Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Sechzehntes Buch: Trennung und Abwesenheit.

Siebentes Kapitel

Oswald begab sich nun nach Schottland. Die Erregung, in welche ihn Lucile versetzt, das Gefühl, das er Corinna noch bewahrte, sie wurden jetzt von der Erschütterung verdrängt, mit der er die Heimat wiedersah. Er machte sich die Zerstreuungen des verflossenen Jahres zum Vorwurf; es war ihm, als sei er nicht mehr würdig, das Vaterhaus zu betreten, als hätte er es nie verlassen dürfen. Ach, wie sollte man nach dem Verlust dessen, was man am meisten geliebt, mit sich selbst zufrieden sein, wenn man nicht in tiefster Zurückgezogenheit geblieben ist? Es genügt, in der Gesellschaft zu leben, um immer auf irgend eine Weise den Cultus Derer, die nicht mehr sind, zu vernachlässigen. Umsonst wohnt ihr Gedächtniß im tiefen Herzensgrund: man läßt sich miterfassen von der Thätigkeit der Lebenden, welche den Gedanken an den Tod als schmerzlich, oder überflüssig oder sogar ermüdend zurückweist. Kurz, wenn nicht Einsamkeit den Kummer und die trauernde Sehnsucht verlängert, bemächtigt sich das Leben, wie es nun einmal ist, von Neuem auch des besten Herzens, und erfüllt es wieder mit Interessen, Wünschen, Leidenschaften. Diese Notwendigkeit, sich zu zerstreuen, ist eine erbärmliche Bedingung der menschlichen Natur, und obwohl die Vorsehung den Menschen so gewollt hat, damit er den eigenen Tod, wie den der Andern, zu ertragen vermöge, fühlt man sich doch oft inmitten des Vergnügens von dem Vorwurf ergriffen: daß man desselben fähig ist. Es ist, als ob eine rührende und entsagende Stimme uns zuflüstere: »Ich liebte Dich, und Du kannst mich vergessen?«

Mit solchen Gefühlen betrat Oswald sein Vaterhaus; nicht so in Verzweiflung, als bei seiner früheren Heimkehr, war er doch voll tiefster Traurigkeit. Er sah, wie die Zeit einen Jeden an den Verlust dessen gewöhnt hatte, den er beweinte. Die Dienerschaft glaubte ihm nicht mehr davon sprechen zu dürfen, und Alles hatte längst seine gewohnten Beschäftigungen wieder aufgenommen. Die Reihen schlossen sich, und das Geschlecht der Kinder wuchs heran, um das der Väter zu ersetzen. Oswald zog sich in die Gemächer seines Vaters zurück, in denen er Alles an seinem alten Platze fand. Aber wo war die Stimme, welche der seinen antwortete; wo das Vaterherz, das höher schlug, wenn es den Sohn erblickte? Lord Nelvil blieb lange in tiefem Nachsinnen. »O Schicksal!« rief er, mit von Thränen überströmtem Angesicht, »was willst du von uns? Ist all das Leben nur, auf daß es zu Grunde gehe? Erstehen so viele Gedanken, damit sie verflüchtigen? Nein, nein! er hört mich, mein einziger Freund, er ist mir gegenwärtig, er sieht meine Thränen, und unsere unsterblichen Geister erwarten einander. O mein Vater! O mein Gott! leitet mich durch das Leben. Jene ehernen Seelen, mit den unbeweglichen Eigenschaften der gröberen Natur, sie kennen keine Unentschiedenheit, keine Reue; aber die mit Einbildungskraft, mit Gefühl und Gewissenhaftigkeit begabten Wesen vermögen kaum einen Schritt zu thun, ohne fürchten zu müssen, daß sie irren. Sie suchen die Pflicht als Führer, und selbst die Pflicht wird ihrem Urtheil unklar, wenn die Gottheit sie ihnen nicht offenbart.«

Abends ging Oswald in der Lieblingsallee seines Vaters auf und nieder; überall glaubte er dessen theures Bild zu sehen. Ach! Wer hat während heißen Gebets nicht zuweilen gehofft, daß er kraft seiner Liebe ein Wunder bewirken könne! Eitle Hoffnung! Vor dem Grabe stehen wir als Unwissende. Ungewißheit der Ungewißheiten! den Alltäglichen beunruhigest du nicht. Doch je mehr das Denken sich veredelt, je mehr wird es unwiderstehlich hingezogen zu den Abgründen der Betrachtung. Oswald, ganz in diese Grübeleien versunken, bemerkte nicht, daß jetzt ein Wagen in der Auffahrt hielt; ein Greis stieg aus und kam langsam auf Oswald zu. Es war Herr Dickson, der alte Freund seines Vaters, und er empfing diesen jetzt mit einer Innigkeit, wie er sie früher nie für ihn gefühlt hatte.

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