Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Zweites Kapitel

Als Oswald den von Herrn Dickson ihm übergebenen Brief seines Vaters gelesen hatte, war er mehr als jemals der unglücklichste, der unentschlossenste aller Menschen. Corinna das Herz zerreißen oder das Gedächtniß an den Vater verrathen: dies war eine furchtbare Alternative. Um ihr zu entgehen, wäre er tausendmal lieber gestorben. Er that schließlich noch einmal, was er schon so oft gethan: er verschob den Augenblick der Entscheidung und nahm sich vor, nach Italien zu reisen, um Corinna selbst über seine Qualen und den Entschluß, den er zu fassen habe, richten zu lassen. Seine Pflicht, meinte er, gebiete ihm, Corinna nicht zur Gattin zu nehmen, indeß verlangte ja kein väterliches Gebot, daß er Lucile heirathe. In welcher Form konnte er dann aber sein Leben mit dem der Freundin vereinigen? Mußte er ihr die Heimat opfern, oder sollte er sie, ohne Rücksicht auf ihren Ruf und ihr ferneres Schicksal, mit nach England nehmen? In dieser rathlosen Bestürzung würde er nach Venedig gereist sein, wenn man von Monat zu Monat nicht die Einschiffung seines Regiments erwartet hätte; er würde gereist sein, um Corinna mündlich mitzutheilen, was zu schreiben er sich nicht entschließen konnte.

Dadurch ward nothwendigerweise der Ton seiner Briefe verändert. Er wollte ihr nicht gestehen, was in seinem Innern vorging, und doch vermochte er nicht mehr, sich mit derselben Hingebung auszudrücken. Auch mit den Hindernissen, welche sich ihrer Wiederanerkennung in England entgegenstellten, wollte er Corinna nicht bekannt machen, denn er hoffte noch, sie überwinden zu können, und mochte die Freundin nicht unnöthig gegen ihre Stiefmutter aufbringen. So kürzten verschiedene, absichtliche Verschweigungen seine Briefe ab; er füllte sie mit ferner liegenden Dingen aus, sprach von seinen Zukunftsplänen gar nicht, und eine Andere, als die glaubensvolle Corinna, hätte durchfühlen müssen, was sich in seinem Herzen vollzog. Allein ein leidenschaftliches Gefühl macht zugleich scharfsichtiger und leichtgläubiger; es ist, als könne man in solchem Zustande Alles nur in übernatürlichem Lichte sehn: man entdeckt, was verborgen ist, und täuscht sich über das offen zu Tage Liegende. Man ist von der Vorstellung empört, daß man so Furchtbares leiden soll, während eben keine außerordentliche, in den Verhältnissen begründete Ursache dazu vorhanden scheint, und daß so viel Verzweiflung durch so einfache Umstände hervorgebracht werden könne.

Oswald war äußerst bekümmert, sowohl wegen seines persönlichen Unglücks als wegen des Grams, den er der Geliebten bereiten mußte, und seine Briefe drückten viel Gereiztheit aus, ohne deren Grund anzugeben. Mit wunderlicher Laune machte er Corinna seinen eigenen Schmerz zum Vorwurf, als ob sie nicht tausendmal mehr zu beklagen gewesen wäre als er! Damit zerrüttete er aber vollends ihr Gemüth. Sie hatte sich nicht in der Gewalt, ihr Geist verwirrte sich. Nachts umdrängten sie die entsetzlichsten Bilder, am Tage entwichen diese kaum, und die Unglückselige konnte nicht glauben, daß dieser Oswald, der ihr jetzt so harte, so aufgeregte, so bittre Briefe schrieb, derselbe Mann sei, den sie großmüthig und liebevoll gekannt hatte: daraus entstand das unbesiegliche Verlangen, ihn noch einmal wiederzusehen, noch einmal zu sprechen. »Ich muß ihn sprechen!« rief sie; »er soll mir sagen, daß er, er selbst es ist, der jetzt mitleidslos das Herz der Frau zerreißt, um deren geringstes Leid er früher so große Sorge trug! Er selbst muß mir dies erst sagen, dann will ich mich dem Geschick unterwerfen. Nur eine böse Macht kann ihn zu solcher Sprache treiben. Es ist nicht Oswald, nein! es ist nicht Oswald, der mir schreibt. Man hat mich bei ihm verläumdet; wo so viel Unglück ist, muß irgend ein Verrath zu Grunde liegen.«

Eines Tages faßte Corinna den Entschluß nach Schottland zu reisen, wenn ein Einfall des stürmenden Schmerzes, der um jeden Preis nach einer Veränderung der Lage drängt, ein Entschluß zu nennen ist. Sie wagte ihn Niemand mitzutheilen und konnte sich nicht einmal überwinden, Theresina davon zu sagen; denn sie hoffte immer noch, sie werde es ihrer eigenen Vernunft abgewinnen, zu bleiben. Es war einige Erleichterung: diese Aussicht auf eine Reise, dieser, von dem des vorhergehenden Tages verschiedene Gedanke, dieses bischen Zukunft an Stelle des ewigen, verzweifelnden Zurückblickens! Sie war zu jeder Beschäftigung unfähig: Lesen konnte sie unmöglich, die Musik bereitete ihr nur schmerzhafte Nervenerschütterungen, und der, zur Träumerei auffordernde Anblick der Natur verdoppelte nun gar ihr entsetzliches Weh. Diese Frau, mit dem sonst so reichen Leben, brachte ganze Tage lang in völliger Unbeweglichkeit, oder doch mindestens ohne jede äußere Bewegung zu. Die Qualen ihrer Seele verriethen sich nur noch durch ihre tödtliche Blässe. Sie sah fortwährend nach der Uhr, hoffte, daß eine Stunde verflossen sei, und wußte doch nicht, weshalb sie es hoffte, da die fortschreitende Zeit ihr weiter nichts Neues brachte, als eine schlaflose Nacht, auf die ein noch schmerzerfüllterer Tag folgte.

Eines Abends, als sie sich zur Abreise schon ganz entschlossen glaubte, ließ eine Frau um die Erlaubniß bitten, sie sprechen zu dürfen. Corinna erklärte sich bereit, weil man ihr zugleich gemeldet, die Frau scheine in dringender Angelegenheit zu kommen. Sie trat ein: eine völlig mißgestaltete Person, mit Zügen, die von Krankheit entstellt waren. Schwarz gekleidet und in einen Schleier gehüllt, suchte sie ihren Anblick so viel als möglich für Andere zu mildern. Diese von der Natur so mißhandelte Frau unterzog sich des Einsammelns von Almosen. Sie bat in würdiger Form und mit rührender Sicherheit um Hülfe für die Armen. Corinna gab ihr eine große Summe, indem sie sich versprechen ließ, man solle für sie beten. Die arme Frau, die sich längst in ihr Schicksal gefunden hatte, sah mit Erstaunen dieses stolze, schöne Weib in Kraft und Lebensfülle, das reich, jung, bewundert, dennoch unter der Last des Unglücks zusammenzubrechen schien. »Mein Gott, Madame«, sagte sie, »ich wünschte, Sie wären so ruhig als ich.« Welch ein Wort, das hier eine Unglückliche der gefeiertsten Frau Italiens sagen durfte, der glänzendsten! nur daß sie mit der Verzweiflung rang.

Ach! die Kraft zu lieben ist zu groß in leidenschaftlichen Seelen – zu groß! Wie glücklich sind Diejenigen, die Gott allein jene hohe Liebe weihen können, deren die Bewohner der Erde nicht würdig sind! Aber für Corinna war diese Zeit noch nicht gekommen: sie bedurfte noch der Illusionen, sie verlangte noch nach Glück. Zwar betete sie, aber sie hatte noch nicht entsagt. Ihre seltene Begabung, wie der Ruhm, den sie erworben, erregten ihr noch zu viel Interesse an sich selbst. Nur indem man sich von Allem auf der Welt losreißt, vermag man auch auf das, was man liebt, zu verzichten. Die andern Opfer alle gehen diesem voran, und das Leben kann längst zur Einöde geworden sein, ohne daß das Feuer erlosch, welches es verzehrte.

Endlich erhielt Corinna inmitten der Zweifel und Kämpfe, die sie unaufhörlich ihren Plan zurückweisen und wieder aufnehmen ließen, von Oswald einen Brief, der ihr ankündigte, daß sein Regiment sich in sechs Wochen einschiffen werde, er indeß diese Zeit zu einer Reise nach Venedig nicht benützen könne, da ein Oberst, der sich in solchem Moment von seiner Truppe entferne, seine Ehre auf ein bedenkliches Spiel setze. Es blieb Corinna nur eben die Zeit, England zu erreichen, ehe Lord Nelvil es vielleicht für immer verlassen hatte. Diese Besorgniß entschied endlich über ihre Abreise. Man darf Corinna nur beklagen, denn sie verhehlte sich die Unüberlegtheit dieses Schrittes durchaus nicht; sie beurtheilte sich selbst strenger als Andere; und welche Frau hätte wohl das Recht, den ersten Stein auf die Unglückliche zu werfen, die ihren Irrthum nicht einmal zu rechtfertigen sucht, die kein Glück daraus für sich erhofft, und nur von einer Verzweiflung zur andern flüchtet, als ob schreckliche Fantome sie von allen Seiten verfolgten.

Hier die letzten Zeilen ihres Briefes an den Fürsten Castel-Forte: »Leben Sie wohl, mein treuer Beschützer; lebt wohl, Ihr meine römischen Freunde, lebt wohl, Ihr Alle, mit denen ich so schöne, sorglose Tage verlebte! Es ist geschehen; das Verhängniß hat mich getroffen; ich fühle seine tödtliche Wunde, ich sträube mich noch, aber ich werde erliegen. Ich muß – ich muß ihn wiedersehen! Glaubt mir, ich bin für mich selbst nicht verantwortlich; in meiner Brust toben Stürme, denen der Wille nicht zu gebieten vermag. Aber schon nahe ich mich dem Ziele, wo Alles für mich zu Ende ist: es trägt sich jetzt der letzte Act meines Lebens zu; nachher kommt die Buße und der Tod. O wunderbare Verworrenheit des menschlichen Herzens: selbst in diesem Augenblicke des leidenschaftlichsten Thuns sehe ich doch in der Ferne schon die immer länger werdenden Schatten meines sich neigenden Lebens, glaube ich schon eine göttliche Stimme zu hören, die mir zuruft: »Unglückselige! Nur noch diese Tage des Kampfes und der Liebe, dann erwarte ich Dich zu ewiger Ruhe.« – O mein Gott! Gewähre mir Oswalds Gegenwart noch einmal, noch ein letztes Mal! Sein Bild hat sich mir in der Verzweiflung verdunkelt. Lag denn nicht etwas Göttliches in seinem Blick? War es nicht bei seinem Kommen, als bringe seine Gegenwart eine reinere heiligere Stimmung? Mein Freund, Sie haben ihn gesehen, wie er an meiner Seite war, wie er mich mit seiner Sorgfalt umgab, wie er mich durch die Verehrung beschützte, die er für seine Wahl an den Tag zu legen verstand. Ach! Wie kann ich ohne ihn leben? Verzeihen Sie meine Undankbarkeit! Muß ich so Ihnen für die beständige und edle Neigung lohnen, die Sie mir stets bewiesen haben? Doch ich bin alles dessen nicht mehr würdig, und ich könnte für verrückt gelten, wenn ich nicht die traurige Fähigkeit besäße, meinen Wahnsinn selbst zu beobachten. So leben Sie denn wohl – leben Sie wohl!«

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12