Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.
Sechstes Kapitel
Zwei Tage lang verfolgten sie die Ufer des adriatischen Meeres, das indessen von der romanischen Küste aus nicht den Eindruck des Oceans, nicht einmal den des mittelländischen Meeres macht. Die Landstraße streift oft dicht an das Wasser, dessen Rand von grünem Rasen bedeckt ist, und nicht so stellt man sich gemeinhin die Grenzen des furchtbaren Reiches der Stürme vor. In Rimini und Cesena verlaßt man den klassischen, römischen Boden mit seiner großen Geschichte, und die letzte Erinnerung, die sich darbietet, ist der Rubikon, den Cäsar überschritt, als er beschloß, sich zum Herrn von Rom zu machen. Durch ein seltsames Zusammentreffen liegt heute nicht weit von diesem Rubicon die Republik von St. Marino, und so besteht also diese letzte schwache Spur der Freiheit neben der Stätte fort, wo die Republik der Welt zerstört wurden ist. Von Ancona aus dringt man in Gegenden vor, die allmählig einen, von dem des Kirchenstaats sehr verschiedenen Anblick gewähren. Das Bolognesische, die Lombardei, die Umgebungen von Ferrara und Rovigo sind durch ihre Schönheit und Cultur bemerkenswerth; das ist die poetische Wüstenei nicht mehr, welche Roms Nähe und die furchtbaren, dort stattgehabten Ereignisse ankündet. Man verläßt dann
Die Tannen, die des Sommers Trauerkleid,
Des Winters Zierde sind,
verläßt die »Zapfentragenden, obeliskengleichen Cypressen«, die Berge und das Meer. Die Natur, wie der Reisende, sagt schrittweise den Strahlen des Südens Lebewohl. Zuerst wachsen die Pomeranzenbaume nicht mehr im Freien, und Olivenbäume, deren mattes, leichtes Grün sich für die Haine zu eignen scheint, in welchen die Schatten Elysiums wohnen, nehmen ihre Stelle ein; einige Meilen weiter hinauf verschwinden auch die Olivenbäume.
Wenn man in das Bolognesische kommt, hat man eine lachende Ebene vor sich, wo die Rebe in Kranzgewinden sich von Ulme zu Ulme zieht; das ganze Land sieht aus wie geschmückt zu einem Feste. Der Gegensatz zwischen ihrer innern Stimmung und dem leuchtenden Glanz dieser Gefilde bewegte Corinna tief. »Ach!« sagte sie seufzend zu Lord Nelvil, »weshalb nur zeigt die Natur den Freunden, die vielleicht bald von einander scheiden werden, so viele Bilder des Glücks?«–»Nein, sie werden nicht scheiden«, sagte Oswald, »täglich habe ich weniger die Kraft dazu. Ihre unveränderliche Sanftmuth fügt zu der Leidenschaft, die Sie einstoßen, noch den Zauber der Gewohnheit. Man ist mit Ihnen glücklich, als ob Sie nicht ein Weib von der wunderbarsten Begabung wären, oder man ist's vielmehr, weil Sie das sind; denn die wahre Ueberlegenheit führt zu vollkommener Güte; man ist mit sich, mit den Andern, mit der Natur zufrieden; welches bittre Gefühl könnte man empfinden?«
Sie erreichten Ferrara, eine der traurigsten Städte Italiens, denn sie ist ebenso ausgedehnt als öde. Die wenigen Menschen, welchen man von Zeit zu Zeit auf der Straße begegnet, gehen langsam, als ob sie wüßten, daß sie noch zu Allem Zeit haben. Man begreift es nicht, daß hier einst der glänzendste Hof gehalten worden ist, ein Hof, den Ariost und Tasso besangen. Man zeigt dort noch ihre eigenhändigen Manuscripte, wie auch das des Dichters des Pastor fido.
Ariost vermochte friedlich an einem Fürstenhofe zu leben; aber es ist zu Ferrara auch noch jenes Haus zu sehen, wo sie den Tasso als wahnsinnig einzusperren wagten, und man kann nur mit Rührung die vielen Briefe lesen, in welchen der Unglückliche nach dem Tode verlangt, der ihm nun seit so lange schon geworden. Tasso hatte jenes eigenthümlich geartete Talent, das denen, die es besitzen, so verhängnißvoll wird; seine Einbildungskraft wendete sich gegen ihn selbst, er wußte nur deshalb alle Geheimnisse der Seele, er war nur deshalb so reich an Gedanken, weil er so viele Schmerzen gekannt. »Wer nicht gelitten hat«, sagt ein Prophet, »was weiß Der?«
Corinnens Gemüthsstimmung hatte in mancher Hinsicht viel Aehnliches: ihr Geist war heiterer, sie empfing mannigfaltigere Eindrücke, aber ihre Einbildungskraft bedurfte ebenso auf's Aeußerste geschont zu werden; denn statt daß diese ihr den Gram verscheuchen half, steigerte sie nur seine Gewalt. Lord Nelvil täuschte sich sehr, wenn er, wie er das häufig that, annahm, Corinnens glänzende Fähigkeiten müßten ihr die Mittel zu einem von ihrer Liebe unabhängigen Glück gewähren. Wenn ein Mensch von hohem Geist mit wahrhafter Empfindung begabt ist, vermehrt sich sein Kummer an eben diesen vielen Fähigkeiten; er macht in seinem eigenen Gram so gut Entdeckungen, als in anderen Bereichen der Natur, und da das Unglück eines Herzens, das liebt, ein unerschöpfliches ist, fühlt man dies um so tiefer, je mehr man im Gedanken lebt.