Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.

Achtes Kapitel

Die venetianische Regierung entlieh in den letzten Jahren ihres Bestehens fast ihre ganze Gewalt von der Macht der Gewohnheit und der Einbildungskraft. Sie war furchtbar gewesen und milde geworden, war muthig aufgetreten, um sich nun schüchtern zu zeigen. Leicht hatte sie Haß erweckt, als sie sich gefürchtet zu machen wußte, und leicht war sie umgestürzt, als sie aufhörte, gefürchtet zu sein. Es war eine Aristokratie, die sich sehr um die Gunst des Volkes bemühte; nur suchte sie diese nach der Weise des Despotismus: sie unterhielt das Volk, aber sie klärte es nicht auf. Immerhin ist der Zustand des Amüsirtwerdens für ein Volk ein ganz angenehmer, besonders in Ländern, wo Geschmack und Fantasie bis in die untersten Klassen der Gesellschaft entwickelt worden sind. Nicht grobe, abstumpfende Lustbarkeiten bot man dem Volke, sondern Musik, Bilder, Improvisatoren, Festlichkeiten; und hiermit versorgte die Regierung ihre Unterthanen, wie ein Sultan seinen Serail. Als bestände es aus Frauen, verlangte sie vom Volke nur, sich nicht in die Politik zu mischen, und die höchste Gewalt nicht beurtheilen zu wollen. Doch um diesen Preis versprach sie ihm viel Unterhaltung und selbst hinreichenden Ruhm; die Beutestücke aus Konstantinopel, welche seine Kirchen schmücken, die auf öffentlichem Platze wehenden Standarten der Inseln Cypern und Candia, die korinthischen Pferde ergötzen hier das Auge des Volks, und den geflügelten Löwen hält es für das Sinnbild seines Ruhms.

Weil das Regierungssystem den Bürgern jede Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten untersagte, und Ackerbau, Jagd und Promenaden durch die Lage der Stadt zur Unmöglichkeit wurden, blieb den Venetianern kein anderes Interesse übrig als leichter Zeitvertreib: daher ist Venedig denn auch eine Stadt des Vergnügens. Der venetianische Dialekt ist weich und leicht, wie ein lieblicher Windhauch, und man begreift nicht, daß ein Volk, welches der Ligue von Cambray Widerstand leistete, eine so schmiegsame Sprechweise hat. Für Scherz und Anmuth ist dieser Dialekt reizend; aber wenn er sich ernstere Gegenstände zum Ausdrucke wählt, wenn man z. B. in so zarten, fast kindlichen Klängen Verse über den Tod recitiren hört, möchte man glauben, daß ein derartig besungenes Ereigniß nur eine poetische Täuschung sei.

Die Venetianer sind im Allgemeinen noch geistreicher, als die übrigen Italiener, weil die Regierung, wie sie auch sein mochte, ihnen doch öfter Gelegenheit zum Nachdenken geboten hat; aber ihre Einbildungskraft ist natürlich nicht so glühend, als die der südlichen Italiener. Die meisten der sonst sehr liebenswürdigen Frauen haben durch die Gewohnheit des Weltlebens eine Sentimentalität angenommen, welche, ohne die Freiheit ihrer Sitten im Mindesten zu beschränken, ihren Liebeshändeln eben nur noch die Affektation beigemischt hat. Ein großes Verdienst muß den Italienerinnen bei all ihren Fehlern gelassen werden: sie sind ohne Eitelkeit. In Venedig, wo es mehr Geselligkeit giebt, als in irgend einer andern Stadt Italiens, ist dieses Verdienst zwar etwas verloren gegangen. Denn Eitelkeit entwickelt sich besonders durch die Gesellschaft; sie ertheilt ihren Beifall so oft und so schnell, daß alle Berechnungen nur dem Augenblick gelten können, und daß man, um Erfolg zu haben, der Zeit auch nicht eine Minute Credit geben kann. Dessen ungeachtet fand sich in Venedig noch viel von der Leichtigkeit und Originalität italienischer Formen. Die vornehmsten Damen empfingen alle ihre Besuche in den Cafes des Marcusplatzes, und dies seltsame Durcheinander verhinderte, daß die Salons nicht allzu sehr ein Tummelplatz für die Anmaßungen der Eigenliebe werden konnten.

Auch von den Sitten des Volks und den alten Gebräuchen war noch Manches geblieben, und diese Gebräuche lassen stets Ehrfurcht gegen die Vorfahren und eine gewisse Jugend des Herzens voraussetzen, welche der Vergangenheit und des gerührten Gedenkens derselben nicht müde wird. Der Anblick der Stadt ist an sich schon höchst geeignet, eine Menge Erinnerungen und Ideen zu erwecken. Der Marcusplatz, unter dessen rings herumlaufenden blauen Zelten eine Menge Türken, Griechen und Armenier müßig ruhen, wird durch eine Kirche abgeschlossen, deren Aeußeres viel eher das Ansehen einer Moschee, als eines christlichen Tempels hat. Man gewinnt hier eine Vorstellung von dem schlaffen Leben der Orientalen, die ihre Tage in den Cafés mit Rauchen und dem Trinken von Sorbet hinbringen; auch sieht man Türken und Armenier in offenen Barken, nachlässig ausgestreckt, mit Blumentöpfen zu ihren Füßen, vorübergleiten.

Männer und Frauen der höchsten Stände gehen nie anders, als in schwarzem Domino aus. Die gleichfalls immer schwarzen Gondeln, denn in Venedig findet das Gleichheitssystem hauptsächlich in Aeußerlichkeiten seinen Ausdruck, werden oft von weißgekleideten, rothgegürteten Schiffern gelenkt. Dieser Gegensatz hat etwas Auffallendes; es ist, als ob man das Festkleid dem Volke überlassen hätte, während die Großen immerwährender Trauer hingegeben sind. In den meisten europäischen Städten muß der Dichter mit sorgfältigem Takt das Alltagstreiben aus seinen Beobachtungen aussondern, weil unsere Gebräuche, selbst unser Luxus nicht poetisch sind. Aber in Venedig giebt es nichts Alltägliches; Wasser und Barken machen aus den einfachsten Situationen ein malerisches Bild.

Auf dem Quai der Slavonier trifft man gemeinhin Marionetten, Marktschreier und Erzähler, die sich in jeder nur möglichen Gestalt an die Einbildungskraft des Volkes wenden. Besonders die Erzähler verdienen Aufmerksamkeit; fast immer sind es Episoden aus dem Tasso und dem Ariost, die sie, zur großen Bewunderung ihrer Hörer, in Prosa vortragen. Diese, im Kreis um den Sprechenden gruppirt, und meistens nur halb gekleidet, sitzen bewegungslos und in gespanntester Aufmerksamkeit da; man reicht ihnen von Zeit zu Zeit ein Glas Wasser, das bezahlt wird, wie anderswo der Wein; und so beschäftigt ist dann der Geist dieser Leute, daß jene einfache Erfrischung Alles ist, was sie während ganzer Stunden bedürfen. Der Erzähler begleitet seine Rede mit den lebhaftesten Geberden; seine Stimme ist laut, er wird zornig, wird leidenschaftlich, und doch sieht man, daß er im Grunde vollkommen gelassen ist; man könnte ihm sagen, was Sappho zu der Bacchantin sagte, die mit kaltem Blut sich aufgeregt stellte: »Bacchantin! Was willst Du, da Du nicht trunken bist?« – Die belebte Pantomime der Bewohner des Südens läßt indeß niemals den Gedanken an etwas Gemachtes aufsteigen. Sie ist ihnen von den Römern, die auch so viel Gestikulation aufwendeten, überkommen, und hängt mit ihrer lebhaften und poetischen Stimmung innig zusammen.

Die Fantasie eines im Vergnügungstreiben befangenen Volkes war durch das Blendwerk der Macht, mit welchem die venetianische Regierung sich zu umgeben wußte, leicht in Banden zu halten. Nie sah man einen Soldaten in Venedig, und man drängte sich ins Theater, wenn dort zufällig irgend eine Komödie das Auftreten eines solchen, vielleicht noch mit einer Trommel versehenen in Aussicht stellte. Es genügte, daß der Sbirre der Staatsinquisition, mit dem Schilde an der Mütze, sich zeigte, um bei einem öffentlichen Feste dreißigtausend Menschen zur Ordnung zu weisen. Es wäre eine schöne Sache, wenn diese Allgewalt sich auf die Ehrfurcht vor dem Gesetz gegründet hätte; aber sie zog ihre eigentliche Kraft aus der Scheu vor den geheimen Maßregeln, welche dies Gouvernement zur Aufrechthaltung der Ruhe anwendete. Die, in ihrer Art nie wieder dagewesenen Gefängnisse waren im Palast des Dogen, einige derselben lagen sogar unter dessen Gemächern. Auch das »Maul des Löwen«, in welches alle Denunciatoren hineingeworfen wurden, befindet sich im Palast des Regierungshauptes. Der Saal, welcher den Staatsinquisitoren als Aufenthalt diente, war schwarz behängen, und empfing sein Licht nur von oben; die hier gefällten Urtheile glichen schon im Voraus Verurtheilungen. Die sogenannte Seufzerbrücke führte von dem Palast des Dogen nach dem Staatsgefängniß hinüber. Wenn man über den Kanal fuhr, welcher diese Gefängnisse umgiebt, vernahm man wohl oft dumpfe Rufe nach Hülfe und Gerechtigkeit; doch diese ächzenden, verzweifelnden Stimmen wurden nicht erhört. Wenn endlich ein Staatsverbrecher verurtheilt war, verließ er, durch eine auf den Kanal führende kleine Thür tretend, Nachts das Gefängniß und bestieg eine ihn erwartende Gondel, die ihn nach einer bestimmten Stelle der Lagune führte. Hier, wo es verboten war zu fischen, wurde er ertränkt. Entsetzlicher Gedanke dies bis über den Tod hinausgetragene Geheimniß, welches dem Unglücklichen sogar die Hoffnung raubt, er könne mit seiner Leiche den Seinen erzählen, daß er gelitten hat, und nicht mehr ist!

Um die Zeit, als Corinna und Lord Nelvil nach Venedig kamen, war seit dem Aufhören solcher Executionen nahezu ein Jahrhundert verflossen; aber das die Einbildungskraft so beherrschende Geheimniß lastete noch auf der Stadt, und obwohl Lord Nelvil am wenigsten der Mann war, sich in irgend einer Weise in die politischen Interessen eines fremden Landes zu mischen, fühlte er sich doch von dieser Willkür ohne Erbarmen, die in Venedig über allen Häuptern schwebt, sehr bedrückt.

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