Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Neuntes Buch: Das Volksfest und die Musik
Erstes Kapitel
Es war der letzte Tag des Karneval, des lärmendsten Festes im ganzen Jahre, an welchem das Volk in Rom von einem wahren Freudenfieber, von einem Taumel des Vergnügens ergriffen wird, wie er in anderen Ländern seines Gleichen nicht findet. Alles ist maskirt; kaum daß sich in den Fenstern hie und da Leute zeigen, die ohne Masken und folglich unthätige Zuschauer des Festes sind. Dieses muntere Treiben beginnt an einem bestimmten Tage, ohne daß irgend welche öffentlichen oder privaten Ereignisse des verflossenen Jahres leicht Jemand hinderten, an demselben Theil zu nehmen.
Hier hat man Gelegenheit, von der Einbildungskraft des Volkes eine Vorstellung zu gewinnen. Die italienische Sprache ist selbst in ungebildetem Munde noch voller Reiz. Alfieri sagte schon, daß er in Florenz auf den öffentlichen Markt gehe, um ein gutes Italienisch sprechen zu hören. Rom bietet den gleichen Vortheil, und diese beiden Städte sind vielleicht die einzigen der Welt, wo das niedere Volk so gut spricht, daß man dem geistreichen Scherz an allen Straßenecken begegnen kann.
Allerlei Ausgelassenheit, wie sie in den Harlekinsspäßen und in den komischen Opern herrscht, ist hier selbst unter Menschen ohne Erziehung sehr verbreitet; und in der Carnevalszeit, wo Uebertreibung und Caricatur nun einmal vorausgesetzt sind, spielen sich unter den Masken die drolligsten Scenen ab.
Oft stellt sich dieser Lebhaftigkeit ein grotesker Ernst entgegen, und man möchte dann glauben, daß ihre wunderlichen Costüme ihnen solch ungewohntes Würdegefühl verleihen. In ihren Verkleidungen verrathen sie mitunter eine überraschende Kenntniß der Mythologie, und die ältesten Sagen scheinen unter dem Volke noch frisch zu leben. Häufig spotten sie der gesellschaftlichen Zustände mit derbem und höchst originellem Witz. Diese Nation scheint in ihren Lustbarkeiten viel bedeutender, als in ihrer Geschichte. Die italienische Sprache beweist sich gegen alle Abstufungen der frohen Laune von bequemster Nachgiebigkeit, und es bedarf nur eines leichten Biegens oder Fallens der Stimme, um den Sinn der Rede zu veredlen oder herabzuziehen, um ihn abzuschwächen oder nachdrücklicher zu machen. Besonders hat sie in dem Munde der Kinder sehr viel Anmuth. Die Unschuld dieses Alters kontrastirt mit der neckischen Gewandtheit solchen Geschwätzes oft höchst zierlich.[1] Man kann wohl sagen, daß es eine Sprache ist, die von selbst redet, die fast immer scharf ausprägt, ohne daß man darauf Acht zu haben braucht, und die meistens geistreicher klingt, als der es sein mag, welcher sich ihrer bedient. In den Festen des Carneval ist weder Luxus, noch guter Geschmack. Durch ein gewisses, allgemeines Ungestüm werden sie Bacchanalien der Fantasie, aber auch nur der Fantasie; denn die Römer sind im Ganzen mäßig und höchst ernsthaft, diese letzten Carnevalstage eben ausgenommen. Man macht stets und nach allen Richtungen hin in dem Charakter der Italiener plötzliche Entdeckungen, und das trägt besonders dazu bei, ihnen diesen Ruf von List und Schlauheit zu geben. Freilich ist in diesem Lande, das so verschiedenes Joch getragen, die Verstellung zur Gewohnheit geworden; doch muß man den jähen Uebergang von einer Weise zur andern nicht immer diesem Fehler zuschreiben. Oft ist ihre so leicht entzündete Fantasie Ursache davon. Ein nur geistreiches, nur vernünftiges Volk hat es leicht, verständlich und vorsichtig zu sein; wogegen eines, das viel in der Einbildung lebt, sich oft fremd und unerwartet äußern mag. Die Einbildungskraft überspringt das Hinüberleitende, Vermittelnde; ein Nichts kann sie verletzen, und dann ist sie auch wieder gleichgültig, wo sie am meisten in Aufregung sein sollte; kurz, ihre schließlichen Eindrücke sind aus den äußeren Veranlassungen nicht immer vorauszusehen. So ist es z. B. nicht recht zu begreifen, welches Vergnügen die römischen Großen darin finden, stundenlang den Corso auf und ab zu fahren, sei dies nun während des Carneval oder zu anderer Zeit. Nichts bringt sie von dieser Gewohnheit ab. Ebenso giebt es auch Masken, die im lächerlichsten Costüm und mit der gelangweiltesten Miene von der Welt einherwandeln, die wie betrübte Hanswurste, wie düsterschweigende Polichinelle während des ganzen Abends kein Wort reden, aber doch, so zu sagen, ihr Carnevals-Gewissen auf diese Weise beruhigen wollen. Man sieht in Rom eine Art Masken, die es nirgend sonst giebt; das sind die, welche man den antiken Statuen nachbildet. Sie täuschen in der Entfernung durch vollendete Schönheit, und die Frauen verlieren oft sehr, wenn sie jene Masken abnehmen. Aber dennoch haben diese Nachahmungen, diese umherwandelnden Wachsgesichter, wie hübsch sie auch sind, durch ihre leblose Unbeweglichkeit etwas Scheuerregendes.
Die Vornehmen glänzen in den letzten Carnevalstagen durch großen Equipagen-Luxus; indessen liegt der eigentliche Reiz dieses Festes in dem Volksgedränge und der allgemeinen Verworrenheit. Es ist wie eine Erinnerung an die Saturnalien; alle Klassen vermischen sich; die ernsthaftesten Magistratspersonen fahren emsig, zuweilen mit einer rechten Amtsmiene, auf und nieder. Alle Fenster sind geschmückt, die ganze Stadt ist auf den Straßen, es ist im wahrsten Sinne ein Volksfest. Das Vergnügen des Volks besteht weder in Schauspielen, noch in Schmausereien, noch auch in der Pracht, von der es Zeuge ist. In dem Genuß von Wein und Speisen begeht es keine Maßlosigkeiten; dagegen liebt es diese, ihm gestattete Ungebundenheit, diesen scheinbar gleichgültigen Verkehr mit den Vornehmen, welche ihrerseits eine Lust darin finden, sich so in der Menge zu verlieren. Vor Allem ist es doch immer das Verfeinerte, das Ausgesuchte der Belustigungen, sowie die Sorgfalt und Vollendung der Erziehung, was zwischen den verschiedenen Klassen die Scheidewand aufrichtet. In Italien indeß ist die Trennung der Stände weniger scharf ausgeprägt; die natürliche Begabung und die Einbildungskraft Aller überwuchern hier selbst die Geistescultur der höhern Klassen. So hat man während des Carneval eine völlige Vermischung der Stände, der Lebensformen, der Bildungsgrade. Die Menge, das Rufen, die Witzesworte und die Confetti, mit welchen man die Vorüberfahrenden ohne Unterschied zu treffen sucht, schütteln hier alle sterblichen Wesen zusammen, werfen die ganze Nation bunt durcheinander, als gäbe es keine gesellschaftliche Ordnung mehr.
Mitten in diesen Tumult hinein geriethen jetzt Corinna und Lord Nelvil, als sie, Beide nachdenklich und in sich gekehrt, von Tivoli zurück kamen. Sie waren anfangs wie betäubt, denn nichts erscheint einem Gemüth, das eben ganz nach innen gewendet ist, unverständlicher, als diese thätige, lärmende Vergnüglichkeit. Auf der ließen sie halten, um das, neben dem Obelisken gelegene Amphitheater zu besuchen, von welchem aus man dem Rennen der Pferde zusehen kann. In dem Augenblick, als sie aus der Kalesche stiegen, wurden sie von Graf d'Erfeuil bemerkt, der Oswald sogleich bei Seite nahm, um mit ihm zu reden.
»Es ist nicht gut«, sagte er, »daß Sie sich mit Corinna so öffentlich zeigen, und vollends wie eben jetzt: allein miteinander vom Lande kommend. Sie setzen ihren Ruf auf's Spiel, und was wollen Sie nachher thun?« – »Ich glaube«, antwortete Lord Nelvil, »Corinna nicht damit zu kompromittiren, wenn ich die Neigung zur Schau trage, die ich für sie hege; doch wenn dem so wäre, würde ich nur zu glücklich sein, mit Aufopferung meines Lebens ...« – »Ach, was das Glücklichsein anbetrifft«, unterbrach Graf d'Erfeuil, »davon glaube ich nichts; man wird nur durch das Angemessene beglückt. Die Gesellschaft hat, was man auch sage, viel Macht über unser Glück, und was sie nicht billigt, soll man unterlassen.« – »So hätte man also nur darauf zu denken, was die Gesellschaft von uns will«, erwiderte Oswald, »und was man sonst denkt und fühlt, dürfte niemals als Richtschnur dienen! Wenn dies so nöthig wäre, wenn man unablässig einander nachahmen wollte, wozu dann noch Geist und Herz bei dem Einzelnen? Die Vorsehung hätte sich diesen Luxus sparen können.« – »Das ist Alles sehr gut«, erwiderte der Graf, »sehr schön gesagt und höchst philosophisch gedacht! Aber mit solchen Grundsätzen rennt man ins Verderben. Die Liebe vergeht, die öffentliche Meinung besteht. Sie halten mich für leichtsinnig, aber Sie werden mich im Leben nicht etwas thun sehn, das mir den Tadel der Welt zuziehen könnte. Man kann durch kleine Freiheiten, die man sich erlaubt, durch liebenswürdigen Scherz eine gewisse Unabhängigkeit der Ansichten an den Tag legen, aber nie darf man solche in seinen Handlungen zeigen; denn wenn die Sache ernsthaft wird ...« – »Ernsthaft!« rief Oswald, »aber das Ernsthafte daran ist ja eben die Liebe und das Glück.« – »Nein, nein«, entgegnete d'Erfeuil, »das wollte ich nicht sagen. Es giebt gewisse, nun einmal herrschende Convenienzen, denen man nicht entgegentreten darf, ohne für einen Sonderling zu gelten, für einen Mann – nun, Sie verstehen mich, – für Jemand, der anders ist, als die Anderen.« – Lord Nelvil lächelte; und ohne die mindeste Empfindlichkeit zog er den Grafen mit seiner leichtfertigen Strenge auf. Mit innerer Genugthuung empfand er, daß jener zum ersten Mal, und noch dazu in einer ihn so tief bewegenden Angelegenheit, ihn nicht beeinflusse. Corinna hatte aus der Entfernung den kleinen Hergang errathen. Aber Lord Nelvils Lächeln beruhigte sie, und dieses Gespräch, statt sie zu verstimmen, hatte Beide erst in die rechte Festlaune versetzt.
Der Wettlauf der Rosse sollte beginnen. Lord Nelvil erwartete davon etwas, den englischen Rennen Aehnliches, und er vernahm daher mit Verwunderung, daß es kleine Berberpferde seien, die man hier ganz frei, ohne Reiter laufen läßt. Dieses Schauspiel fesselt die Aufmerksamkeit der Römer im höchsten Grade. Sobald es anfängt, stellt sich die Menge in zwei langen Reihen zu beiden Seiten der Straße auf. Die eben noch mit Menschen überfüllte Piazza del popolo ist plötzlich leer. Jeder sucht auf den Tribünen Platz zu finden, und zahllose Köpfe mit schwarzen Augen wenden sich den Schranken zu, von welchen aus der Lauf beginnen soll.
Die Pferde werden von wohlgekleideten Stallknechten, die an ihren Erfolg das leidenschaftlichste Interesse setzen, herbeigeführt; sie sind ohne Sattel und Zaum, nur ein glänzendes Stück Zeug bedeckt ihren Rücken. Die Thiere stehen hinter der Barriere, und ihre Ungeduld, diese zu überspringen, ist kaum zu bändigen; sie müssen fortwährend mit Gewalt zurückgehalten werden; sie bäumen sich, sie wiehern und stampfen, als ob sie einen Ruhm schon gar nicht mehr erwarten können, den allein, ohne die lenkende Menschenhand zu erstreben, ihnen gestattet ist. Diese Ungeduld der Pferde, dazu das Schreien der Stallknechte machen aus dem Moment, wo die Schranken fallen, einen vollständigen Theatereffekt. Die Thiere gehen ab. »Platz! Platz!« ruft es von allen Seiten, mit unbeschreiblich eifrigem Entzücken. Die Stallknechte verfolgen ihre Pferde, so lange sie diese sehen können, mit Zurufen und Geberden, und die Thiere selbst sind eifersüchtig auf einander, wie Menschen. Das Pflaster sprüht unter ihren Hufen, ihre Mähnen fliegen, und ihr Drang, in solcher freien Selbstüberlassenheit den Sieg davon zu tragen, geht so weit, daß es welche gegeben hat, die von der Schnelligkeit ihres Laufes todt am Ziele niederfielen. Es hat etwas ganz Unheimliches, diese ungefesselten Rosse so von persönlicher Leidenschaft bewegt zu sehen, denn man wähnt, es sei Denkfähigkeit hinter dieser Thiergestalt verborgen. Die Reihen der Menge lösen sich auf, wenn die Pferde vorüberflogen; Alles eilt ihnen lärmend nach. Sie erreichen das Ziel, den Palast von Venedig, und nun muß man die Freude und den Triumph der Besitzer sehen, deren Pferde gesiegt haben. Einer, der den ersten Preis gewonnen, warf sich vor seinem Pferd auf die Kniee, dankte ihm, empfahl es dem heiligen Antonius, dem Schutzpatron der Thiere, und das Alles mit einer Begeisterung, die so ernsthaft war, als sie den Umstehenden komisch erscheinen mußte.[2]
Wenn der Tag sich neigt, pflegen die Rennen beendigt zu sein, und dann beginnt eine andere, viel weniger malerische, aber ebenso lärmende Lustbarkeit. Die Fenster werden erleuchtet; selbst die Wachen verlassen jetzt ihre Posten, um sich in den allgemeinen Jubel zu mischen. Jeder versieht sich nun mit einer kleinen, brennenden Kerze, genannt, die er dem Andern auszulöschen sucht, indem er stets das Wort (tödten) mit entsetzlicher Lebhaftigkeit wiederholt. ( ) »Daß die schöne Fürstin getödtet werde! daß der Herr Abbé getödtet werde!« ruft man von einem Ende der Straße zum anderen.[3] Die durch das jetzt eingetretene Verbot der Pferde und Wagen sicher gemachte Menge stürzt nun von allen Richtungen her durcheinander; kurz, es giebt kein anderes Vergnügen mehr, als betäubendes Toben und Lärmen. Die Nacht rückt vor; das Geräusch hört allmählig auf, das tiefste Schweigen folgt ihm, und von dem Allen bleibt nur ein verworrener Traum, der für einen Augenblick dem Volk seine Arbeit, dem Gelehrten seine Studien, dem großen Herrn seinen Müßiggang hinwegtäuschte.
[1] Anmerkung der Autorin: In Toscana fragte ich ein kleines Mädchen: wer hübscher sei, sie oder ihre Schwester. O, sagte sie: il più bel viso è il mio, das schönste Gesicht habe ich.
[2] Anmerkung der Autorin: Ein italienischer Postillon, der sein Pferd sterben sah, rief aus: O sant' Antonio, abbiate pietà dell' anima sua! O heiliger Antonius, erbarme Dich seiner Seele!
[3] Anmerkung der Autorin: Ueber das römische Carneval muß man die reizende Beschreibung Goethe's lesen, die ein ebenso treues als lebhaftes Bild davon giebt.