Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Dreizehntes Buch: Der Vesuv und die Umgegend von Neapel.
Viertes Kapitel
Indessen wünschte Corinna, daß Oswald sie noch einmal, wie bei der Feier auf dem Kapitol, im vollen Glanze ihres Talents hören möge; falls dieses Talent auf immer versinken mußte, dann sollten die letzten Strahlen vor seinem Erlöschen wenigstens noch den Geliebten treffen. Dieser Wunsch gab ihr die Begeisterung, welcher sie bedurfte, um sich über ihr stürmisch bewegtes Innere zu erheben. Corinnens Freunde und Gäste waren ungeduldig, sie zu hören. Selbst das Volk umgab in erwartungsvollem Schweigen den Kreis, in welchem Jene die Künstlerin umstanden; denn dieses Volk, das im Süden vermöge seiner Fantasie ein so guter Beurtheiler der Dichtkunst ist, kannte ihren Ruf, und auf all diesen neapolitanischen Gesichtern lag daher jetzt die gespannteste Aufmerksamkeit. Der Mond erhob sich am Horizonte; das letzte Tageslicht beeinträchtigte zwar noch seinen Glanz. Von der Höhe des kleinen Hügels, der, ins Meer hinaustretend, eben das Kap Misene bildet, überblickte man den Vesuv, den Golf von Neapel mit seinen Inseln, den reichen Strich Landes, welcher sich von Neapel bis Gaeta hinstreckt, kurz ein Stück Erde, wo die Vulkane, wo Geschichte und Poesie die zahlreichsten Spuren einer großen Vergangenheit zurückließen. So verlangten Corinnens Freunde denn auch einstimmig, »die Erinnerungen, welche dieser Boden erwecke«, als Gegenstand ihrer Improvisation zu wählen. Sie stimmte ihre Laute und begann in bebendem Ton. Ihr Blick war schön; aber wer sie kannte, mußte die Angst ihrer Seele darin lesen. Sie versuchte jedoch, ihren Schmerz zu bemeistern und sich, für einen Augenblick wenigstens, über ihre persönliche Lage zu erheben.
Corinnens Gesang in den Gefilden von Neapel.
»Natur, Poesie und Geschichte wetteifern hier in Großartigkeit; mit Einem Blick vermag man hier alle Zeiten, alle Wunder zu umfassen.
»Dort der See von Averno, ein erloschener Vulkan, dessen Wogen einst Entsetzen erregten: der Acheron und Phlegethon, deren Fluthen an unterirdischem Feuer sieden, sind die Ströme dieser einst von Aeneas besuchten Hölle.
»Das Feuer, diese schaffende und verzehrende Kraft, wurde um so mehr gefürchtet, als seine Gesetze den Menschen noch unbekannt waren. Die Natur offenbarte anfangs ihre Geheimnisse nur der Poesie.
»Die Stadt Cumä, die Höhle der Sibylle, und auch Apollo's Tempel lagen auf diesen Höhen. Hier das Gehölz, wo der goldene Zweig gebrochen wurde. Das Land der Aeneïde umgiebt uns, und die vom Genius geweihten Träume des Dichters sind Erinnerungen geworden, von denen man noch die Spuren sucht.
»In diese Fluthen stürzte ein Triton den verwegenen Trojaner, der es wagte, die Gottheiten des Meeres durch seine Gesänge herauszufordern. Diese hohlen, tönenden Felsen sind noch so, wie Virgil sie schilderte, denn die Einbildungskraft malt treu, wenn sie eine so mächtige ist. Der Geist des Menschen ist schöpferisch, wenn er die Natur versteht, und nachahmend, wenn er sie zu erfinden glaubt.
»Mitten unter diesen ungeheuren Massen, den alten Zeugen der Schöpfung, sieht man einen neuen, vom Vulcan erst erschaffenen Berg. Hier ist die Erde stürmisch, wie das Meer; sie tritt nicht, wie dieses, friedlich in die alten Grenzen zurück. Das schwere, durch des Abgrunds furchtbare Gewalten emporgehobene Element höhlt Thäler aus, thürmt Berge auf und seine versteinerten Wogen reden von den Stürmen, die sein Inneres zerreißen.
»Schlagen wir auf diesen Boden, so hallt das unterirdische Gewölbe davon wieder. Es ist, als wäre die bewohnte Welt nur eine deckende Oberfläche, die stets bereit ist, sich gähnend zu öffnen. Die Gegend von Neapel ist ein Bild der menschlichen Leidenschaften: verderblich und fruchtbringend, scheinen ihre Gefahren, wie ihre Freuden, aus diesen flammenden Vulcanen hervorzugehen, welche dieser Luft ihre Zauber verleihen, während sie unter unsern Füßen den Donner grollen lassen.
»Plinius studirte die Natur, um Italien besser bewundern zu können; er rühmte sein Vaterland als das schönste Land der Erde, da er andere Eigenschaften nicht mehr preisen konnte. Die Wissenschaft suchend, wie ein Krieger die Eroberungen, verließ er eben dieses Vorgebirge, um den flammenspeienden Vesuv zu beobachten, und diese Flammen vernichteten ihn.
»O Erinnerung, du edle Macht! Hier diese Stätte ist dein Reich. Von Jahrhundert zu Jahrhundert – welch seltsames Schicksal! – beklagt der Mensch, was er verloren hat. Es ist, als sei das Glück in die längst verflossenen Zeiten zur Bewahrung niedergelegt, und während der Gedanke sich seines Fortschreitens rühmt, und kühn in die Zukunft dringt, scheint unsere Seele schwermuthsvoll eine alte Heimat zu betrauern, die in der Vergangenheit begraben liegt.
»Wir beneiden den Glanz der Römer, und beneideten sie denn nicht wiederum die mannhafte Einfachheit ihrer Voreltern? Ehemals verachteten sie dies üppige Land, und nur ihre Feinde wurden von seiner wonnigen Herrlichkeit bezwungen. Sehet Capua dort in der Ferne; es beugte den Krieger, dessen unbeugsame Seele der alten Roma länger widerstand, als die ganze übrige Welt.
»Darauf bewohnten auch die Römer diese Orte. Als die Kraft der Seele ihnen nur noch diente, um Schmerz und Schande tiefer zu empfinden, gaben sie sich ohne Scham der Verweichlichung hin. Zu Bajä eroberten sie sich vom Meere eine Strecke Ufers für ihre Paläste. Man durchwühlte die Berge, um ihnen Säulenhallen und seltenes Gestein zu entreißen, und die zu Sklaven herabgekommenen Herren der Welt unterjochten die Natur, um sich über die eigene Unterjochung zu trösten.
»In der Nähe des Vorgebirges von Gaeta, das sich hier unsern Blicken zeigt, verlor Cicero das Leben. Ohne Rücksicht für die Nachwelt, beraubten die Triumvirn diese der Gedanken, welche jener große Mann noch hinterlassen haben würde. Das Verbrechen der Triumvirn dauert noch fort; noch an uns haben sie sich durch diesen Frevel vergangen.
»Cicero fiel unter den Dolchen der Tyrannen. Der unglücklichere Scipio ward aus seiner, damals noch freien Heimat verbannt. Er endete seine Tage nicht weit von diesem Gestade; die Ruinen seines Grabes nennt man die Veste des Vaterlandes; eine rührende Anspielung auf die Idee, von welcher seine große Seele erfüllt war.
»Marius flüchtete sich in die Sümpfe von Minturnä, unweit von dem Wohnsitz des Scipio. So haben zu aller Zeit die Nationen ihre großen Männer verfolgt und gequält. Aber diese werden durch die Apotheose entschädigt, und der Himmel, in welchem die Römer noch zu herrschen glaubten, nimmt unter seine Sterne Romulus, Numa, Cäsar auf: neue Gestirne, die vor unsern Augen ihre Strahlen des Ruhms mit dem Himmelslicht vereinigen.
»Und nicht das Unglück allein, auch das Verbrechen hat hier sein Gedächtniß zurückgelassen. Seht dort, am äußersten Rande des Meerbusens, die Insel Capri, wo das Alter den Tiberius überwand; wo dieser zugleich so grausame und wollüstige, so gewaltthätige und schlaffe Fürst endlich auch des Verbrechens müde ward, und sich in die niedrigsten Genüsse stürzte, als ob die Tyrannei ihn noch nicht genug erniedrigt habe.
»Das Grabmal Agrippinens liegt ebenfalls an diesem Strand, gegenüber der Insel Capri; erst nach dem Tode Nero's ward es errichtet. Der Mörder seiner Mutter fluchte auch ihrer Asche. Er wohnte lange in Bajä, umgeben von den Erinnerungen seiner Missethaten. Welche Ungeheuer versammelt hier der Zufall vor unsern Augen! Tiber und Nero stehen sich gegenüber!
»Beinahe von ihrer Entstehung an dienten die vulkanischen, aus dem Meere aufgestiegenen Inseln den Verbrechen der alten Welt. Den Blicken der Unglücklichen, die so mitten ins Meer, auf diese einsamen Felsen verwiesen waren, zeigte sich in der Ferne das Vaterland; sie suchten den Duft seiner Wälder in den Lüften zu erspähen, und erfuhren zuweilen, nach langem Exil, durch ein Todesurtheil, daß ihre Feinde wenigstens sie nicht vergessen hatten.
»O Erde! von Blut und Thränen getränkte Erde! Du hörst nie auf, Blumen und Früchte hervorzubringen. Bist du denn ohne Mitleid für den Menschen, und kehrt sein Staub in deinen mütterlichen Schooß zurück, ohne daß er ihn erzittern macht?«
Hier unterbrach sich Corinna, um einige Augenblicke zu ruhen. Die Anwesenden huldigten ihr mit Zweigen von Myrten und Lorbeer, die sie zu ihren Füßen niederlegten. Des Mondes weiches, reines Licht lag verklärend auf ihren Zügen; der kühle Meereswind trieb ihr Haar in malerische Unordnung; die Natur hatte offenbar ein Wohlgefallen daran, sie zu schmücken. Aber Corinna ward jetzt von tiefer Erschütterung überwältigt; als ihr Blick über diese entzückenden Gefilde, diesen wunderbar-herrlichen Abendhimmel schweifte, endlich an Oswald hing, der jetzt noch da war, und vielleicht nicht immer da sein werde, kamen Thränen in ihre Augen. Das Volk selbst, das ihr eben so lauten Beifall gezollt, nahm ihre Bewegung mit Ehrfurcht hin, und in tiefstem Schweigen erwarteten Alle gespannt ihre nächsten Worte, die ihnen das, was sie fühlte, mittheilen sollten. Sie präludirte längere Zeit auf ihrer Laute, und dann die achtzeilige Strophe nicht wieder aufnehmend, ließ sie in freier, selten absetzender Form ihr innerstes Gefühl ausströmen.
»Auch einige Erinnerungen an großes Herzeleid, auch einige Frauennamen, rufen Euer Mitgefühl an. Hier auf dieser Stätte, hier zu Misene, nahm Cornelia, die Wittwe des Pompejus, ihre edle Trauer mit in den Tod. An diesen Ufern beweinte Agrippina lange den Germanicus, bis derselbe Mörder, welcher ihr den Gatten raubte, sie würdig hielt, diesem zu folgen. Die Insel Nisida war Zeuge von Brutus' und Porcia's Abschied.
»So sahen die Frauen und Freundinnen jener Helden den Mann, den sie angebetet, zu Grunde gehen. Vergeblich folgten sie lange seinen Schritten, es kam doch der Tag, wo er ihnen entrissen ward. Porcia tödtet sich, Cornelia drückt die geheiligte Urne an die Brust, als werde sie ihrem Jammer Antwort geben, Agrippina erzürnt Jahrelang erfolglos den Mörder ihres Gatten; und diese unglückseligen Gestalten, den Schatten gleich, die an den Gestaden des ewigen Flusses umherirren, sie seufzen vergeblich nach dem jenseitigen Land. In müder langer Einsamkeit schwanken sie dahin; sie blicken fragend, ungläubig in diesem Schweigen umher; sie suchen am gestirnten Himmel, auf dem großen unendlichen Meere, in der ganzen Natur nach einer Erinnerung an den Verlorenen, nach einem Klang, wie des Geliebten Stimme, und finden ihn nimmer und nimmermehr!
»O Liebe! Du hehre Gewalt! Geheimnißvolle Begeisterung des Menschenherzens, die du Poesie, Religion und Heroismus in dir vereinigest, – was geschieht, wenn das Schicksal uns von dem Manne trennt, der das Geheimniß unserer Seele besaß, der uns das Leben erst gegeben, das wahre, das himmlische Leben! Was geschieht, wenn Entfernung oder Tod ein Weib auf Erden vereinsamen? Es sinkt dahin – es stirbt. Wie oft mögen die Felsen hier jenen verlassenen Wittwen als fühllose, kalte Stützen gedient haben – den einst so hoch beglückten Frauen, die sich sonst an das Herz eines Freundes, auf den Arm eines Helden lehnen durften!
»Vor uns liegt Sorrent; dort wohnte die Schwester des Tasso. Bei ihr, deren Leben in Dunkelheit verstrich, suchte und fand er ein Asyl vor der Ungerechtigkeit der Fürsten; langes Dulden hatte ihn fast der Vernunft beraubt, nur sein Genius blieb ihm, nur die Kenntniß von den göttlichen Dingen; alle irdischen Erinnerungen waren ihm verworren, verdorben. So durchirrt das Genie, entsetzt, zurückgestoßen von der Oedigkeit seiner Umgebung, und ihr bang entfliehend, das Weltall. Es findet in der Natur kein Echo mehr, und dieses leidensvolle Unbehagen eines Gemüths, dem diese Welt zu wenig Lebenslust, zu wenig Begeisterung, keine Hoffnung mehr giebt, – der Alltagsmensch hält es für Irrsinn!
»Das Verhängniß«, fuhr Corinna in immer steigender Bewegung fort, »das Verhängniß verfolgt die hochgestimmten Seelen, vor Allen die Dichter, deren Einbildungskraft aus der Fähigkeit zu lieben und zu leiden ihre Nahrung zieht. Sie sind wie Verbannte, aus höherer Sphäre vertrieben, und des Allmächtigen Güte durfte nicht Alles für diese kleine Schaar Erwählter oder Verstoßener anordnen. Was meinten die Alten, wenn sie mit so viel Entsetzen vom Fatum sprachen? Was vermag es, dieses Fatum über niedere, alltägliche Menschen? Sie treiben mit der Zeit hinweg, sie durcheilen fügsam die ausgetretene Lebensbahn. Die Priesterin aber, deren Mund ihnen des Orakels Sprüche verkündete, sie wird betroffen von furchtbarem Geschick. Ich weiß nicht, welche unwiderstehliche Gewalt das Genie ins Unglück hinabreißt; wenn es dem Gesange der Sphären lauscht, den ein sterbliches Ohr nicht mehr zu erfassen vermag, wenn es in ferne, geheimnißvolle Gefühlswelten dringt, die Andern unbekannt, wenn es überfließt von göttlicher Begeisterung, dann strauchelt es wohl leichter auf dem Pfad zu irdischem Glück.
»Erhabener Schöpfer dieser schönen Welt, beschütze uns! Unserem Aufschwunge fehlt die Kraft, unsere Hoffnungen sind trügerisch. Die Leidenschaften beherrschen uns mit wilder Tyrannei und lassen uns weder Freiheit noch Ruhe. Was wir morgen thun, entscheidet vielleicht über unser Loos; vielleicht sprachen wir gestern ein Wort, das keine Reue, keine Noth zurückrufen kann. Wenn unser Geist sich zu den höchsten Gedanken erhebt, fühlen wir, wie auf dem Gipfel hoher Bauwerke, einen Schwindel, der das unten Liegende vor unserem Blicke verwirrt. Aber auch dann selbst, auch dann verliert er sich nicht, der entsetzliche Schmerz, er verflüchtigt sich nicht in die Wolken; er zertheilt sie – durchbricht sie – und steigt auf zu dir, o Gott! Und ach, welch Urtheil will er uns verkünden!«
Bei diesen Worten zog tödtliche Blässe über Corinnens Angesicht; ihre Augen schlossen sich, sie wäre umgesunken, wenn Lord Nelvil nicht schon an ihrer Seite gewesen wäre, um sie zu stützen.