Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Vierzehntes Buch: Corinnas Geschichte.

Erstes Kapitel

»Oswald, ich will mit dem Bekenntniß anfangen, das über mein Leben entscheiden wird. Wenn Sie es unmöglich finden, mir darnach zu verzeihen, dann lesen Sie nicht weiter, dann stoßen Sie mich von sich; wenn aber noch nicht Alles zwischen uns zerrissen ist, nachdem Sie den Namen und die Lebensstellung erfuhren, denen ich entsagt habe, dann kann das, was Sie ferner hören werden, vielleicht dazu dienen, mich zu entschuldigen.

»Lord Edgermond war mein Vater; ich ward ihm in Italien von seiner ersten Frau, einer Römerin, geboren, und Lucile Edgermond, die Ihnen bestimmte Gattin, ist meine Schwester von väterlicher Seite; sie ist das Kind aus meines Vaters zweiter Ehe mit einer Engländerin.

»Und nun hören Sie mich. In Italien auferzogen, verlor ich meine Mutter, als ich erst zehn Jahre alt war. Sterbend hatte sie den heißen Wunsch geäußert, ich möge nicht, bevor meine Erziehung vollendet sei, nach England gebracht werden, und ihn berücksichtigend, ließ mein Vater mich bis zum fünfzehnten Jahre in Florenz, bei einer Tante meiner Mutter. Meine Neigungen, meine Talente, mein Charakter waren schon sehr ausgebildet, als nach dem Tode auch dieser Tante mein Vater sich veranlaßt sah, mich zu sich zu nehmen. Er lebte in einer kleinen Stadt Northumberlands, die mir schwerlich von England einen Begriff geben konnte; doch ist sie Alles, was ich während der sechs dort verlebten Jahre von Ihrer Heimat kennen lernte. Seit meiner frühesten Kindheit hatte die Mutter mir davon gesprochen, welches Unglück ein Leben fern von Italien für sie sein würde, und später versicherte mich meine Tante oft, daß meiner Mutter frühzeitiger Tod durch die stete Besorgniß, ihre Heimat verlassen zu müssen, beschleunigt worden sei. Auch war die gute Tante ferner überzeugt, eine in protestantischen Landen lebende Katholikin müsse einst sicher zur Hölle fahren, und wenn ich derartige Befürchtungen auch natürlich nicht theilte, erregte mir der Gedanke, nach England zu gehen, doch großen Schrecken.

»Ich reiste mit einem Gefühl unaussprechlicher Traurigkeit ab. Die Frau, welche mich zu holen kam, verstand nicht italienisch; zwar sprach ich es noch heimlich mit meiner armen Theresina, die sich entschlossen hatte, mir zu folgen, obwohl sie sich unter tausend Thränen von der Heimat trennte, aber ich mußte mich doch von seinen wohllautenden Klängen entwöhnen, die selbst den Fremden so sehr gefallen, und die über alle Erinnerungen meiner Kindheit ihren Zauber gebreitet hatten. Als ich tiefer in den Norden kam, bemächtigte sich meiner allmählig ein düsteres Vorgefühl, für das ich keine rechte Ursache wußte. Seit fünf Jahren hatte ich meinen Vater nicht gesehen, und als ich ihm jetzt entgegentrat, erkannte ich ihn kaum. Es schien mir, als hätten seine Züge einen ernsteren Charakter angenommen; doch empfing er mich höchst liebevoll, und fand, ich gliche meiner Mutter. Man führte mir meine kleine, damals dreijährige Schwester zu; ihre schneeweiße Haut, ihr goldenes Lockenhaar waren mir neu, denn wir haben keine solche Gesichter in Italien, und sie gewann sogleich meine zärtlichste Theilnahme; noch an diesem Tage raubte ich von ihren blonden, seidenen Haaren, um daraus ein Armband zu flechten, das ich noch aufbewahre. Endlich erschien auch meine Stiefmutter, und der Eindruck, den ich von ihr empfing, hat sich während der sechs neben ihr zugebrachten Jahre stets gesteigert und erneuert.

»Lady Edgermond liebte ausschließlich die Provinz, in welcher sie geboren war, und mein Vater, den sie beherrschte, opferte ihr deshalb einen Aufenthalt in London oder Edinburg. Sie war eine kalte, förmliche, schweigsame Frau, deren Augen nur auf ihrer Tochter mit Empfindung ruhten, und die sonst etwas so Entschiedenes in ihrer Miene, ihren Reden hatte, daß es unmöglich schien, ihr weder einen neuen Gedanken, noch selbst ein Wort begreiflich zu machen, wenn es nicht nach ihrem Sinne war. Sie empfing mich recht gut; doch bemerkte ich schnell, wie überrascht sie von meinem ganzen Benehmen war, und es schien, als nehme sie sich vor, es zu ändern. Während des Essens wurde kein Wort gesprochen, obwohl man einige Personen aus der Nachbarschaft eingeladen hatte; ich langweilte mich so sehr bei diesem Stillschweigen, daß ich endlich einen neben mir sitzenden, älteren Herrn anredete, und als ich nun, im Laufe des Gesprächs, einige italienische Verse, sehr reinen und edlen Inhalts, anführte, die jedoch von Liebe sprachen, sah meine Stiefmutter, da sie ein wenig italienisch verstand, mich tadelnd an, erröthete, und gab noch früher, als gewöhnlich, den Damen das Zeichen, sich zurückzuziehen, um den Thee zu bereiten, und die Männer beim Nachtische allein zu lassen. Ich wußte nichts von einem Brauche, der in Italien, wo man sich keine Unterhaltung ohne Frauen denken kann, etwas Unerhörtes sein würde, und glaubte einen Augenblick, meine Stiefmutter wäre so entrüstet über mich, daß sie nicht in einem Zimmer mit mir bleiben wolle. Indessen beruhigte ich mich darüber, als sie mir einen Wink gab, ihr in den Salon zu folgen, wo ich während der drei Stunden, die wir in Erwartung der Herren dort zubrachten, keine Vorwürfe von ihr erhielt.

»Beim Souper erklärte mir meine Stiefmutter recht maßvoll, wie es nicht geziemend sei, daß junge Mädchen sich am Gespräche betheiligten, am wenigsten um Verse, in denen von Liebe die Rede sei, zu citiren. »Miß Edgermond«, fügte sie hinzu, »Sie müssen versuchen, all diese, aus Italien herübergebrachten Weisen abzulegen; es wäre zu wünschen, Sie hätten nie dieses Land gekannt.« – Ich verbrachte die Nacht in Thränen; Sehnsucht bedrückte mein Herz; am Morgen ging ich spazieren; es lag dichter Nebel auf der Erde, und ich konnte die Sonne nicht sehen, die mir doch wenigstens meine Heimat zurückgerufen hätte. Mein Vater begegnete mir, und redete mich an: »Mein liebes Kind«, sagte er, »hier ist es nicht wie in Italien; bei uns haben die Frauen keinen andern Beruf, als ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen. Deine Talente werden Dich in der Einsamkeit unterhalten, und vielleicht findest Du einen Gemahl, der sich ihrer freut. In einer kleinen Stadt erzeugt Alles, was Aufmerksamkeit erregt, auch Neid, und es würde sich keine Gelegenheit bieten, Dich zu verheirathen, wenn man glaubte, daß Deine Liebhabereien unsern Sitten widersprächen; hier muß man sich in seiner ganzen Lebensweise den veralteten Gewohnheiten einer abgelegenen Provinz unterordnen. Ich habe mit Deiner Mutter zwölf Jahr in Italien gelebt, und die Erinnerung daran ist mir sehr theuer; damals war ich jung und das Neue gefiel mir. Seitdem bin ich unter mein heimatliches Dach zurückgekehrt, und befinde mich gut dabei, denn ein regelmäßiges, selbst etwas einförmiges Leben läßt die Zeit verstreichen, ohne daß man es bemerkt. Es taugt nicht, gegen die Gebräuche eines Landes verstoßen, in welchem man nun einmal leben muß; man leidet dabei stets. In so einer kleinen Stadt, wie die unsere, erfahren die Leute Alles, besprechen sie Alles, nicht etwa um uns nachzueifern, sondern aus Eifersucht, und es ist immer noch besser, ein wenig Langeweile zu ertragen, als erstaunten, übelwollenden Gesichtern zu begegnen, die Einen in jedem Augenblick zur Rechenschaft ziehen möchten.«

»Sie können es sich wohl kaum vorstellen, mein theurer Oswald, welchen Schmerz ich bei diesen Ermahnungen meines Vaters empfand. Aus meinen Kinderjahren erinnerte ich mich seiner als eines geistreich-lebhaften Mannes, und jetzt sah ich ihn unter jenem bleiernen Mantel, welchen Dante in seiner Hölle beschreibt, und den die Mittelmäßigkeit auf die Schultern derer legt, die sich ihrem Joche gefügt haben. Alles schien nun meinen Blicken zu entweichen; die Begeisterung für Natur und Kunst, die hohe Weise zu fühlen, ich sollte sie verläugnen, und meine gequälte Seele war wie ein nutzloses Feuer, das mich verzehren mußte, da es außen keine Nahrung mehr fand. Weil ich von sanftem Naturell bin, und dies in den Beziehungen zu meiner Stiefmutter sehr vorwalten ließ, hatte sie keinen Grund, sich über mich zu beklagen; noch weniger mein Vater, den ich innig liebte, und dessen Unterhaltung allein mir noch einiges Vergnügen gewährte. Er hatte verzichtet, aber wenigstens war er sich dessen bewußt, während die meisten unserer Landedelleute jagten, tranken, spielten und damit das vernünftigste und beste Leben von der Welt zu führen glaubten.

»Ihre Selbstzufriedenheit verwirrte mich fast: ich fragte mich, ob nicht vielmehr meine Denkart thöricht sei; ob dieses materielle Dasein, in welchem der Schmerz und der Gedanke keine Stätte findet, das sich dem Gefühl wie aller schwärmerischen Erhebung entzieht, ob es nicht viel besser sei, als meine Auffassung vom Leben. Doch was hätte mir diese traurige Ueberzeugung helfen können? Mich über meine Talente zu grämen, wie über ein Unglück, während sie in Italien für eine schöne Himmelsgabe galten.

»In dem Kreise meiner Eltern gab es Leute, die nicht ohne Geist waren, ihn aber verhüllten, wie ein störendes Licht; und meistens begab sich diese kleine Regung ihres Hirns beim vorschreitenden Alter mit allem Uebrigen zur Ruhe. Im Herbst ging mein Vater viel auf die Jagd, und wir erwarteten ihn oft bis Mitternacht. Ich brachte während seiner Abwesenheit den größesten Theil des Tages auf meinem Zimmer zu, um meine Talente zu üben; darüber war meine Stiefmutter verstimmt. »Wozu soll das Alles dienen?« fragte sie, »werden Sie deshalb glücklicher sein?« Und solch ein Wort konnte mich zur Verzweiflung bringen. »Was ist das Glück«, antwortete ich mir, »wenn es nicht die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist? Ist der physische Tod denn schlimmer, als der moralische? Und wenn ich Geist und Seele ersticken soll, was fange ich mit dem elenden Leben an, das mir dann noch bleibt?« – Doch hütete ich mich wohl, meiner Stiefmutter in diesem Sinne zu entgegnen. Ich hatte es einige Mal versucht, und ihre Erwiderung ging stets dahin, daß eine Frau nur für den Haushalt ihres Mannes, für die Gesundheit ihrer Kinder zu sorgen habe; alle andern Prätensionen brächten nur Unheil, und der beste Rath, den sie mir geben könne, sei der, sie zu verbergen, wenn ich sie hegte. Auf derartige Reden, so alltäglich sie waren. fehlte mir jede Antwort; denn Streben und Begeisterung, diese bewegenden Triebkräfte, bedürfen sehr der Ermuthigung, sonst verkommen sie, wie Blumen unter kaltem Himmel.

»Es ist nichts leichter, als die Eigenartigkeit einer hochgestimmten Seele zu verdammen, und sich dadurch ein höchst moralisches Ansehen zu geben. Man kann die Pflicht, diese beste Religion des Menschen, wie jeden anderen Begriff entstellen; man kann sie zu einer schmerzhaft verwundenden Waffe machen, deren sich beschränkte Geister, mittelmäßige und von dieser Mittelmäßigkeit befriedigte Menschen gern bedienen, um dem Talente Schweigen zu gebieten, und sich damit das ihnen unbequeme Streben, die idealere Rechtschaffenheit Anderer – kurz Alles fernzuhalten, was ihnen feindlich, weil edel überlegen ist. Wenn man solche Leute reden hört, klingt es, als bestände die Pflicht in der Verläugnung aller auszeichnenden Fähigkeiten, als wäre ein reicher Geist ein Unrecht, das man büßen muß, indem man eben das Leben zu führen hat, wie Jene, denen er mangelt. Muß denn die Pflicht allen Charakteren gleiche Gesetze vorschreiben? Sind die großen Gedanken, die edlen Anschauungen nicht eine Schuld, welche diejenigen, die solcher Erhebung fähig sind, ihrem Dasein abzahlen müssen? Darf denn nicht jede Frau, wie jeder Mann, sich einen Weg bahnen, der ihrem Charakter und ihren Talenten angemessen ist? Und soll man den blinden Instinkt der Bienen nachahmen, deren Schwärme ohne Fortschritt, ohne Abwechselung auf einander folgen?

»Nein, Oswald! Verzeihen Sie Corinna diesen Stolz: sie glaubte sich zu anderm Loose bestimmt. Dem Manne, den ich liebe, bin ich ebenso sehr, noch mehr vielleicht, unterworfen, als diese Frauen, welche mich dort umgaben, und die ihrem Geiste kein Urtheil, ihrem Herzen keinen Wunsch gestatteten. Wenn es Ihnen gefiele, Ihren Aufenthalt im Innern Schottlands zu nehmen, würde ich glücklich sein, an Ihrer Seite leben und sterben zu dürfen; aber statt meiner Einbildungskraft zu entsagen, wollte ich mich durch sie nur besser der Schöpfung erfreuen, und je ausgedehnter die Welt wäre, die ich mit meinem Geiste zu umfassen vermöchte, je mehr wäre es des Ruhmes und Glückes für mich, Sie darin als meinen Herrn über mir zu sehen.

»Ich war Lady Edgermond durch mein Denken nicht minder unbequem, als durch mein Thun. Es genügte ihr nicht, daß ich das gleiche Leben führte, wie sie; ich sollte es auch aus denselben Beweggründen führen; die Eigenschaften, welche ihr mangelten, wollte sie gewissermaßen nur wie eine Krankheit gelten lassen. Wir lebten nahe dem Meeresstrand, und der Nordwind war bis in unser Schloß hinein zu fühlen. Nachts hörte ich ihn durch die langen Korridore klagen, und des Tages begünstigte er das drückende Schweigen unseres Kreises nur zu gut. Die Luft war kalt und feucht; fast niemals konnte ich ausgehen, ohne ein schmerzendes Unbehagen davonzutragen; mir schien in dieser Natur etwas Feindliches zu sein, das mich an das milde Italien sehnsuchtsvoll zurückdenken ließ.

»Für den Winter zogen wir in die Stadt, wenn man einen Ort, wo es weder Theater, noch Architektur, noch Musik, noch Gemälde giebt, eine Stadt nennen kann; es war ein Zusammengetragenes von Weiberklatsch, eine Anhäufung von zugleich verschiedenartigen und einförmigen Langweiligkeiten.

»Geburten, Heirathen, Sterbefälle, sie allein gaben den Stoff zu geselligem Gespräch, und es schien, als ob diese drei Ereignisse dort noch weniger als anderswo abwechselten. Stellen Sie sich vor, was es für eine Italienerin meiner Art bedeutete, mehrere Stunden des Tages nach dem Diner an einem Theetisch, und mit den Gästen meiner Mutter, festsitzen zu müssen. Es waren fast immer Damen aus der Stadt; zwei von ihnen fünfzigjährige Mädchen, schüchtern als wären sie fünfzehn, doch ohne die Heiterkeit dieses Alters. »Meine Liebe, glauben Sie, das Wasser koche genügend, um den Thee aufzugießen?« fragt Eine aus dem Kreise. »Meine Liebe, ich denke, es ist noch zu früh, denn die Herren scheinen an kein Aufheben der Tafel zu denken.« – »Wie lange sie heute wohl bleiben werden?« sagt eine Dritte. »Was denken Sie davon, meine Liebe?« – »Ich weiß es nicht«, erwidert die Vierte, »aber da die Wahlen zum Parlament in nächster Woche stattfinden, scheint es mir wahrscheinlich, daß sie sich lange über den Gegenstand unterhalten werden.« »Nein«, sagt eine Fünfte, »ich glaube, sie sprechen von der neulichen Fuchsjagd, die so befriedigend ausgefallen ist, daß sie am nächsten Montag wiederholt werden soll; doch mir scheint, sie sind bald damit fertig.« – »Ach, ich hoffe es kaum«, seufzte die Sechste, und Alles verfiel wieder in Schweigen. Die italienischen Klöster, in denen ich zuweilen gewesen, schienen wie das Leben selbst gegen diesen Cirkel, in welchem ich nichts mit mir anzufangen wußte.

»Alle Viertelstunde etwa erhob sich eine Stimme, um die abgeschmackteste Frage zu thun, und die seichteste Antwort darauf zu erhalten; dann fiel die Langeweile von Neuem mit bleiernem Gewicht auf diese Frauen, die man für unglücklich halten könnte, wenn die von Kindheit auf anerzogene Gewohnheit, Alles zu ertragen, ihnen noch ein Bewußtsein davon übrig gelassen hätte. Endlich kamen »die Herren«, und dieser erwartete Augenblick brachte eben auch keine Veränderung. Die Männer setzten ihr Gespräch am Kamine fort, die Frauen blieben am Theetisch, oder reichten die Tassen umher, bis sie endlich mit ihren Gatten nach Hause gingen, um am folgenden Tage ein Leben wieder anzufangen, das sich vom vorhergehenden nur durch den Kalender und durch die Spuren der Zeit unterschied, die sich allmählig ihren Gesichtern eindrückten, – als ob sie inzwischen gelebt hätten!

»Ich begreife noch heute nicht, daß mein Talent in dieser tödtlich frostigen Atmosphäre nicht verloren ging; denn man darf es sich nicht verschweigen: es giebt für die meisten Dinge zwei Anschauungsweisen: man kann den höhern Geistesflug rühmen, man kann ihn tadeln; Bewegung und Ruhe, Mannigfaltigkeit und Einförmigkeit können durch verschiedene Beweisführungen sowohl angegriffen, als vertheidigt werden; man kann dem Leben das Wort reden, und doch läßt sich viel Gutes vom Tode sagen, und von dem, was ihm gleicht. Man ist also durchaus nicht berechtigt, die Meinung mittelmäßiger Menschen einfach zu verachten. Wider unsern Willen dringen sie bis auf den Grund unserer Gedanken; sie stehen in dem Augenblick neben uns auf der Lauer, wo unsere Ueberlegenheit Kummer über uns gebracht hat, um uns dann ein sehr ruhiges »Nun also« zu sagen, das mit seiner scheinbaren Mäßigung das Härteste ist, was man hören kann. Der Neid ist nur in solchen Kreisen allenfalls erträglich, wo er durch die Bewunderung, welche man dem Talente zollt, erregt wird; aber dort leben müssen, wo die Ueberlegenheit kein begeistertes Nachstreben, sondern nur Eifersucht erweckt, ist ein sehr großes Unglück; und sehr schwer ist es, wie eine Macht gehaßt zu werden, und doch weniger stark, weniger zäh, als ein ganz untergeordneter Mensch zu sein. Dies aber war grade meine Lage im väterlichen Hause; Allen fast galt mein Talent nur als ein lästiges Geräusch; ich konnte hier nicht, wie es in London oder Edinburg möglich gewesen wäre, jenen überlegenen Menschen begegnen, die Alles zu beurtheilen, Alles anzuerkennen wissen, und die mit dem Bedürfniß nach den unerschöpflichen Freuden des Geistes, nach edlem Gedankenaustausch, auch in der Unterhaltung mit einer Ausländerin vielleicht noch einigen Reiz gefunden haben würden, selbst wenn sie sich nicht immer den strengen Formen des Landes gefügt hätte.

»Ich brachte ganze Tage in den Gesellschaften meiner Stiefmutter zu, ohne auch nur ein einziges Wort zu hören, das der Ausdruck eines Gefühls, eines Gedankens gewesen wäre; man gestattete sich nicht einmal, die Rede mit Gesten zu begleiten. Auf den Gesichtern der jungen Mädchen war die schönste Frische, die lebhaftesten Farben, aber die vollkommenste Unbeweglichkeit. Welch sonderbarer Contrast zwischen Natur und Gesellschaft! Alle Altersstufen hatten dieselben Unterhaltungen: man trank Thee, man spielte Whist, und da sie stets dieselbe Sache thaten, immer auf demselben Platze blieben, alterten die Frauen schnell; die Zeit konnte sicher sein, sie nicht zu verfehlen, wußte sie doch stets, wo die Bewegungslosen anzutreffen waren!

»In den kleinsten Städten Italiens giebt es ein Theater, Musik, Improvisatoren, viel Begeisterung für Poesie und Kunst, viel lieben Sonnenschein – kurz, man weiß dort, daß man lebt! In jener nordischen Provinz aber vergaß ich es, und ich glaube, wenn ich, statt meiner, eine Puppe mit leidlicher Mechanik abgesendet hätte, sie würde meinen Platz in der Gesellschaft genügend ausgefüllt haben. In England findet man die verschiedenartigsten, höchst achtbaren Interessen für das öffentliche Wohl überall verbreitet; folglich haben die Männer, in welcher Zurückgezogenheit sie auch leben, die Mittel zur Hand, ihre Muße würdig auszufüllen; aber die Tage der Frauen waren dort in jenem entlegenen Winkel, wo ich lebte, unaussprechlich nüchtern. Es gab wohl Einige unter ihnen, die von Natur und durch Nachdenken einen etwas freier entwickelten Geist besaßen, und hie und da war mir ein Ton, ein Blick, ein leise gesprochenes Wort aufgefallen, die von der vorgeschriebenen Linie abwichen; allein diese schüchternen Keime wurden von der kleinen, in ihrem kleinen Kreise allmächtigen Meinung einer kleinen Stadt gänzlich erstickt. Man würde für abenteuerlich, für eine Frau von zweifelhaftem Ruf gegolten haben, wenn man sich's hätte einfallen lassen, zu sprechen, oder irgendwie hervorzutreten; und was schlimmer als all das Unbequeme: man hatte auch keinen Vortheil davon.

»Anfangs versuchte ich, diese schlafenden Menschen aufzurütteln: ich schlug ihnen ein gemeinsames Lesen unserer großen Dichter, auch gemeinschaftliches Musiciren vor. Wirklich wurde auch ein Tag dafür festgesetzt; aber plötzlich erinnerte sich eine der Damen, daß sie seit drei Wochen versprochen habe, bei irgend welcher Tante zu Abend zu speisen; eine Zweite, daß sie um einer alten Muhme willen, die sie nie gekannt, und die vor mehr denn drei Monaten gestorben, in Trauer sei; eine Andere hatte unvermeidliche wirthschaftliche Abhaltungen –: all das klang sicherlich sehr vernünftig; was aber immer dabei geopfert wurde, das waren die edleren, geistigen Freuden, und da ich so oft ein niederschlagendes »Das geht nicht an« hören mußte, schien mir endlich unter so vielen Verneinungen ein verneinendes Leben noch immer am besten.

»Nachdem ich mich einige Zeit gesträubt hatte, entsagte ich meinen erfolglosen Versuchen; nicht etwa, weil mein Vater mir gebot, sie zu unterlassen; im Gegentheil, er hatte von meiner Stiefmutter verlangt, sie möge mir nicht hinderlich sein; sondern weil die Andeutungen, die spöttischen Seitenblicke, während meines Sprechens, die tausend kleinen Nadelstiche, – den Banden gleich, mit welchen die Pygmäen Gulliver umstrickten, – mir jede freie Bewegung unmöglich machten; ich that schließlich, was die Andern thaten, nur mit dem Unterschiede, daß ich vor Langerweile, Ungeduld und Ekel innerlich förmlich dahinstarb. In dieser Weise hatte ich schon vier der drückendsten Jahre verlebt. Noch größere Bekümmerniß selbst, als diese Verhältnisse, bereitete mir der Umstand, daß mein Talent im Abnehmen war. Unwillkürlich erfüllte sich mein Geist mit Kleinlichkeiten; denn in einer Gesellschaft, die an Wissenschaft, an Literatur und Kunst, an allem Höheren endlich kein Interesse findet, liefern die kleinen Thatsachen, die genau abwägenden Urtheilchen über Nebenmenschen notwendiger Weise den einzigen Unterhaltungsstoff; und solche Menschen ohne geistige Thätigkeit, ohne Nachdenken, haben etwas Engherziges, Mißtrauisches, Gezwungenes, das den Verkehr mit ihnen ebenso peinlich als unersprießlich macht.

»Sie finden nur in einer gewissen mathematischen Regelmäßigkeit Befriedigung; diese ist ihnen genehm, denn sie kommt ihrem Wunsche entgegen, alle Überlegenheit zu unterdrücken, und die ganze Welt auf ihren Standpunkt herabzuzerren; aber diese Einförmigkeit der Standpunkte bereitet Charakteren, die sich zu einem ihnen angemesseneren Loose berufen glauben, ununterbrochenen Schmerz. Das bittre Bewußtsein von der Abneigung, die ich wider meinen Willen erregte, vereinigte sich mit dem Druck einer Nüchternheit, einer Leere, die mir fast den Athem raubte. Umsonst sagt man sich: »Dieser Mann ist nicht würdig, über dich zu urtheilen, jene Frau kann dich nicht verstehen«; des Menschen Angesicht übt nun einmal große Herrschaft über des Menschen Herz, und wenn wir auf solchem Gesichte heimliche Mißbilligung lesen, so beunruhigt uns diese trotz unseres Sträubens; kurz, es gelingt dem uns umgebenden Kreise schließlich immer, die übrige Welt unsern Blicken zu verdecken. Der kleinste Gegenstand vermag uns die Sonnenstrahlen abzufangen, und ebenso ist's mit der Gesellschaft, in welcher man lebt; weder Europa, noch die Nachwelt vermögen gegen etwaige Häkeleien mit dem Nachbarhause unempfindlich zu machen, und wer glücklich sein und den Geist frei entwickeln will, soll vor Allem die Atmosphäre, welche ihn zunächst umgiebt, mit Vorsicht wählen.«

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