Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Neuntes Buch: Das Volksfest und die Musik
Zweites Kapitel
Oswald hatte, seitdem er den Vater verloren, noch nicht den Muth gehabt, Musik zu hören. Er fürchtete diese weichen Harmonien, die einer schwermüthigen Stimmung so wohlthätig sind, dem wahren Kummer aber das tiefste Weh bereiten; Musik erweckt die schlummernden Erinnerungen! Wenn Corinna sang, hörte Oswald nur ihre Worte, sah er nur den Ausdruck ihrer Züge, war er einzig nur mit ihr beschäftigt. Vereinigten sich aber Abends auf der Straße mehrere Stimmen, die Weise irgend eines großen Meisters zu singen, – und dies geschieht häufig in Italien, – dann versuchte er anfangs wohl, ihnen zu lauschen, doch vermochte er es nie lange zu ertragen, weil er in eine tiefe, unklare Erregung gerieth, die alle seine Schmerzen wieder aufrührte. Nun aber sollte im Schauspielhause ein ausgezeichnetes Concert veranstaltet werden, bei welchem die ersten Sänger Roms mitzuwirken dachten, und Corinna bat Lord Nelvil, sie dorthin zu begleiten; er willigte ein, in der Hoffnung, daß die Gegenwart der Geliebten seine Empfindungen besänftigen werde.
Als Corinna in ihre Loge trat, wurde sie sogleich bemerkt, und da zu der Theilnahme, welche man immer schon für sie hegte, sich nun noch die glänzende Erinnerung an ihre Krönung auf dem Kapitol gesellte, wurde sie mit stürmischen Beifallsbezeigungen empfangen. Von allen Seiten rief man: »Es lebe Corinna!« und die von der allgemeinen Begeisterung mit ergriffenen Musiker stimmten Siegesfanfaren an; denn welcher Art auch ein Triumph sei, er ruft dem Menschen immer Krieg und Kampf zurück. Corinna war von diesem einstimmigen Zeugniß wohlwollendster Bewunderung tief bewegt. Die Musik, die ihr zujauchzenden Menschen, das Bravorufen, und jener nicht zu beschreibende Eindruck, welchen immer eine große, in den Ausdruck eines Gefühls zusammenstimmende Menschenmenge hervorbringt, versetzten sie in ernste Rührung, und wenn sie diese auch zu bekämpfen suchte, so füllten sich doch ihre Augen mit Thränen, und über ihrem pochenden Herzen hob und senkte sich das faltige Gewand. Oswald empfand darüber Eifersucht, und sich ihr nähernd sagte er halblaut: »Man darf Sie solchen Erfolgen nicht entreißen wollen, Madame; da sie Ihr Herz so in Aufruhr bringen können, gelten sie Ihnen wohl mehr, als die Liebe.« – Und ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er sich zurück, um am äußersten Ende der Loge Platz zu nehmen. Sie war tief verletzt von seinen Worten; er raubte ihr damit alles Vergnügen an einem Erfolge, welcher sie eben deshalb so lebhaft erfreute, weil er Zeuge davon war.
Concert begann. Wer den italienischen Gesang nicht kennt, hat auch von der Musik keine Vorstellung. Es liegt eine Weichheit, eine Biegsamkeit in diesen Stimmen, die uns an der Blumen Duft, an des Himmels Reinheit erinnern. Die Natur hat diese Musik für das Klima gemacht; die eine ist wie ein Reflex des andern und man fühlt auch hier: die Welt ist das Werk eines einzigen Gedankens, der in tausendfach verschiedener Gestalt immer wieder zur Erscheinung kommt. Seit Jahrhunderten lieben die Italiener die Musik mit Leidenschaft. Dante, in seiner Dichtung vom Fegefeuer, begegnet einem der besten Sänger seiner Zeit; er bittet ihn, eines seiner köstlichen Lieder zu singen, und die entzückten Seelen vergessen sich, und lauschen ihm, bis ihr Hüter sie wieder ruft. Christen, wie Heiden, hielten die Macht der Musik bis über den Tod hinausreichend. Von allen schönen Künsten wirkt diese am unmittelbarsten auf das Gemüth. Die anderen erfüllen es mit dieser oder jener Vorstellung, und nur die Musik allein wendet sich an des Daseins innersten Quell, und vermag eine vorhergehende Seelenstimmung ganz umzuwandeln. Was man von der göttlichen Gnade sagt, daß sie plötzlich die Herzen umschaffe, ist in irdischem Sinne auch auf die Musik anzuwenden, und die aus ihr aufsteigenden Ahnungen eines zukünftigen Lebens sind nicht durchaus abzuweisen.
Selbst die Heiterkeit der profanen Musik ist nicht von niederer Art, und läßt keineswegs die Fantasie unberührt. Auf dem Grunde des von ihr geschaffenen Frohsinns ruhen oft poetische Gedanken, angenehme Träumereien, welche der gesprochene Scherz nie zu erzeugen vermöchte. Die Musik ist ein so schnell vorüberschwebendes Vergnügen, man fühlt es so mit dem Genuß entrinnen, daß Schwermuth sich auch in ihre heitern Weisen mischt; dafür aber gesellt sie auch ihrem Ausdruck des Schmerzes ein Gefühl schwärmerischen Behagens bei. Das Herz pocht schneller bei ihren Rhythmen; des Taktes Regelmäßigkeit giebt uns eine gewisse Befriedigung, mahnt an die Flüchtigkeit der Zeit, mahnt, daß man sie genießen soll! Es giebt keine Leere, kein Schweigen mehr um uns, in uns; der Sinn ist erfüllt, das Blut strömt rascher, wir fühlen neues, thätiges Leben in uns!
Die Musik steigert das Vertrauen zu unseren Fähigkeiten; unter ihrem anfeuernden Einfluß fühlt man sich kühn bereit zu edlem Thun. Mit ihr geht man voller Begeisterung in den Tod. Sie hat die schöne Ohnmacht, nichts Niedriges, keine Arglist, keine Lüge ausdrücken zu können. Das Unglück selbst redet in ihrer Sprache ohne Bitterkeit, ohne Zerrissenheit, ohne Zorn. Sanft hebt sie die Last hinweg, welche der nur allzu oft auf dem Herzen trägt, der ernst und groß zu lieben weiß, – jene Last, deren Druck uns so gewohnt wird, daß er sich endlich ganz mit dem Gefühl des Daseins verwächst. Wenn uns Musik umgiebt, ist es, als ständen wir nahe davor, des Schöpfers Absicht zu erfassen, das Geheimniß unseres Lebens zu durchdringen. Nicht Worte vermögen die tiefe Innerlichkeit dieser Stimmung zu schildern, denn Worte schleppen sich nur den ursprünglichen Eindrücken nach, wie eine prosaische Übertragung dem dichterischen Redeschwung. Nur das Auge kann einigermaßen eine Vorstellung davon geben, nur jener Blick des Geliebten, wenn er sich lange auf uns herabsenkt, uns allmählig das Herz durchdringt, daß wir die Augen niederschlagen müssen und uns schüchtern dem heißen Glück entziehen möchten: wie ein Lichtstrahl aus höherer Welt das sterbliche Wesen verzehren würde, das sich unterfinge, keck zu ihm aufzuschaun.
In dem zweistimmigen Satz der großen Meister bringt uns das wundervolle Sichineinanderfügen der Stimmen oft zu tiefer Rührung, die indeß leicht in ein bestimmtes Schmerzgefühl übergreift. Das Wohlgefühl ist fast zu köstlich, und die Seele vibrirt darunter, gleich den zu rein gestimmten Saiten eines Instruments, welche ein zu vollkommener Einklang zerreißt.
Während des ersten Theiles des Concerts hatte sich Oswald beständig von Corinna fern gehalten; als das Duo jetzt in süßem mezza voce, und begleitet von weichen Blasinstrumenten, einsetzte, drückte sie, voll inniger Bewegung, ihr Gesicht in das Taschentuch; sie weinte ohne Schmerz, sie liebte ohne Furcht. Oswalds Bild war wohl wie sonst in ihrem Herzen, aber die edelste Begeisterung verklärte dieses Bild. Verworrene Gedanken stürmten durch ihre Seele; sie hätte dieselben, um sie zu ordnen, erst mäßigen müssen. Ein Prophet, sagt man, habe in einer Minute sieben Regionen des Himmels durcheilt; wer so im Stande war, fühlend zu umfassen, was ein einziger Moment in sich zu schließen vermag, der hat sicher einst eine hohe Musik in der Nähe des Geliebten an sich vorüberziehen hören. Auch Oswald empfand diese Macht, sie drängte allmählig seinen Mißmuth zurück. Corinnens Rührung erklärte ja Alles, rechtfertigte Alles. Er näherte sich ihr leise und während des höchsten Aufschwunges dieser göttlichen Musik hörte sie ihn neben sich athmen. Es überwältigte sie; das höchste, tragische Pathos hätte sie nicht so erschüttern können, als dieses Gefühl heißer, zärtlicher Leidenschaft, das Beide gleichzeitig durchdrang, und das mit jedem Augenblick, mit jedem Ton zu wachsen schien. Der Text bedeutet meist nicht viel bei solcher Wirkung, von Zeit zu Zeit geben wohl einige Worte von Liebe und Tod den Gedanken eine Richtung; aber häufiger schmiegt sich die Musik in ihrer Unbestimmtheit den Regungen der Seele an, und Jeder glaubt in dieser Melodie, wie in dem klaren, unerreichbaren Gestirn der Nacht, das Bild seines irdischen Wünschens zu finden.
»Führen Sie mich hinaus«, sagte Corinna zu Lord Nelvil; »ich bin fast einer Ohnmacht nahe.« – »Was fehlt Ihnen?« fragte Oswald beunruhigt, »Sie sind blaß. Kommen Sie; Sie müssen ins Freie.« – Corinna, auf Oswalds Arm gestützt, fühlte, als ob ihre Kräfte dadurch wiederkehrten. Sie traten auf einen Balkon. »Mein theurer Oswald«, sagte Corinna bewegt, »ich werde Sie auf acht Tage verlassen.« – »Was meinen Sie?« unterbrach sie Oswald. – »Ich bringe alljährlich, beim Herannahen der Charwoche, einige Zeit in einem Kloster zu, um mich auf das Osterfest vorzubereiten«, erwiderte Corinna. Oswald hatte dieser Absicht nichts entgegen zu setzen; er wußte, daß sich um diese Zeit viele römische Damen den strengsten Andachtsübungen unterwarfen, ohne sich indessen für den Rest des Jahres ernstlich mit der Religion zu beschäftigen; aber es erinnerte ihn dies nun an Corinnens von der seinen abweichende Confession, die ihm nicht gestattete, mit ihr zu beten. »Ach!« rief er, »warum haben wir nicht Eine Religion! Warum nicht Ein Vaterland?« – Er hielt inne. »Sind denn unsere Seelen, und unsere Geister nicht aus Einem Vaterland?« entgegnete Corinna. »Das ist wahr«, antwortete Oswald; »doch fühle ich darum nicht weniger schmerzlich Alles, was uns trennt.« – Und diese bevorstehende, achttägige Abwesenheit bedrückte ihm das Herz so sehr, daß er den Abend hindurch, als Corinna's Freunde um sie versammelt waren, kein Wort mehr zu reden wußte.