Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Dreizehntes Buch: Der Vesuv und die Umgegend von Neapel.

Sechstes Kapitel

Das Wetter änderte sich, eben als sie Neapel erreichten; der Himmel umwölkte sich, und die heftig aufeinander treibenden Wogen verkündeten schon das heraufziehende Gewitter, wie wenn der Meeressturm sich aus dem Schooße der Fluthen erhöbe, um dem Sturm des Himmels zu antworten. Oswald war Corinna etwas vorausgeeilt, da er für deren Weg bis zum Hotel Fackeln herbeischaffen lassen wollte; auf dem Quai fand er eine Gruppe schreiender Lazzaroni versammelt. »Ach! der Arme!« riefen sie, »er kann nicht mehr mit den Wellen fertig werden, er geht unter!« – »Was sagt Ihr, Leute«, fragte Lord Nelvil heftig, »von wem sprecht Ihr?« – »Von jenem Greise dort«, antworteten sie, »er badete dort unten, nicht weit von den Molen; da ist er vom Sturm überrascht worden, und es fehlt ihm jetzt die Kraft, gegen die Wellen anzukämpfen, um das Ufer zu erreichen.« Oswalds erste Regung war, selbst ins Wasser zu springen; er dachte aber daran, welches Entsetzen Corinna, die ihm in wenig Augenblicken folgen mußte, dadurch bereitet werden könnte, und so bot er für die Rettung des Greises eine große Summe Geldes aus. Die Lazzaroni weigerten sich Alle, unter dem Vorgeben, daß die Gefahr zu groß, die Rettung unmöglich sei. In diesem Augenblick verschwand der Greis unter den Wogen. Länger zögerte Oswald nicht; er stürzte sich in die Fluthen. Sie schlugen auch ihm über dem Kopfe zusammen, doch rang er sich glücklich durch, erreichte den Greis, der einen Augenblick später verloren gewesen wäre, ergriff ihn und brachte ihn ans Ufer. Aber beim ersten Schritt, den er auf das Land setzte, fiel er in Folge der unerhörten Anstrengung, mit welcher allein solch ein Kampf gegen die wüthenden Gewässer bestanden werden konnte, bewußtlos nieder, und seine Todtenblässe glich der eines Sterbenden. [Fußnote]Anmerkung der Autorin: Herr Dubreuil, ein ausgezeichneter französischer Arzt, hatte einen Freund, Herrn von Pameja, der ein ebenso vortrefflicher Mann war als jener. Herr Dubreuil wurde von einer tödtlichen und zugleich ansteckenden Krankheit ergriffen; als die allgemeine Theilnahme für ihn sich durch zahlreiche Besuche zu erkennen gab, welche zum Theil sein Zimmer betraten, sagte Herr Dubreuil zu Herrn von Pameja: Man muß die Leute nicht ins Haus lassen; Sie wissen, mein Freund, daß meine Krankheit ansteckend ist, es darf Niemand hier sein, als Sie. Welch ein Wort! Glücklich ist der, welcher es versteht. Herr von Pameja starb vierzehn Tage nach seinem Freund.

Corinna, die nichts ahnte, jetzt aber im Herbeikommen diese Menschenmasse, welche sich mit dem Klagerufe: »Er ist todt, er ist todt!« um einen Mittelpunkt zu drängen schien, voller Schreck bemerkt hatte, würde schnell vorübergegangen sein, wenn nicht einer der sie begleitenden Engländer von ihrer Seite fort und in das Gedränge geeilt wäre, um zu erfahren, was geschehen. Fast mechanisch folgte sie demselben, und das Erste, worauf nun ihr Auge fiel, war Oswalds Rock, den er vorhin abgeworfen hatte. In dem Glauben, dies sei Alles, was von ihm geblieben, griff sie darnach in convulsivischer Verzweiflung; und wie sie dann endlich ihn selbst erblickte, den scheinbar Leblosen, warf sie sich fast mit Entzücken auf den hingestreckten Körper des geliebten Mannes. Ihn leidenschaftlich mit den Armen umschlingend, fühlte sie voll unaussprechlichen Glückes noch die Schläge seines Herzens, das sich vielleicht bei ihrem Herannahen belebt hatte. »Er lebt!« rief sie, »er lebt!« und von nun an bewies sie mehr Kraft und Muth, als irgend Jemand der Umstehenden. Sie bestimmte die erforderlichen Hülfsmittel, und wußte sie geschickt anzuwenden; sie netzte das Haupt des Ohnmächtigen mit ihren Thränen, doch unterbrach sie, ohngeachtet ihrer schrecklichen Angst, ihr Mühen und Thun durch keine andern Schmerzensäußerungen. Sie vergaß nichts, sie verlor keinen Augenblick. Oswald schien ein wenig besser, nur hatte er seine Besinnung noch nicht wieder. Corinna ließ ihn in ihr Hotel schaffen; sie kniete neben ihm, gab ihm stärkende Essenzen und rief in leidenschaftlichster Zärtlichkeit seinen Namen. Das Leben mußte auf solchen Ruf wohl wiederkehren; und Oswald hörte ihn, er öffnete die Augen und drückte ihr die Hand.

War es nöthig, für die Seligkeit eines solchen Augenblicks die Qualen der Hölle durchzumachen? Arme Menschennatur! Nur durch den Schmerz erfahren wir, was Unendlichkeit ist; und unter allen Herrlichkeiten des Lebens giebt es nichts, das für die Verzweiflung entschädigen könnte, den Geliebten sterben zu sehn!

»Grausamer!« rief Corinna, »Grausamer! Wie konnten Sie mir das thun!«

»Verzeihen Sie, Corinna«, entgegnete Oswald mit matter Stimme, »und glauben Sie mir, Geliebte, als ich mich verloren hielt, da hatte ich Furcht – ich fürchtete für Sie!« – O wundervolle Sprache gegenseitiger Liebe, einer durch das Glück des Vertrauens erst vollendeten Liebe! – Corinna, von seinen tief zärtlichen Worten erschüttert, erinnerte sich derselben bis zu ihrer letzten Stunde mit jener Wehmuth, die, auf Augenblicke wenigstens, uns hilft, Alles zu verzeihen.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12