Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Dreizehntes Buch: Der Vesuv und die Umgegend von Neapel.

Fünftes Kapitel

Corinna kam wieder zu sich, Oswalds Nähe und sein liebender Blick, der voll theilnehmender Sorge auf ihr ruhte, gaben ihr einige Fassung. Mit Erstaunen hatten die Neapolitaner ihre düstern Poesien vernommen. Sie bewunderten zwar die klangvolle Schönheit dieser Sprache, doch hätten sie gewünscht, ihre Verse wären von weniger trauriger Stimmung beeinflußt gewesen: denn die schönen Künste, und unter ihnen die Poesie, waren für sie nur da, um sich von den Sorgen des Lebens zu zerstreuen, nicht um sich tiefer in seine furchtbaren Geheimnisse hineinzugraben. Dagegen hatten die anwesenden Engländer Corinnens Improvisation mit einer Art heiliger Andacht vernommen. Solche tief-schwermüthigen, aber mit italienischer Gluth ausgedrückten Gefühle entzückten sie. Diese schöne Corinna, deren geistreiche Züge, deren lebenspendender Blick nur für das Glück bestimmt schienen, diese von verborgenem Leid betroffene Tochter der Sonne glich den noch frischen, noch leuchtenden Blumen, die, durch einen tödtlichen Stich vergiftet, einem nahen Tode entgegenwelken.

Die Gesellschaft schiffte sich ein, um nach Neapel zurückzukehren; nach der heißen Ruhe, welche über dem Erdboden lagerte, war der frische Meeresathem höchst erquickend. Goethe hat in einer köstlichen Romanze die Sehnsucht geschildert, welche uns bei großer Hitze ins kühle Element zieht: eine, aus bewegten Wassern emportauchende Nymphe singt dem jungen Fischer, der am Ufer sitzt, von der Herrlichkeit, dem wohligen Behagen, das er auf dem Grunde der Fluth finden werde. Sie lockt den, anfangs Gleichgültigen, in ihren »ewigen Thau« hinunter, bis er, von Sehnsucht erfaßt, halb von ihr gezogen und halb ihr entgegensinkend, auf immer in die kühle Fluth hinabtaucht. Diese magische Gewalt des Wassers gleicht gewissermaßen dem Blick der Schlange, der abschreckend anzieht. Die Woge, wie sie sich leise in der Ferne erhebt, in stetem Wachsen herbeirollt, und sich in eiliger, treibender Ueberstürzung am Strande bricht, sie ist gleich einem verborgenen Wunsche der Seele, der unbemerkt aufsteigt, und in unwiderstehlich zunehmender Gewalt das arme irrende Menschenherz an der Klippe zerschellen läßt.

Corinna war jetzt ruhiger, die lieblichen Abendlüfte fächelten ihr Frieden zu; um ihnen Stirn und Schläfen mehr preis geben zu können, hatte sie das schwarze Haar zurückgestrichen, und war so schöner denn je. Die in einer zweiten Barke folgende Musik von Blasinstrumenten wirkte zauberhaft; ihre Töne verbanden sich mit dem Meer, den Sternen, der berauschenden Süßigkeit eines italienischen Abends zu himmlischem Zusammenklang; sie waren die Stimme des Himmels inmitten der Natur. »Geliebte«, sagte Oswald leise, »süße Freundin meines Herzens, nie werde ich diesen Tag vergessen; kann es noch einen glücklicheren geben?« – Und wie er das sagte, standen seine Augen voll Thränen. Dann war sein Angesicht von unwiderstehlichem Ausdruck. Zuweilen auch, während heiteren Scherzes, bemerkte man, daß eine verborgene Rührung in ihm aufstieg, die seinem Wesen die edelste Anmuth verlieh. »Ach!« antwortete Corinna, »nein, ich hoffe auf keinen Tag mehr wie diesen; er sei wenigstens als der letzte meines Lebens gesegnet, falls er die Morgenröthe eines dauernden Glückes nicht ist, nicht sein kann.«

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