Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünfzehntes Buch: Der Abschied von Rom und die Reise nach Venedig.

Erstes Kapitel

Oswald hatte Corinnens Brief in tiefster Bewegung gelesen; ein verworrenes Durcheinander von Schmerzen kämpfte in ihm. Bald verletzte ihn ihre Schilderung des englischen Provinzlebens, denn mit Verzweiflung folgerte er daraus, daß eine solche Frau niemals in der Häuslichkeit glücklich sein werde; bald beklagte er sie über ihr Erduldetes und konnte sich nicht erwehren, die Offenherzigkeit und Einfachheit ihrer Erzählung liebevoll zu bewundern. Auf ihre früheren Neigungen war er eifersüchtig, doch je mehr er sich diese Eifersucht verbergen wollte, je mehr quälte sie ihn. Vor Allem aber, und auf das Bitterste, bekümmerte ihn der Antheil seines Vaters in Corinnens Geschichte; sein Herz war so beklommen, daß er nicht wußte, was er dachte, was er that. Er ging in der Mittagszeit, bei der heißesten Sonnengluth, ins Freie; um diese Stunde sind Neapels Straßen menschenleer; die Furcht vor der Hitze hält alle lebenden Wesen im Schatten zurück. Sich planlos dem Zufall überlassend, wendete er sich nach Portici hinaus; die senkrecht glühenden Strahlen fielen auf sein Haupt, um seine Gedanken zugleich aufzuregen und zu verwirren.

Corinna konnte indessen, nach einigen durchwarteten Stunden, der Sehnsucht, Oswald zu sprechen, nicht länger widerstehn. Sie eilte in sein Zimmer; mit tödtlichem Schreck gewahrte sie seine Abwesenheit um diese Stunde. Auf dem Tische lagen ihre Bekenntnisse, und da sie nicht zweifeln konnte, daß Lord Nelvil sich erst, nachdem er sie gelesen, entfernt habe, bildete sie sich ein, er wäre abgereist, und sie würde ihn nicht wiedersehen. Von rastlosem Schmerz erfaßt, versuchte sie dennoch zu warten, wiewohl jeder Augenblick sie zu verzehren schien; sie eilte in großen Schritten durch das Gemach, und hielt dann wieder plötzlich inne, in der Furcht, ein Klang, der seine Wiederkehr verkünde, könne ihr entgehen. Endlich, da sie sich nicht länger zu beherrschen vermochte, ging sie hinunter, um zu fragen, ob und in welcher Richtung Oswald ausgegangen sei. Der Wirth des Hotels erwiderte, Lord Nelvil sei nach der Seite von Portici hin, aber hoffentlich wohl nicht weit gegangen, denn eben jetzt würde ein Sonnenstich sehr gefährlich sein. In dieser neuen Sorge eilte Corinna nun, vergessend, daß sie selbst unbedeckten Hauptes und durch nichts gegen die Mittagssonne geschützt war, die bezeichnete Straße hinunter. Das weiße Lavapflaster Neapels, welches nur ausgebreitet scheint, um das Uebermaß von Licht und Hitze noch zu vervielfältigen, brannte gegen ihre Füße, und blendete sie fast mit den zurückgeworfenen Sonnenstrahlen.

Sie hatte durchaus nicht die Absicht, bis Portici zu gehen, und doch lief sie, von Angst und Unruhe getrieben, immer weiter, immer schneller. Auf der großen Straße war kein Mensch zu sehen; um diese Stunde halten sich selbst die Thiere verborgen und fürchten die Natur.

Sobald der leiseste Windstoß über die Straße zog, erhoben sich entsetzliche Staubwolken; die mit diesem Staub bedeckten Wiesen sind ohne Grün, ohne Leben. Von Schritt zu Schritt glaubte Corinna umzusinken; sie begegnete auch nicht einem Baum, der ihr Schatten oder eine Stütze bot, und ihr Verstand verwirrte sich in dieser flammenden Wüste. Es blieb ihr jetzt nur noch eine kurze Strecke bis zu dem Palast des Königs, unter dessen Säulengängen sie Schatten und Wasser gefunden hätte. Aber die Kräfte versagten ihr. Vergeblich zwang sie sich zum Gehen; sie sah ihren Weg nicht mehr; ein Schwindel überkam sie und neckte sie mit tausend noch sprühenderen Lichtern, als die des sengenden Tages waren, und diesen Lichtern folgte eine Wolke, welche sie mit dichter, aber nicht kühlender Dunkelheit umgab. Von brennendem Durst verzehrt, bat sie einen ihr begegnenden Lazzaroni, – das einzige Menschenwesen, welches um diese Zeit der Gewalt des Klimas zu trotzen wagte, – ihr einen Trunk Wasser zu holen; aber der Mann zweifelte nicht, daß diese zu solcher Stunde allein umherirrende, durch ihre Schönheit und elegante Kleidung so auffallende Frau eine Wahnsinnige sei, und mit Entsetzen eilte er von dannen.

Zum Glück kam jetzt Oswald zurück; er vernahm zuerst ungläubig, dann völlig außer sich, Corinnens klagende Stimme, und die bewußtlos Zusammensinkende in seine Arme nehmend, trug er sie unter die Arkaden des Königspalastes von Portici, wo er sie mit liebender Sorgfalt allmählig ins Leben zurückrief.

»Sie gelobten mir, nicht ohne mein Vorwissen mich zu verlassen«, sagte sie, noch halb verwirrt, zu Oswald; »ich mag Ihnen jetzt Ihrer Liebe unwerth scheinen, aber was hat das mit der Einhaltung Ihres Versprechens zu thun?« –

»Corinna«, antwortete Oswald, »noch nie hat der Gedanke, Sie zu verlassen, mein Herz erniedrigt; ich wollte nur über unsere Zukunft nachdenken, und mich besser sammeln, ehe ich Sie wiedersähe!« – »Nun also«, sagte Corinna, indem sie ruhig zu scheinen versuchte, »Sie haben Zeit dazu gehabt, – während dieser drei tödtlichen Stunden, die mich fast das Leben kosteten, haben Sie Zeit dazu gehabt. Sprechen Sie, sagen Sie, was Sie beschlossen haben.« – Ihr Ton, der so deutlich ihre Erschütterung verrieth, erschreckte Oswald. – »Corinna«, sagte er, vor ihr niederknieend, »die Liebe Deines Freundes ist unverändert; was habe ich denn erfahren, das Dich mir entzaubern könnte? Aber höre mich an«; und da sie immer heftiger zitterte, fuhr er dringend fort: »Höre mich ohne Schrecken an, mich, der ja nicht leben könnte, wenn er Dich im Unglück wüßte.« – »O«, rief Corinna, »von meinem Glück also sprechen Sie nur, und es handelt sich schon nicht mehr um das Ihre? Ich weise Ihr Mitleid zwar nicht zurück, in diesem Augenblick habe ich es nöthig; aber meinen Sie etwa, daß ich von ihm allein leben möchte?« – »Nein, wir werden Beide von meiner Liebe leben«, sagte Oswald; »ich komme wieder...« – »Sie kommen wieder!« unterbrach ihn Corinna; »ach, so wollen Sie also fort? Was ist denn geschehen, was ist denn verändert seit gestern? O, ich Unglückselige!« – »Geliebteste, laß Dein Herz nicht gleich so aufstürmen«, sagte Oswald, »und gestatte mir, – wenn ich's vermag, – Dir darzulegen, was ich überdacht habe; es ist weniger, als Du fürchtest, viel weniger. Ich muß nur«, erklärte er mit großer Anstrengung, »ich muß doch die Gründe wissen, welche mein Vater vor sieben Jahren unserer Verbindung entgegengesetzt haben kann; er hat mir nie davon gesprochen und ich bin über diesen Punkt ohne jede Kenntniß; aber sein innigster Freund, der noch in England lebt, wird mir angeben können, was er einzuwenden hatte. Wenn es, wie ich glaube, nur geringe Nebenumstände betrifft, werde ich kein Gewicht darauf legen, werde ich Dir verzeihen, daß Du Deines und meines Vaters Land, ein so edles Vaterland, verlassen konntest. Die Liebe wird Dich, hoffe ich, mit ihm verbinden, und Du wirst das häusliche Glück und seine stille Tugend selbst dem Glanze Deines Genius vorziehen. Ich hoffe Alles, ich will Alles thun. Doch wenn mein Vater sich gegen Dich erklärte, Corinna, will ich zwar nicht der Gatte einer Andern werden, aber niemals könnte ich der Deine sein.« –

Oswald rang nach Fassung; seine Stirn bedeckte kalter Schweiß; Corinna sah dies, und ergriff stumm seine Hand. »Wie! Sie reisen!« sagte sie endlich. »Sie gehen nach England – ohne mich!« – Er schwieg. »Grausamer!« rief sie verzweifelnd, »Sie antworten nichts, Sie bestreiten nicht, was ich sage. Weh mir! so ist's denn wahr! Ach, indem ich's sagte, glaubte ich es noch nicht.« – »Ich habe, Dank Ihnen, das Leben wiedergefunden, das zu verlieren ich nahe daran war«, erwiderte Oswald, »und dies Leben gehört während des Krieges meinem Vaterlande. Darf ich mich mit Ihnen verbinden, so verlassen wir uns nicht mehr, und ich werde Ihnen Ihren Namen und Ihre Existenz im Vaterlande wiedergeben. Ist dies glückliche Loos mir aber versagt, so kehre ich, bei eingetretenem Frieden, nach Italien zurück; ich würde dann lange an Ihrer Seite bleiben, und nichts weiter an Ihrem Schicksal ändern, als daß Sie einen treuen Freund mehr an mir hätten.« – »Ach! Sie würden nichts weiter an meinem Geschicke ändern? Und sind doch der einzige Gedanke meines Lebens geworden, und haben mich doch diesen berauschenden Trank kosten lassen, nach welchem es nur Glück oder Tod giebt! Aber sagen Sie mir wenigstens, wann – wann wollen Sie reisen? wie viel Tage bleiben wir noch?« – »Geliebte, ich schwöre Dir, daß ich Dich vor drei Monaten nicht verlasse, und selbst dann... –«

»Drei Monate!« rief Corinna, »eine so lange Zeit werde ich noch leben! Es ist viel, ich hoffte nicht so viel! Wir wollen gehen, mir ist jetzt besser; drei Monate – das ist ja eine Zukunft!« sagte sie mit einer Mischung von Freude und Trauer, die Oswald tief erschütterte. Darauf stiegen Beide schweigend in einen Wagen, der sie nach Neapel führte.

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