Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebtzehntes Buch: Corinna in Schottland.

Erstes Kapitel

Corinna hatte inzwischen ein Landhaus bezogen, das nahe bei Venedig, an den Ufern der Brenta lag. Sie wollte an dem Orte bleiben, wo sie Oswald zum letzten Male gesehen, und überdies hoffte sie, die Briefe aus England hier schneller zu erhalten. Fürst Castel-Forte hatte ihr geschrieben und sich erboten, nach Venedig zu kommen. Sie fürchtete indeß, er möchte versuchen, ihr Oswald zu entfremden, er möchte ihr sagen, was sich von selber sagt: daß die Abwesenheit die Liebe nothwendig erkälten müsse, – kurz, sie scheute sich vor jenen oft gutgemeinten, aber unüberlegten Ermahnungen, die für ein leidendes Gemüth Dolchstiche sind; deshalb zog sie vor, Niemand zu sehen. Aber mit einer glühenden Seele in unglücklicher Lage allein zu leben, ist kein leichtes Ding! Die Beschäftigungen der Einsamkeit erfordern alle einen gesammelten Geist, und wenn man innerlich sehr beunruhigt ist, sind aufgezwungene Zerstreuungen, wie ungelegen sie auch kommen mögen, immer noch besser, als das ununterbrochene Andauern desselben Eindrucks.

Es läßt sich begreifen, wie man zum Wahnsinn gelangt, wenn ein einziger Gedanke sich des Geistes bemächtigt und damit verhindert, daß die Ideen durch eine Folge wechselnder Gegenstände verändert werden. Corinna, mit ihrer feurigen Einbildungskraft, zehrte sich selbst auf, wenn ihren Fähigkeiten von Außen keine Nahrung zuströmte. Welch ein Leben folgte für sie nun auf die goldenen Tage, die sich zu einem vollen, glücklichen Jahr aufgesummt hatten! Oswald war fast von früh bis spät an ihrer Seite gewesen, hatte an allen ihren Beschäftigungen Theil genommen, hatte jedes ihrer Worte mit warmem Verständniß gehört, und ihrem Geiste noch neue Anregung gegeben. Was es Verwandtes, was es Abweichendes zwischen ihnen gab, belebte gleichermaßen ihre Gespräche, und Corinna vermißte überall diesen milden, liebevollen, stets nur mit ihr beschäftigten Blick, der lebenspendend für sie war. Wenn die geringste Unruhe sie bewegte, nahm Oswald ihre Hand, drückte sie an sein Herz und Friede, nein, mehr noch als Friede, eine unbestimmte, köstliche Hoffnung erhellte dann wieder ihr bangendes Gemüth. Und jetzt! Nichts als Oede in der Außenwelt; nichts als düstre Trauer im Herzen. Es gab in ihrem Leben keine andere Abwechselung mehr, als Oswalds Briefe. Die Unregelmäßigkeit der Post während des Winters verursachte ihr täglich die Qualen der Erwartung, und wie oft wurde diese getäuscht! An dem Ufer des Kanals mit seinen, von den breiten Blättern der Wasserlilien sanft gedrückten Wellen ging sie an jedem Morgen spazieren, um die Ankunft der schwarzen Gondel zu erspähen, welche die Briefe von Venedig brachte; sie hatte es schon gelernt, das kleine Fahrzeug in weiter Entfernung zu erkennen, und wie heftig schlug ihr Herz, wenn sie seiner ansichtig ward. Der Briefbote stieg aus; zuweilen sagte er wohl: »Madame, es sind keine Briefe für Sie da«, und besorgte dann gelassen seinen Dienst weiter, als ob nichts auf der Welt so einfach sei, als keine Briefe zu erhalten. Ein anderes Mal hieß es auch wieder: »Ja, Madame, heute haben Sie Briefe.« In zitternder Spannung durcheilte sie dann die Aufschriften, und fand sie eine von Oswalds Hand, so war der Rest des Tages voll gedrückter Betrübniß, die Nacht verging ohne Schlaf und der folgende Morgen brachte ihr die neue, die gleiche Qual.

Sie litt so sehr – sie klagte endlich Lord Nelvil dafür an; es schien ihr, er könne ihr öfter schreiben, sie machte ihm deshalb Vorwürfe. Er rechtfertigte sich und seine Briefe wurden weniger zärtlich: denn statt von seinen eigenen Besorgnissen zu reden, bemühte er sich, die der Freundin zu zerstreuen.

Diese Abstufungen entgingen der armen Corinna nicht. Tag und Nacht konnte sie über eine Phrase, ein Wort aus Oswalds Briefen grübeln; sie las dieselben wieder und wieder, um noch eine Antwort auf ihre Befürchtungen, noch irgend eine neue, günstigere Auslegung zu finden, die ihr auf ein paar Tage Ruhe und Trost verschaffen konnte.

Dieser Zustand zerstörte ihre Nerven und schwächte ihren Geist. Sie wurde abergläubisch und gab sich dem Einfluß nie endender Vorbedeutungen hin, wie solche schließlich aus jedem Ereignisse gezogen werden können, wenn stets dieselbe Furcht das Gemüth bewegt. Ein Mal in der Woche fuhr sie nach Venedig, um an diesem Tage ihre Briefe einige Stunden früher zu erhalten. So suchte sie Abwechselung in die Qual ihres Wartens zu bringen. Bald empfand sie vor den Gegenständen allen, denen sie beim Gehen und Kommen vorüberglitt, eine Art Abscheu: sie erschienen ihr wie die Geister ihrer Gedanken, und brachten ihr diese unter grausigen Verzerrungen immer wieder vor die Seele. Als sie eines Tages die St. Marcuskirche betrat, erinnerte sie sich, wie ihr bei ihrer Ankunft in Venedig die Möglichkeit eingefallen war, Lord Nelvil könne sie an diese heilige Stätte führen, um sie dort im Angesichte des Himmels zur Gattin zu nehmen. Nun gab sie sich dieser Vorstellung völlig hin: Sie sah ihn unter dem Porticus eintreten, sich dem Altare nähern, hörte ihn vor Gott das Gelübde ablegen, Corinna immer zu lieben. Sie sah sich vor Oswald auf die Kniee sinken und von ihm den bräutlichen Kranz empfangen. Die Tonfluthen der Orgel, der feierliche Glanz der Kerzen unterstützten ihre Vision, und für einen Augenblick fühlte sie nicht mehr das furchtbar Nüchterne der Abwesenheit, sondern jene Rührung, die unsere ganze Seele überströmt, in der wir die Stimme des Geliebten zu hören glauben. Jetzt drang ein dumpfes Murmeln an Corinnens Ohr; sie wendete sich um und erblickte einen Sarg, den man eben in die Kirche trug. Es wurde Nacht vor ihren Augen, sie schwankte, und von dieser Stunde an war sie überzeugt, daß ihre Liebe zu Oswald die Ursache ihres Todes sein werde.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12