Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Zehntes Buch: Die Charwoche.
Viertes Kapitel
Der Charfreitag gewährte Lord Nelvil all jene religiöse Erhebung, welche in den vorhergehenden Tagen nicht empfunden zu haben er bedauerte. Corinnens klösterliche Zurückgezogenheit nahte sich ihrem Ende, und er erwartete sehnlich, sie wiederzusehn. Ein süßes, sicheres Hoffnungsgefühl stimmt gut zur Andacht; nur das gekünstelte Weltleben zieht von ihr ab. Oswald begab sich nach der sixtinischen Kapelle, um das berühmte, von ganz Europa gepriesene Miserere zu hören. Er trat noch beim Tageslicht ein, und sah Michel Angelo's wundervolles jüngstes Gericht, in welchem sich die ganze furchtbare Gewalt dieses Gegenstandes mit dem erhabenen Schöpfertalent des Künstlers vereinigt. Michel Angelo hat den Dante dabei als Vorbild genommen, und stellt hier, wie es auch der Dichter thut, dem Heiland mythologische Gestalten gegenüber; doch macht er fast immer aus dem Heidenthum das böse Princip; Dämonen charakterisiren die heidnischen Fabeln. An der Wölbung der Kapelle sieht man die von den Christen als Zeugen herbeigerufenen Propheten und Sibyllen.[1] Eine Schaar Engel umgiebt sie, und das ganze so bevölkerte Gewölbe scheint uns den Himmel näher zu bringen. Doch dieser Himmel ist düster und furchtbar; kaum dringt der Tag durch die Scheiben, welche eher Schatten als Licht auf das Gemälde werfen. Die Dunkelheit steigert noch die imposante Größe von Michel Angelo's kühnen Zeichnungen; Weihrauchdüfte erfüllen die Luft, und Alles bereitet auf den tiefsten Eindruck vor, den, welchen man von der Musik empfangen soll.
Während Oswald in die Bewunderung dieser großen Umgebung ganz versunken war, erblickte er plötzlich auf dem Frauenchor und hinter dem Gitter, welches dieses von den Männern schied, Corinna, die Ersehnte! Corinna, bleich, in schwarzen Gewändern und, als sie Oswald gewahrte, so zitternd, daß sie, um nur weiterschreiten zu können, genöthigt war, sich an dem Geländer zu halten. In diesem Augenblicke begann das Miserere.
Die für diesen alten Kirchengesang vortrefflich geschulten Stimmen kommen von einer am Ansatz der Deckenwölbung befindlichen Gallerie herab. Man sieht die Sänger gar nicht, die Töne scheinen in der Luft zu schweben. Der Tag sinkt mehr und mehr, und es wird dunkler in der Kapelle. Das war nicht mehr die leidenschaftliche, bestrickende Musik, welche Oswald und Corinna acht Tage vorher gehört hatten. Diese Klänge mahnten zu irdischem Entsagen. Corinna sank auf die Kniee und betete in tiefster Andacht; selbst Oswald entschwand ihren Gedanken, die jetzt ganz nach innen gewendet waren. In solcher Stunde edelster Erhebung sterben zu können, wenn die Seele sich gern und schmerzlos vom Körper trennen würde, dünkte ihr süß. Wenn jetzt ein Engel das Gefühl und das Denkvermögen, diese Götterfunken in der Menschenseele, auf seinen Flügeln wieder emportrüge zu ihrem Urquell, wäre dann nicht der Tod nur noch ein freier Entschluß des Herzens, ein heißes und erhörtes Gebet?
Das Miserere, d. h. »Erbarme dich unser«, ist ein Psalm, dessen Verse wechselweise halb gesungen und halb gesprochen werden. Es erklingt zuerst eine himmlische Musik, wonach der folgende Vers mit dumpfer, fast rauher Stimme gemurmelt wird. Es ist wie die Antwort harter Menschen an die guten, – es ist wie des Lebens starre Wirklichkeit, die das ideale Wünschen großherziger Menschen verkommen läßt, es unbarmherzig zurückstößt. Hebt dann dieser sanfte Chor wieder an, athmet man auch wieder hoffend und erleichtert auf, und bei dem nun folgenden Recitativ erfaßt nochmals kalter Schauer das erschrockene, verzagte Menschenherz. Endlich laßt das letzte Stück, das edler noch und erschütternder als die vorhergehenden ist, ein süßes, reines Gefühl zurück. Wolle Gott uns ein solches verleihen, ehe wir sterben!
Man löscht die Kerzen, die Nacht rückt vor, die Gestalten der Propheten und Sibyllen erscheinen nur noch wie dämmernde Phantome. Tiefes Schweigen! Das gesprochene Wort würde dieser innerlichsten Seelenstimmung ein unerträgliches Mißbehagen verursachen, und wenn der letzte Ton erstorben ist, geht Alles leise und langsam hinaus, als scheue man es, sich nun wieder an die niederen Weltinteressen zu verlieren.
Corinna folgte der Procession nach dem Dom von St. Peter, der zu dieser Stunde nur von einem einzigen, leuchtenden Kreuz erhellt ist; dieses einsame, durch die erhabene Dunkelheit des ungeheuren Raumes weithinschimmernde Schmerzenszeichen ist das edelste Symbol des Christenthums inmitten der Finsternisse des Lebens. Die Standbilder der Grabstätten treten in seinem Lichte blaß und schattenhaft hervor; neben ihnen erscheinen die Gestalten der Lebenden wie Pygmäen. Unter dem Kreuz, da, wo sein Licht den Raum am meisten erhellt, kniet der Papst in weißen Gewändern, und mit ihm alle Cardinäle; sie verharren betend und in tiefstem Schweigen wohl eine halbe Stunde lang. Es ist ein erschütternder Anblick: man weiß nicht, was sie erflehen, man hört ihr leises Klagen nicht; doch sie sind alt; sie gehen uns voran in das Grab. Wenn wir einst in den ernsten Reihen jener Vordermänner stehen – wolle Gott unser Alter so adeln, daß des Lebens letzte Tage die ersten unserer Unsterblichkeit seien!
Auch Corinna, die schöne und junge Corinna, kniete in der Nähe dieser Priester; das sanfte Licht verklärte ihre blassen Züge und milderte den Glanz ihrer Augen. Oswald betrachtete sie wie ein hinreißendes Bild, wie ein geliebtes Wesen. Nach beendigtem Gebet erhob sie sich. Lord Nelvil wagte noch nicht, sich ihr zu nahen, da er ihre tiefe, fromme Sammlung achtete. Aber sie kam ihm mit entzückter Freude entgegen, und es war, als breite sich ein Glückesschein über ihr ganzes Wesen aus. Heiter-lebhaft empfing sie die begrüßenden Freunde, und die Peterskirche glich nun plötzlich einer öffentlichen Promenade, wo man sich begegnet, um von seinen Angelegenheiten und Vergnügungen zu sprechen.
Oswald war von dieser Flüchtigkeit, die so schnell die verschiedensten Eindrücke einander folgen läßt, überrascht, und obgleich Corinnens Frohsinn ihn beglückte, war er doch betroffen, daß er von dem Ernst des Tages keine Spur mehr an ihr fand. Wie er sie so inmitten eines Kreises von Bekannten sah, eifrig sprechend, und ihrer großartigen Umgebung scheinbar kaum noch gedenkend, kam ihm über die Wandelbarkeit, deren sie fähig sein möchte, doch ein Gefühl des Mißtrauens. Sie errieth seine Empfindungen sogleich, und sich schnell von jener Gruppe trennend, ergriff sie Oswalds Arm, um den Freund in der Kirche umherzuführen. »Ich habe Ihnen noch nie von meiner Religion gesprochen«, sagte sie, »erlauben Sie mir das heute zu thun; vielleicht kann ich damit die Wolken verscheuchen, die eben in Ihrem Geist aufgestiegen sind.«
[1] Anmerkung des Verlages: Teste David cum Sibylla