Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Achtes Buch: Statuen und Gemälde
Drittes Kapitel
Rom vereinigte damals die größten Meisterwerke der Malerei; es waren keine reicheren Sammlungen auf der Welt anzutreffen. In einem Punkte läßt sich über die Wirkung dieser Schätze streiten: sind die, von den großen italischen Künstlern zur Darstellung gewählten Gegenstände geeignet, der Malerei Gelegenheit zu geben zu dem vollen Ausdruck all der Vielseitigkeit der Leidenschaften, all der Eigenthümlichkeit der Charaktere, dessen sie doch fähig ist? Oswald und Corinna waren hierüber abweichender Meinung. Aber dieses, wie alles sonstige Auseinandergehen ihrer Ansichten hing mit der Verschiedenheit der Nationalität, des Klima's und der Religion zusammen. Corinna behauptete, die religiösen Gegenstände seien für die Malerei die günstigsten. Die Bildhauerei, meinte sie, sei die Kunst des Heidenthums, die Malerei die des Christentums; in diesen Künsten, wie in der Poesie, finde man dasselbe Verhältniß wieder, das auch in der klassischen und modernen Literatur bestehe. Die Werke von Michel Angelo, dem Darsteller der biblischen Geschichte, und die von Raphael, dem Maler des Evangeliums, setzen ebenso viel Tiefe und Gefühl voraus, als man in Shakespeare und Racine nur finden kann. Die Bildhauerkunst vermag nur das kraftvolle, einfache, äußere Dasein darzustellen, während die Malerei die Geheimnisse der Innerlichkeit andeutet und so, mit vergänglichen Farben zwar, der unsterblichen Seele Sprache leiht. Corinna meinte auch, daß die, aus der Geschichte oder der Dichtung entnommenen Stoffe selten malerisch seien; zum Verständniß solcher Bilder bedürfte man oft noch des alten Brauches, der die Worte der dargestellten Personen, auf ein Band geschrieben, aus dem Munde flattern läßt; dagegen würden religiöse Stoffe sogleich von aller Welt verstanden, und bei ihnen werde die Aufmerksamkeit nicht durch das Rathen, was sie vorstellen, von der Kunst abgezogen.
Sie hielt die Ausdrucksweise der modernen Maler oft für theatralisch, und zu sehr im Gepräge ihres Jahrhunderts, das die Einfalt, die von der Antike entlehnte Ruhe nicht mehr kennt, welche Perugino und Leonardo da Vinci noch beibehalten, und mit dem tiefen Gefühl des Christenthums vereinigt haben. Corinna bewunderte die ungekünstelte Composition Raphaels, besonders die seiner ersten Manier. Hier sind alle Figuren einem Hauptgegenstande zugewendet, ohne daß es scheint, als ob der Künstler sie in Stellungen zu gruppiren und auf den Effekt hinzuarbeiten suchte. In allen Zweigen der Kunst ist diese Redlichkeit das Kennzeichen des wahren Genie's; die Berechnung des Effekts zerstört fast immer die Begeisterung. Wie in der Poesie, fuhr Corinna fort, so gebe es auch in der Malerei eine Rhetorik; alle, die nicht verständen zu charakterisiren, nähmen zu schmückenden Nebendingen ihre Zuflucht, zu dem Blendwerk eines auffälligen Sujets, zu reichen Costümen und prächtigen Stellungen. Eine schlichte Jungfrau mit dem Kinde, ein betender Greis, eine heilige Cäcilie, das seien Gegenstände, an welchen man nicht nur trotz ihrer Einfachheit, sondern wegen derselben täglich neue Schönheiten entdecke, während die Effektstücke keine Steigerung des Eindrucks mehr zulassen, und der erste Blick daher immer der genußbringendste bleibe.[1]
Corinna fügte diesen Bemerkungen noch eine andere, sie unterstützende hinzu: weil das religiöse Gefühl der Griechen und Römer, wie überhaupt ihre ganze Geistesstimmung uns nicht mehr angemessen sein können, ist es uns unmöglich, in ihrem Sinne zu schaffen, so zu sagen: auf ihrem Grund und Boden zu erfinden. Durch Studium kann man sie nachahmen; doch wie sollte das Genie sich frei bei einer Arbeit aufschwingen können, zu welcher Gedächtniß; und Gelehrsamkeit so nothwendig wären. Mit Gegenständen, die in unsere eigene Geschichte, unsere eigene Religion gehören, verhält es sich anders. An diesen können die Maler sich persönlich begeistern, können fühlen, was sie malen, und malen, was sie gesehen haben. Das Leben dient ihnen, das Leben auszusinnen; während sie, wenn sie sich ins Alterthum versetzen, nach Büchern und Statuen erfinden müssen. Kurz, Corinna schätzte die religiösen Gemälde als eine, mit nichts zu ersetzende Wohlthat für das Gemüth; und auch in dem Künstler, der sie geschaffen, könne man, meinte sie, stets jene heilige, den Genius belebende und kräftigende Begeisterung voraussetzen, die allein vor Lebensüberdruß und den Ungerechtigkeiten der Menschen zu schützen vermöge.
Oswalds Eindrücke wichen in mancher Beziehung von dem Gesagten ab. Vor Allem nahm er Aergerniß daran, daß man die Gestalt der Gottheit in sterblicher Hülle darstelle, wie es Michel Angelo gethan. Er meinte, die Einbildungskraft dürfe es nicht wagen, der Gottheit äußerliche Form zu geben, da man ja kaum in seinem innersten Denken sich von dem höchsten Wesen eine Vorstellung zu machen im Stande sei, die übersinnlich, die überirdisch genug wäre; und was die, aus der heiligen Schrift genommenen Vorlagen betrifft, schien es ihm, als ob in dieser Gattung die Auffassung und der Ausdruck der Bilder noch viel zu wünschen übrig ließen. Er glaubte mit Corinna, daß religiöse Andacht das innigste menschliche Gefühl sei, und in dieser Hinsicht also auch den Malern die schönsten Geheimnisse in Physiognomie und Blick auszusprechen gestatte; da aber die Religion alle nicht aus ihr entspringenden Regungen der Seele verwerfe, könnten die Gestalten der Märtyrer und Heiligen begreiflicherweise nicht sehr mannigfaltig sein. Die Demuth, diese Tugend vor Gott, schwächt die Kraft der irdischen Leidenschaften und giebt nothwendig den meisten heiligen Gegenständen viel Einförmiges. Wenn Michel Angelo mit seinem groß-entsetzlichen Talente diese biblischen Stoffe malen wollte, hat er deren Geist fast verändert, indem er seinen Propheten einen herrschenden, fast schreckenerregenden Ausdruck gab, der eher einem Jupiter, als einem Heiligen ziemte. Oft bediente er sich heidnischer Bilder, wie Dante es gethan, und vermischte die Götterlehre mit der christlichen Religion. Der wundervolle Umstand, daß die Einsetzung des Christenthums von den Aposteln, nämlich von Menschen aus niederstem Stand, einem geknechteten und elenden Volke verkündet ward, daß mithin so geringe Mittel so große Erfolge lieferten, ist an sich, ist für die sittliche Betrachtung gewiß ein sehr schöner Gegensatz. Aber für die Malerei, die eben doch nur diese Mittel zur Anschauung bringen kann, werden die biblischen Gegenstände niemals so wirkungsvoll sein, als die aus sagenhaften, heroischen Zeiten entlehnten. Von allen Künsten kann nur die Musik rein religiös sein. Mit so träumerischem, unbestimmtem Ausdruck, als Töne ihn geben, darf die Malerei sich nicht genügen lassen. Zwar kann eine glückliche Vereinigung von Farbe, von Schatten und Licht gewisse, wenn ich so sagen darf, musikalische Effekte in der Malerei erzielen; da diese indeß das Leben darstellen soll, fordert man auch von ihr die Schilderung der Leidenschaft in all ihrer Macht und Großartigkeit. Dann sollte man auch von geschichtlichen Thatsachen nur solche wählen, die bekannt genug sind, um ohne Studium verstanden werden zu können; denn Gemälde, wie alle schöne Kunst, sollen plötzlich und schnell wirken. Wenn aber ein historischer Stoff ebenso klar verständlich ist, als ein biblischer, so hat er vor diesem den größeren Reichthum an Situationen und Gefühlen voraus.
Auch müßte man, fuhr Lord Nelvil fort, vorzugsweise Scenen aus Tragödien, oder doch aus sehr ergreifenden Gedichten malen, damit sich Alles vereinige, was Fantasie und Gefühl zu erheben vermag. Aber Corinna bestritt auch diese, freilich verführerische Ansicht. Sie war überzeugt, daß mit dem Eingreifen der einen Kunst in die Rechte der anderen Beiden Schaden geschehe. Die Skulptur büßt die, ihr eigenthümlichen Vortheile ein, wenn sie nach den Gruppen der Malerei strebt; die Malerei, wenn sie dramatischen Ausdruck erreichen will. Die Künste sind beschränkt in ihren Mitteln, wiewohl schrankenlos in ihren Wirkungen. Das Genie sucht niemals das ureigene Wesen der Dinge zu bekämpfen; vielmehr besteht grade seine Ueberlegenheit darin, dasselbe zu errathen, zu offenbaren. »Sie, theurer Oswald, Sie lieben die Künste nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Beziehung auf Gefühl und Geist. Sie werden nur da, wo sie unsere Schmerzen schildern, von ihnen ergriffen. Musik und Poesie sind solcher Seelenstimmung angemessen; während die bildenden Künste, wie ideal auch ihre Bedeutung sei, uns nur dann erfreuen und interessiren, wenn das Gemüth ruhig, wenn unsere Fantasie unbeschäftigt ist. Um sie zu genießen, bedarf man zwar nicht der Fröhlichkeit, aber doch innerer Heiterkeit; bedarf man eines wohligen Behagens an der allgemeinen Harmonie der Natur. Und wenn wir nun von Grund aus bekümmert sind, dann tragen wir diese Harmonie nicht mehr in uns, dann haben wir sie verloren: das Unglück hat sie zerstört.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Oswald, »ob ich in den schönen Künsten wirklich nur suche, was mir die Qualen innerlichen Leides zurückrufen kann; aber dies weiß ich, daß der, durch sie dargestellte physische Schmerz mir ganz unerträglich ist. Mein stärkster Einwurf gegen die christlichen Gegenstände der Malerei kommt aus der widerlichen Empfindung, welche mir die Abbildung der Wunden, des Blutes, der Todesangst verursacht, wenngleich ich zugebe, daß die Begeisterung jener Opfer eine erhabene ist. Philoctet ist vielleicht das einzige tragische Sujet, wo die Darstellung des körperlichen Schmerzes zulässig erscheint. Aber mit wie vielen poetischen Nebenumständen sind dessen grausame Leiden auch umgeben. Die Pfeile des Herkules verursachten sie, der Sohn Aeskulaps soll sie heilen; diese Wunde ist mit der sittlichen Betrübniß, welche sie dem Getroffenen bereitet, völlig eins geworden und kann durchaus nicht Ekel erregen. Wogegen die Gestalt des Besessenen in Raphaels wundervoller Transfiguration ein unangenehmer Anblick ist, dem alle Würde der Kunst fehlt. An solchem Gegenstand sucht man, und fürchtet man, die genaueste Nachahmung des Wirklichen herauszufinden. Welches Vergnügen kann aber solche ängstliche Nachahmung gewähren? Wir wollen die Süßigkeit des Schmerzes, das Schwermüthige des Glückes, kurz, wir wollen, daß uns das menschliche Geschick von der Kunst im Ideal vorgehalten werde.«
»Sie haben Recht, Mylord, wenn Sie alles Peinliche aus den biblischen Hergängen entfernt wünschen«, sagte Corinna, »es ist auch nicht nothwendig. Aber geben Sie mir dagegen zu, daß das Genie Alles zu besiegen weiß. Sehen Sie Domenichino's Tod des heiligen Hieronymus. Der Körper des ehrwürdigen Sterbenden ist farblos und abgezehrt, der Tod steigt schon auf zu seinem Herzen. Doch aus diesem Blick spricht ewiges Leben, und alles Elend der Welt scheint ihm nur da zu sein, um vor dem reinen Glanz eines frommen Bewußtseins zu verschwinden. Indessen, wenn ich auch nicht in Allem Ihrer Meinung bin, theurer Oswald«, fuhr Corinna fort, »so will ich Ihnen doch zeigen, daß selbst in unserem Auseinandergehen noch Vereinigung ist. In meinem Landhause zu Tivoli besitze ich eine Sammlung von Gemälden mir befreundeter Künstler, die, glaube ich, nach Ihrem Sinne ist. Sie können dort die Mängel und die Vorzüge der von Ihnen befürworteten Richtung gegen einander halten. Das Wetter ist schön! Wollen wir morgen nach der Villa hinaus?« – Und da sie auf seine Zustimmung zu warten schien, sagte er: »Liebe, zweifeln Sie an meiner Antwort? Giebt es für mich auf der Welt ein anderes Glück, einen anderen Gedanken als Sie? Und ist mein Leben, das von Beschäftigung und Interessen vielleicht zu frei geblieben, ist es nicht einzig und allein von der Seligkeit erfüllt, Sie zu hören, und zu sehen?«
[1] Anmerkung der Autorin: In einem Journal, Europa, waren tiefe vortreffliche Bemerkungen über Gegenstände der Malerei zu finden; sie sind von Friedrich Schlegel. Mehrere der hier eingeflochtenen Betrachtungen sind ihm entnommen. Dieser Schriftsteller ist eine Fundgrube des Wissens, wie die deutschen Denker es überhaupt sind.