Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.
Neuntes Kapitel
»Sie dürfen sich nicht lediglich an die peinlichen Eindrücke halten, welche diese verborgene Gewalt auf Sie hervorbringt«, sagte Corinna zu Lord Nelvil, »Sie müssen auch die großen Eigenschaften dieses Senats ins Auge fassen, der aus Venedig eine Republik für den Adel machte und denselben früher zu jener Energie, zu jener hochstrebenden Großheit anspornte, die selbst dann noch eine Frucht der Freiheit ist, wenn sie sich auf eine kleine Zahl beschränkt. Sie werden sehen, daß sie, streng gegeneinander, wenigstens unter sich die Tugenden und die Gerechtigkeit einsetzten, die Allen hätten eigen sein sollen. Sie werden sie so väterlich für ihre Untergebenen finden, als man es sein kann, wenn man diese Menschenklasse einzig und allein des physischen Wohlergehens bedürftig hält. Endlich werden Sie ihnen auch den edlen Stolz auf ihr Vaterland zuerkennen müssen, ein Vaterland, das ihr besonderes Eigenthum ist, und welchem sie dennoch die Liebe des Volkes, das in so vieler Hinsicht davon ausgeschlossen ist, zuzuwenden wissen.«
Sie besichtigten zusammen den Saal, in welchem früher der große Rath der Zweihundert sich versammelte; er ist mit den Bildnissen sämmtlicher Dogen geschmückt; an der Stelle des Portraits desjenigen, der als Verräther an seinem Vaterlande enthauptet wurde, hat man einen schwarzen Vorhang gemalt, auf welchem sein Todestag und die Art seiner Hinrichtung angegeben ist. Die königlichen Prachtgewänder, in welchen die andern Dogen dargestellt sind, verstärken noch den Eindruck dieses furchtbaren, schwarzen Vorhangs. Weiter befindet sich in diesem Saale ein Gemälde des jüngsten Gerichts, und eines von dem Augenblicke, wo der mächtigste der Kaiser, Friedrich Barbarossa, sich vor dem Senate Venedigs demüthigt. Es liegt ein schöner Sinn darin, daß man hier Alles vereinigte, was die Größe einer Regierung verherrlichend ausdrücken kann, um darauf eben diese Größe vor dem Himmel zu beugen.
Später gingen Corinna und Nelvil nach dem Arsenal. Vor der Thür desselben befinden sich zwei in Griechenland gemeißelte Löwen, die aus dem Hafen Athens hiehergeschafft wurden, um die Hüter der venetianischen Macht zu sein – regungslose Hüter, die nur das vertheidigen, was schon durch die Achtung, die man ihm zollt, stark ist. Das Arsenal enthält die Siegestrophäen ihrer Seemacht. Die berühmte Ceremonie der Vermählung des Dogen mit der Adria, wie auch alle übrigen Institutionen der Venetianer bezeugen ihre Dankbarkeit gegen das Meer. Sie haben hierin einige Aehnlichkeit mit den Engländern; Lord Nelvil machte diese Wahrnehmung mit lebhaftem Antheil.
Corinna führte ihn auch auf die Spitze des nahe der Kirche gelegenen Thurms von St. Marcus. Von dort aus breitet sich vor dem bewundernden Blick die ganze, in den Wellen ruhende Stadt aus, dazu der ungeheure Damm, welcher sie vor dem Meere schützt; in der Ferne die Küsten Istriens und Dalmatiens. »Dort, wo jene Wolken lagern, ist Griechenland«, sagte Corinna, »genügt nicht schon der Gedanke, uns zu erschüttern? Da giebt es auch noch Menschen mit hoher Fantasie, mit enthusiastischem Charakter, durch ihr Geschick zwar erniedrigt, aber vielleicht, wie wir, bestimmt, sich noch einmal aus der Asche ihrer Väter zu erheben. Es ist schon immer etwas um ein Land, das einmal groß gewesen; seine Bewohner erröthen wenigstens wegen ihres gegenwärtigen Zustandes, während in den von der Geschichte niemals geweihten Gegenden der Mensch nicht einmal eine Ahnung hat, daß es eine höhere Bestimmung giebt als die dunkle Knechtschaft, die ihm von seinen Voreltern überkommen ist.
»Dalmatien dort«, fuhr Corinna fort, »das ehemals von einem so kriegerischen Volke bewohnt wurde, hat noch heute seine wilde Eigentümlichkeit beibehalten. Die Dalmatier wissen so wenig von dem seit fünfzehn Jahrhunderten Geschehenen, daß sie die Römer noch jetzt »die Allmächtigen« nennen. Allerdings verrathen sie auch einige Kenntniß der Neuzeit, wenn sie Euch Engländer als die »Krieger des Meeres« bezeichnen; doch das ist nur, weil Eure Schiffe oft in ihre Häfen eingelaufen sind; sonst wissen sie wenig von der übrigen Welt. – Ich würde«, sagte Corinna nach einem Weilchen, »am liebsten solche Länder sehen, die sich in den Sitten, Trachten und der Sprache noch einige Originalität bewahrt haben. Die civilisirte Welt ist sehr einförmig, und um sie zu kennen, habe ich schon genug gelebt; man weiß in kurzer Zeit Alles Nöthige.« – »Ist das Ende alles dessen, was zum Denken und Empfinden anregt, abzusehen, wenn man mit Ihnen lebt?« – »Gott wolle diesen Zauber mir erhalten«, antwortete Corinna.«
»Aber bleiben wir noch ein wenig bei Dalmatien stehen«, hob sie wieder an, »wenn wir uns nicht auf solcher Höhe befänden, könnten wir nicht einmal die ungewissen Linien sehen, die uns jetzt das Land unklar von Weitem zeigen, wie eine Erinnerung im Gedächtnisse des Menschen. Die Dalmatier haben, wie auch die wilden Völker, ihre Improvisatoren; ebenso fand man diese bei den alten Griechen, und findet man sie bei allen Völkern, die Einbildungskraft und keine gesellschaftliche Eitelkeit haben; während der natürliche Geist eher eine epigrammatische, als poetische Form annimmt in Ländern, wo die Furcht, zum Gegenstand des Spottes zu werden, einen Jeden treibt, zuerst nach diesem, als nach einer Waffe zu greifen. Völker, die noch nicht zu weit von der Natur abgewichen sind, hegen vor dieser eine Ehrfurcht, die einer reichen Einbildungskraft sehr zu Statten kommt. »Die Höhlen sind heilig«, sagen die Dalmatier, und drücken damit ohne Zweifel einen unklaren Schrecken vor den Geheimnissen der Erde aus. Ihre Poesie gleicht, wiewohl sie Südländer sind, ein wenig der Ossianischen; doch kennen sie nur zwei sehr bestimmte Weisen, die Natur zu empfinden: sie zu lieben, und sie unter tausend glänzenden Formen zu vervollkommnen, wie die Alten es thaten, oder sich, wie die schottischen Barden, dem Schauer des Geheimnißvollen, der Schwermuth, welche Ungewisses und Ungekanntes meist hervorruft, zu überlassen. Seit ich Sie kenne, Oswald spricht diese letztere Weise mich an. Ehemals besaß ich Hoffnung und Leben genug, um die lachenden Gedankenbilder vorzuziehen, und mich der Natur zu erfreuen, ohne ein Verhängniß zu fürchten.«
»So wäre ich es denn«, sagte Oswald, »so bin ich es, der diese herrliche Einbildungskraft gebrochen hat, welcher ich die beseligendsten Freuden meines Lebens danke?« – »Nicht Sie sind anzuklagen«, antwortete Corinna, »sondern eine tiefe, große Leidenschaft. Das Talent bedarf der innerlichen Unabhängigkeit, welche eine wahrhafte Liebe niemals gestattet.« – – »Ach! wenn dem so ist«, rief Lord Nelvil, »so laß Dein Genie verstummen, auf daß Dein Herz ganz mir gehöre!« Er war sehr bewegt bei diesen Worten, und er fühlte, daß sie mehr noch versprachen, als sie sagten. Corinna verstand sie, aber wagte nicht, zu antworten, um ihr süßes Ausklingen nicht zu stören. Sie fühlte sich geliebt; und da sie in einem Lande gelebt hatte, wo die Menschen Alles dem Gefühle opfern, überredete sie sich, Lord Nelvil werde nicht im Stande sein, sie zu verlassen; sorglos und leidenschaftlich zugleich, bildete sie sich ein, es genüge, Zeit zu gewinnen, und hielt die Gefahr, von der man nicht mehr rede, auch für vorübergegangen. Kurz, Corinna lebte, wie die meisten Menschen leben, wenn sie lange von demselben Unglück bedroht sind: sie glauben schließlich, es werde nicht kommen, weil es noch nicht gekommen ist.
Die Luft in Venedig und auch das Leben, welches man dort führt, sind besonders geeignet, die Seele mit schmeichlerischen Hoffnungen zu wiegen; das ruhige Schaukeln der Barken macht zu Träumerei und Trägheit geneigt. Zuweilen hört man auf der Rialto-Brücke einen Gondoliere irgend welche Stanze aus dem Tasso anstimmen, worauf ihm ein anderer, vom entgegengesetzten Ende des Kanales her, mit der darauf folgenden antwortet. Die uralte Musik dieser Stanzen gleicht dem Kirchengesange und ihre Monotonie würde in geschlossenen Räumen sehr fühlbar sein. Aber im Freien und Abends, wenn diese verhallenden Töne sammt dem Wiederschein der untergehenden Sonne auf der Wasserfläche dahinziehen, und wenn Tasso's Verse diesem Zusammenspiel von Licht und Wohllaut auch noch ihre empfindungsvolle Schönheit beimischen, dann stimmen uns diese Gesänge zu süßer Schwermuth. Stundenlang fuhren Oswald und Corinna auf dem Wasser umher; zuweilen sprachen sie einige Worte, oder reichten sich auch wohl die Hand, meistens aber schwiegen sie und gaben sich den vaguen Gedanken hin, welche Natur und Liebe erzeugen.