Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Dreizehntes Buch: Der Vesuv und die Umgegend von Neapel.

Drittes Kapitel

Corinna hatte beschlossen, wahrend der acht Tage des erhaltenen Aufschubes für Lord Nelvil eine Festlichkeit zu veranstalten, die wohl mehr den Charakter einer ernsteren Feier tragen sollte, denn sie knüpfte die schwermüthigsten Empfindungen an dieselbe. Wenn sie Oswalds Charakter prüfend übersah, war es fast unmöglich, sich über den Eindruck zu täuschen, den er von dem, was sie ihm zu entdecken hatte, empfangen werde. Man mußte Corinna als Dichterin, als Künstlerin beurtheilen, um ihr verzeihen zu können, daß sie der Begeisterung und der Kunst ihren hohen Rang, ihre Familie und ihr Vaterland geopfert hatte. Lord Nelvil hatte ohne Frage den erforderlichen Geist, um das Genie und seinen Reichthum gehörig zu würdigen; aber er war der Meinung, daß man die Verhältnisse des socialen Lebens über alles Andere zu stellen habe, und daß die erste Pflicht der Frau, und selbst des Mannes, nicht die Geltendmachung geistiger Fähigkeiten, sondern die Erfüllung der Jedem auferlegten Pflichten sei. Die nagenden Gewissensqualen, welche er erlitten, als er von der sich selber vorgeschriebenen Bahn abgewichen war, hatten seine strengen, ihm gleichsam angeborenen moralischen Grundsätze nur noch befestigt. Die Sitten, die Anschauungen seiner Heimat, eines Landes, in welchem man sich bei der gewissenhaftesten Hochachtung für Pflicht und Gesetz so wohl befindet, hielten ihn in Banden, nach mancher Richtung hin in recht engen Banden, und die, aus tiefem Kummer sich erzeugende Muthlosigkeit liebt Alles, was alltägliches Herkommen ist, was sich von selbst versteht, was keine neuen Entschlüsse, keine Entscheidung verlangt, die den uns vom Schicksal gegebenen Verhältnissen entgegen stände.

Oswalds Liebe zu Corinna hatte zwar seine ganze Empfindungsweise umgestaltet; den Charakter aber vermag die Liebe nicht völlig zu verändern, und Corinna erkannte diesen Charakter noch, aus der Leidenschaft heraus, von welcher er besiegt worden war. Vielleicht sogar war Lord Nelvil grade durch diesen Gegensatz zwischen seiner Natur und seinem Gefühl so anziehend; ein Gegensatz, der all seinen Liebesbeweisen nur noch höhern Werth verlieh. Nun aber nahte der Augenblick, wo die vorübergehenden Besorgnisse, die Corinna stets zurückgedrängt, und die sich nur gleich einem leichten, träumerischen Nebel über die verflossenen Glückestage gebreitet hatten, eine festere Gestalt annehmen, wo sie über ihr Leben entscheiden sollten. Ihre für das Glück geborene, an die holdbeweglichen Eindrücke des Talents und der Poesie gewöhnte Seele erstaunte über die Zähigkeit, über die herbe Unveränderlichkeit des Schmerzes; ihr ganzes Wesen bebte unter einer Erschütterung, wie sie Frauen, die seit lange zu leiden wissen, wohl kaum mehr fühlen.

Indeß betrieb sie mitten in dieser Herzensangst heimlich die Vorbereitungen zu einem glänzenden Tag, den sie noch mit Oswald durchleben wollte; so vereinigte sich in ihr auf romantische Weise Einbildungskraft mit Gefühl. Die in Neapel anwesenden Engländer, wie auch einige Neapolitaner und ihre Damen, wurden von ihr eingeladen, und der Morgen des festlichen Tages – des letzten vor einem Geständnisse, das auf immer ihr Glück zerstören konnte, – sah Corinna in einer Erregtheit, die ihren Zügen einen ganz neuen seltsamen Ausdruck gab. Unachtsamen Augen konnte dieser für lebhafte Freude gelten; Lord Nelvil jedoch errieth aus ihren raschen, etwas plötzlichen Bewegungen, aus dem nirgend haftenden Blick, was in ihrer Seele vorging. Umsonst suchte er sie durch die liebevollsten Versicherungen zu beruhigen. »Sie werden mir das Alles nach zwei Tagen wiederholen, wenn Sie dann noch so denken«, sagte sie; »jetzt thun Ihre gütigen Worte mir nur weh.« Und sie entfernte sich von ihm.

Als der Tag sich neigte, hielten die Equipagen der eintreffenden Gäste vor Corinnens Thür; wenn der Meereswind sich erhebt und mit kühlem Hauch die Luft erfrischt, erst dann ist es hier möglich, die freie Natur zu genießen. Bei der von Corinna und ihrer Gesellschaft unternommenen Promenade machte man zueist am Grabe Virgils Halt. Dieses Grab hat den schönsten Platz auf der Welt, denn es schaut auf den Golf von Neapel hinaus. Es ist so viel Ruhe, so viel Großartigkeit in dem Anblick, daß man glauben möchte, Virgil selber habe sich den Ort erwählt. Der einfache Vers aus der Georgica, dem Gedicht über den Landbau, hätte hier als Grabschrift dienen können:

Illo Virgilium me tempore dulcis alebat
Parthenope – – – – – – –[1]

Seine Asche ruht hier noch, und sein Andenken zieht die Huldigungen des Weltalls nach dieser Stätte. Das ist Alles, was der Mensch dem Tode entreißen kann.

Petrarca hat einen Lorbeerbaum auf dieses Grab gepflanzt, und Petrarca ist nicht mehr, und der Lorbeer stirbt. Die um Birgits Gedächtniß willen massenhaft hieher wallfahrtenden Fremden haben ihre Namen auf die Mauer geschrieben, welche die Urne umgiebt. Von diesen dunklen Namen, die nur da zu sein scheinen, um den Frieden solcher Einsamkeit zu stören, fühlt man sich belästigt. Nur Petrarca war würdig, einen dauernden Beweis seiner Anwesenheit an diesem Grabe zurückzulassen. Schweigend steigt man von der ernsten Zufluchtsstätte des Ruhms hinab, und erinnert sich der Gedanken, der Anschauungen, welche der Genius des Dichters auf immer geheiligt hat. Das ist wie eine hohe Unterredung mit den kommenden Geschlechtern! Eine Unterredung, die von der Schriftstellerkunst immer fortgesetzt, immer erneuert wird. O Todesnacht, was bist du denn? Die Gedanken, die Gefühle, die Worte eines Menschen sind vorhanden, und was er selber war, sein Ich, das sollte nicht mehr sein? Nein, ein solcher Widerspruch ist unmöglich in der Natur.

»Oswald«, sagte Corinna zu Lord Nelvil, »die Eindrücke, welche Sie hier empfangen, können Sie nicht eben in festliche Stimmung versetzen; aber«, fügte sie mit einer gewissen Exaltation hinzu, »aber wie viele Feste feierte man nicht über Gräbern!« – »Meine Freundin«, antwortete Oswald, »was ist das für ein heimlich Leid, das Sie bewegt? Vertrauen Sie mir doch; ich danke Ihnen die sechs schönsten Monate meines Lebens; vielleicht gelang es auch mir über Ihre Tage einiges Glück zu breiten; o, und das Glück vergessen, das wäre Gottvergessenheit! Wer denn würde sich selbst um das stolze Entzücken bringen, einem Geiste wie dem Ihren zu genügen? Es ist schon so süß, dem Geringsten sich nothwendig zu fühlen; aber einer Corinna unentbehrlich sein, dies, glauben Sie mir, dies ist zu viel Glorie, zu viel Seligkeit, als daß man ihr freiwillig entsagen möchte!« »Ich glaube Ihren Versicherungen«, erwiderte Corinna, »aber giebt es denn nicht Augenblicke, wo etwas Gewaltsames, Grausiges über uns kommt, das unser Herz schneller, angstvoller schlagen läßt?«

Durch die Höhle des Pausilippus fuhren sie mit Fackeln; selbst um die Mittagsstunde hat man sich derselben zu bedienen, da die Straße fast in der Länge einer Viertelmeile den Berg durchbohrt, so daß in ihrer Mitte man kaum das Tageslicht an den beiden Enden hereinschimmern sieht. Ein ungemein starker Wiederhall begleitet die Fahrt durch dies lange Gewölbe; das Pferdegetrappel, das Geschrei ihrer Führer zerstückeln hier mit ihrem betäubenden, vielfach verdoppelten Geräusch jeden zusammenhängenden Gedanken. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit flog Corinnens Wagen dahin, und dennoch war sie nicht zufrieden gestellt. »Wie langsam das geht! Theurer Oswald, sorgen Sie doch für schnelleres Fahren«, sagte sie ungeduldig zu Lord Nelvil. »Und warum nun wieder diese Hast, Corinna?« fragte Oswald, »wenn wir sonst zusammen waren, suchten Sie nicht die Stunden abzukürzen, sondern genossen sie.« – »Ja, aber jetzt«, entgegnete Corinna, »jetzt muß Alles sich entscheiden, muß Alles zu einem Ende drängen, und ich möchte Alles beeilen, wäre es auch mein Tod!«

Mit herzlicher Freude begrüßt man am Ende der Höhle das Tageslicht und die Natur; und welche Natur ist's, die jetzt vor unsern Blicken lacht! So oft fehlen der italienischen Landschaft die Bäume; hier sind sie im Ueberfluß; und grade hier ist der Boden mit so viel Blumen und Kräutern bedeckt, daß jene Wälder, die der schönste Schmuck anderer Gegenden sind, hier schon zu entbehren wären. Bei Tage ist es in Neapel, wegen der entsetzlichen Hitze, selbst im Schatten unmöglich lange draußen zu verweilen; erst der Abend bringt von allen Seiten erquickende Kühlung, und in seinem weicheren Licht bietet sich das von Himmel und Meer umschlossene Land in weiter Ausdehnung dem entzückten Auge dar. Mit Vorliebe wählen die Maler besonders Neapels Landschaften für ihren Pinsel; denn die Durchsichtigkeit der Luft, der wechselnde Charakter der Gegenden, die wunderlichen Formationen der Gebirge sind im südlichen Italien hervorragende Eigenthümlichkeiten. Die Natur zeigt in diesem Lande eine Größe, eine Originalität, die von keinem Zauber anderer Gegenden übertroffen werden. »Ich führe Sie an den Ufern des Sees von Averno, nahe beim Phlegethon, vorüber«, sagte Corinna zu ihrer Begleitung, »und hier, vor Ihnen, ist der Tempel der Sibylle von Cumä. Wir werden auch die berühmte Stätte berühren, welche man unter dem Namen der Wonnen von Bajä kennt; doch rathe ich Ihnen, sich dort nicht weiter aufzuhalten. Wenn wir auf einem Punkt angekommen sein werden, wo das Auge die großen uns hier umringenden Erinnerungen der Geschichte und Poesie gleichzeitig zu übersehen vermag, wollen wir sie auch mit dem Geiste zusammenfassen.«

Auf dem Kap Misene hatte Corinna Vorbereitungen zu Tanz und Musik treffen lassen; sie waren mit künstlerischem Sinn geordnet. Die Matrosen von Bajä, in bunte, abstechende Farben gekleidet, und mehrere Orientalen, die einem im Hafen liegenden levantischen Schiffe angehörten, tanzten mit Bäuerinnen von den benachbarten Inseln Ischia und Procida, deren Trachten noch heute die griechische Abkunft verrathen. In einiger Entfernung erhob sich dann und wann ein vollendet ausgeführter mehrstimmiger Gesang, und auch die im Grünen verborgene Instrumentalmusik sendete in schmachtendem Echo ihre Töne von Fels zu Fels dem Meere zu, auf dessen silberner Fläche sie endlich im Abendhauch dahinstarben. Die entzückende Luft, welche man athmete, durchdrang die Seele wie ein Freudegefühl, das sich aller Anwesenden, selbst Corinnens bemächtigte. Diese wurde jetzt gebeten, sich in den Tanz der Landmädchen zu mischen, und sie willigte auch mit Vergnügen ein. Aber kaum hatte sie begonnen, als die düstersten Gedanken ihr auch schon solche Heiterkeit im abschreckendsten Lichte zeigten. Schnell verließ sie den anmuthigen Reigen und suchte, wie um auch den Klängen der Musik zu entfliehen, das äußerste Ende des Vorgebirges auf. Dort setzte sie sich nieder; Oswald ging ihr bald nach, doch hatte er sie kaum erreicht, da folgte ihm auch schon die übrige Gesellschaft, um Corinna zu bitten, sie möge an dieser schönen Stätte zur Freude Aller improvisiren. Willenlos und völlig verwirrt, ließ sie sich zu einem kleinen Hügel, wo man schon ihre Laute hingeschafft hatte, führen, ohne daß sie über das, was man von ihr erwartete, nachzudenken im Stande war.


[1] Anmerkung des Verlages: Zu jener Zeit empfing mich die sanfte Parthenope.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12