher davon Zeuge ist. Es giebt bei den verschiedenen Nationen auch eine verschiedene Art, die Tragödie zu spielen; doch der Ausdruck des Schmerzes wird von einem Ende der Welt bis zum andern verstanden, und vom Bettler bis zum Könige gleichen sich die wahrhaft unglücklichen Menschen.

Im letzten Zwischenact fiel es Corinna auf, daß alle Blicke sich nach einer Loge richteten, in welcher auch sie nun Lady Edgermond und ihre Tochter bemerkte. Denn sie zweifelte nicht daran, daß diese blonde Schönheit Lucile sei. Der Tod eines sehr reichen Verwandten Lord Edgermonds hatte die Lady genöthigt, wegen des Ordnens ihrer Erbschaftsangelegenheiten nach London zu kommen. Lucile, die sich für das Theater mehr als gewöhnlich geschmückt hatte, erregte sichtlich die allgemeinste Bewunderung, und seit lange war in England, wo doch schöne Frauen häufig sind, eine so außerordentliche Erscheinung nicht gesehen worden. Corinna war von ihrem Anblick schmerzlich überrascht. Es schien ihr unmöglich, daß Oswald dem Zauber eines solchen Gesichts widerstehen könne. Sie verglich sich in Gedanken mit der Schwester und fand sich sehr untergeordnet. Wenn hier zu übertreiben möglich war, übertrieb sie sich dergestalt den Reiz dieser Jugend, dieser schneeigen Weiße, dieses blonden Haares, dieses unschuldigen Bildes vom Frühling des Lebens, daß sie sich fast gedemüthigt fühlte, mit Talent, mit Geist, kurz, mit erworbenen oder doch vervollkommneten Gaben gegen solche verschwenderische Huld der Natur zu streiten.

Plötzlich bemerkte sie in der gegenüberliegenden Loge Lord Nelvil, dessen Blicke auf Lucile geheftet waren. Welch ein Augenblick für Corinna! Zum ersten Mal sah sie die theuren Züge wieder, an die sie soviel gedacht! Dieses Antlitz, das sie so viel in der Erinnerung gesucht, wiewohl es nie derselben entflohen, sie sah es nun wieder: als Oswald eben ganz von Lucile hingenommen schien! Er konnte Corinnens Gegenwart nicht ahnen; aber wenn sein Auge sich jetzt zufälligerweise auf Corinna gerichtet hätte, würde die Unglückselige sich das günstig und tröstend gedeutet haben. Endlich erschien Madame Siddons wieder, und Lord Nelvil wendete sich der Bühne zu.

Corinna athmete auf; sie schmeichelte sich, daß eben nur die Neugierde Oswalds Aufmerksamkeit auf Lucile gezogen habe. Das Stück wurde mit jedem Augenblick ergreifender, und Lucile schwamm in Thränen; um diese zu verbergen, zog sie sich in den Hintergrund der Loge zurück. Nun blickte Oswald von Neuem, und mit noch größerem Interesse als das erste Mal zu ihr hinüber. Endlich kam die furchtbare Scene, wo Isabella, welche den Händen der Frauen entronnen, die sie hindern wollen, sich zu tödten, über die Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen lachend, sich den Dolch ins Herz stößt. Dieses Lachen der Verzweiflung ist der schwierigste Effekt, den die dramatische Kunst hervorbringen kann; er erschüttert viel mehr als Thränen; mehr als sie ist dieser bittre Spott des Unglücks sein herzzerreißendster Ausdruck. Wie gräßlich ist das Leid der Seele, wenn es in solche schauerliche Freude umschlägt; wenn es bei dem Anblick seines eigenen Blutes die wilde Befriedigung eines furchtbaren Feindes empfindet, der sich gerächt hat!

Lucile war jetzt offenbar so ergriffen, daß die Mutter es beunruhigend fand, denn sie wendete sich wiederholt nach dem Innern der Loge zurück. Oswald erhob sich voller Hast, als wolle er zu den Damen hinüber, doch setzte er sich wieder. Corinna empfand etwas wie Genügen an dieser zweiten Bewegung, aber sie seufzte. »Meine Schwester, das mir einst so theure Kind, ist jung und empfänglichen Herzens«, sagte sie sich, »darf ich ihr ein Glück rauben wollen, dessen sie sich ohne Hinderniß, ohne ein Opfer von Seiten des Geliebten, erfreuen kann?« – Der Vorhang fiel. Corinna, in der Besorgniß, erkannt zu werden, wollte das ganze Publikum sich erst entfernen lassen, ehe sie selbst hinausginge. Wartend stand sie hinter der geöffneten Thür ihrer Loge, von wo aus sie den Corridor übersehen konnte. Als Lucile auf denselben heraustrat, wurde sie von allen Seiten mit Ausrufungen über ihre Schönheit empfangen, die nur wenig von der nothwendigsten Rücksicht gedämpft waren. Das junge Mädchen gerieth dadurch in große Verwirrung; zumal Lady Edgermond in ihrer Gebrechlichkeit, ohngeachtet der Sorgfalt ihrer Tochter und der ihnen von den Umstehenden bewiesenen Hochachtung, ohnehin große Mühe hatte durch das Gedränge zu kommen. Sie kannten Niemand, und deshalb wagte keiner der Herren sie anzureden; bis Lord Nelvil nun die Verlegenheit der Damen sah, und ihnen entgegeneilte. Er bot Lady Edgermond den einen Arm; den andern reichte er Lucile, die ihn schüchtern und erröthend annahm. So schritten sie an Corinna vorüber. Oswald dachte nicht, daß seine arme Freundin Zeugin eines für sie so schmerzlichen Anblicks sei; nicht ohne einigen Stolz führte er die schönste Frau Englands durch diese Reihen zahlloser Bewunderer.

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