Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Achtes Buch: Statuen und Gemälde
Zweites Kapitel
In den, auf Oswalds Krankheit folgenden Tagen vermied Corinna vorsichtig Alles, was eine Erklärung zwischen ihnen herbeiführen konnte. Sie wünschte des Freundes Leben so viel als möglich zu verschönern, doch wollte sie ihm immer noch nicht ihre Geschichte anvertraun. Aus ihren bisherigen Gesprächen schloß sie mit Ueberzeugung auf den Eindruck, welchen die Kenntniß dessen, was sie gewesen, und was sie geopfert, auf ihn machen werde; und nichts fürchtete sie so sehr, als daß er sich darnach von ihr lossagen möchte.
So nahm sie denn, um Oswalds leidenschaftliche Unruhe zu zerstreuen, zu einer liebenswürdigen, auch sonst schon angewendeten List ihre Zuflucht. Indem sie des Freundes Geist und Gedanken mit den Wundern der ihm noch unbekannten Kunstschätze erfüllte, hoffte sie den Augenblick zu verzögern, in welchem ihr Geschick sich aufklären, sich vollziehen sollte. In jedem anderen Gefühl, als dem der Liebe, schiene solche Unsicherheit kaum erträglich. Der Liebe aber gewährt sie süße Stunden, ihr breitet sie über jede gerettete Minute einen schwermüthigen Zauber. Diese ungewisse Zukunft eben verleiht der Gegenwart den Rausch, und läßt das arme Frauenherz einige Stunden des Glückes oder Schmerzes wie eine Ewigkeit hinnehmen, so von Empfindungen und Gedanken sind sie überfüllt!
O, gewiß! Nur durch die Liebe lernt man die Ewigkeit verstehen. Sie tilgt alle Zeitbegriffe, verwirrt alle Vorstellungen von Anfang und Ende. Man glaubt den Geliebten immer geliebt zu haben, denn es ist ja so schwer zu begreifen, daß man ohne ihn hat leben können. Je entsetzlicher die Trennung, je unwahrscheinlicher dünkt sie uns. Wie der Tod, wird sie eine Furcht, von der wir mehr sprechen, als wir daran glauben. Wie der Tod, wird sie eine Zukunft, die ganz unmöglich scheint, wenngleich man sie unabwendbar weiß.
Als einen der unschuldigen Kunstgriffe, mit welchen Corinna Oswalds Vergnügungen wechselreicher zu machen suchte, hatte sie es sich bisher noch vorbehalten, ihm die Skulpturen und Gemälde zu zeigen. Nun schlug sie eines Tages die Besichtigung des Schönsten aus diesen Sammlungen vor. »Es ist eine Schande«, sagte sie lächelnd, »daß Sie weder unsere Statuen, noch unsere Bilder kennen, und morgen muß mit der Reise durch die Museen begonnen werden.« – »Weil Sie es so wollen, bin ich bereit«, erwiderte Lord Nelvil. »Doch Corinna, Sie bedürfen in Wahrheit dieser fremden Hülfsmittel nicht, um mich an Sie zu fesseln. Vielmehr ist es mir ein Opfer, wenn ich, für was es auch sei, den Blick von Ihnen abwenden muß.«
Sie gingen zuerst nach dem Vatican, diesem Palast der Statuen, wo man die menschliche Gestalt durch das Heidenthum ebenso vergöttlicht sieht, als das Christenthum jetzt die seelische Empfindung verklärt. Corinna zeigte Lord Nelvil diese feierlich-stillen Säle, wo die Bilder der Götter und Heroen versammelt stehen, wo die vollendete Schönheit, in ewiger Ruhe, sich selbst zu genießen scheint. In der Betrachtung dieser wundervollen Züge und Formen offenbart sich uns die große Absicht, in welcher Gott dem Menschen so edle Gestalt verlieh, und das Verstehen dieser Absicht erhebt die Seele zu hohen Vorsätzen von Tugend und Pflicht. Denn Schönheit ist Tugend; es giebt nur Eine Schönheit im Weltall, und unter welcher Form sie sich auch darbiete, sie erregt im Menschenherzen immer religiöse Erhebung. Welche Poesie in diesen Angesichtern, in denen der erhabenste Ausdruck auf ewig festgehalten ist, in denen große Gedanken so würdig zur Anschauung kommen.
Ein Bildhauer des Alterthums machte zuweilen im Leben nur Eine Statue; aber sie war dann seine ganze Geschichte. Täglich vervollkommnete er sie; wenn er liebte, wenn er geliebt wurde, wenn er von der Natur oder der Kunst neue Eindrücke empfing, halfen dieses Lieben, diese Erinnerungen ihm sein Ideal zu verschönern; so ward sein Werk nur eine sichtbare Verkörperung seines eigenen innersten Wesens.
In unseren Tagen, inmitten eines kalten, einschränkenden Gesellschaftszustandes ist der Schmerz die edelste, menschliche Regung, und wer heute nicht gelitten hat, hat auch nichts gedacht, nichts gefühlt, nichts gelebt. Im Alterthum gab es etwas Edleres als den Schmerz, und das war die heroische Ruhe, das Gefühl der Kraft, das sich unter freien und großartigen Institutionen breit entfalten durfte. Die schönsten Statuen der Griechen haben fast immer nur die Ruhe ausgesprochen. Laokoon und Niobe allein sind Bilder des heftigsten Schmerzes; doch zeigen sie Beide nur die Rache des Himmels, nicht die aus der menschlichen Seele geborenen Leidenschaften. Die Organisation des sittlichen Wesens war bei den Alten eine so gesunde, so frei und kühn athmete ihre kräftige Brust, so entsprechend waren die Einrichtungen des Staats ihren Fähigkeiten, daß es da selten, wie heutigen Tages, unbefriedigte, mißgestimmte Geister gab. Zwar wird durch solche Stimmung eine feinere, mehr individuelle Sinnesart sehr gefördert; doch liefert sie den Künsten nicht, und besonders nicht der Bildhauerkunst, die schlichten, primitiven Grundlagen des Gefühls, welche allein der ewige Marmor schön und einfach wiedergeben kann.
Kaum daß sich einige Spuren von Schwermuth in ihren Statuen finden. Ein Kopf des Apollo im Palast Justiniani, und einer des sterbenden Alexander, sind die einzigen, welche eine in Leid und Tiefsinn versenkte Seele ausdrücken; aber sie stammen aller Wahrscheinlichkeit nach beide aus einer Zeit, als Griechenland unterjocht war.
Wenn der Geist von außen her nicht Nahrung ziehen kann, kehrt er in sich selbst zurück; er arbeitet und wühlt in den innern Empfindungen, er zersetzt sie förmlich, aber er besitzt nicht mehr die schaffende Kraft, nicht mehr jene Fülle von Begabung, wie sie nur das Glück in uns zu entwickeln vermag. Selbst die Sarkophage der Alten sind noch mit kriegerischen oder heiteren Gebilden geschmückt; es finden sich deren viele im Vatican; sie zeigen allerlei Schlachtscenen und Spiele, in Basrelief ausgeführt. Die Erinnerung an die Thaten oder doch an die Thätigkeit des Lebens war die schönste Verehrung, die man den Todten darbringen zu können glaubte. Nichts schwächte, nichts verminderte die Kräfte. Aufmunterung und Nacheifer waren das Princip der Künste sowohl, als der Politik; alle Tugenden, wie alle Talente, fanden ihre Stelle. Der Alltagsmensch setzte seinen Ruhm darein, bewundern zu können, und der Kultus des Genies wurde von denen besorgt, die auf seine Kronen keinen Anspruch machen konnten.
Die Religion der Griechen war nicht, wie das Christenthum, der Trost der Unglücklichen, der Reichthum der Armen, die Zukunft des Sterbenden. Jene wollte Ruhm und Triumph, wollte, so zu sagen, die Apotheose des Menschen. In ihrem vergänglichen Gottesdienst war selbst die Schönheit ein religiöser Lehrsatz. Wenn die Künstler sich genöthigt sahen, niedrige oder wilde Leidenschaften darzustellen, so retteten sie die menschliche Gestalt vor dieser Demüthigung, indem sie ihr, wie bei den Faunen und Centauren, Thierzüge hinzufügten. Und um der Schönheit ihren vollendetsten Charakter zu geben, vereinigten sie zuweilen, sowohl in männlichen, als weiblichen Standbildern, die Vorzüge beider Geschlechter, gaben sie der Kraft die Milde, der Milde die Kraft. Solche glückliche Mischung zweier entgegengesetzter Eigenschaften, ohne welche keine von beiden vollkommen ist, findet sich z. B. an der kriegerischen Minerva und bei dem Apollo Musagetes.
Corinna bat Oswald, etwas länger vor den schlafenden Bildsäulen zu verweilen, welche meist auf Gräbern gefunden wurden. In ihnen zeigt die Skulptur sich stets von ihrer anziehendsten Seite. Sie machte ihn darauf aufmerksam, daß eine Statue, welche in einer Handlung begriffen dargestellt ist, uns durch die gleichsam plötzlich erstarrte Bewegung zuweilen eine Art peinlichen Erschreckens hervorrufe. Wogegen ein im Schlummer, oder doch in tiefster Ruhe daliegendes Marmorbild jenes ewige Stillschweigen ausdrücke, das so gut zu der Stimmung paßt, welche der Süden in dem Menschen hervorruft. Im Süden scheint es, als sei die Kunst nur die friedliche Beschauerin der Natur, als sei das Genie, das im Norden die Seelen so stürmisch aufrührt, dort nur noch eine Harmonie mehr.
Sie betraten jetzt den Hof, wo die Steinbilder der Thiere, der Reptilien stehn; die Statue des Tiberius befindet sich mitten unter ihnen. Das ist ohne Absicht geschehn. Wie von selbst haben sich diese Gebilde um ihren Herrn geschaart. Ein anderer Saal enthält die düstern und strengen Monumente der Egypter. Bei diesem Volke, das durch seine leblosen, schwerfälligen und sklavischen Institutionen so viel als möglich das Leben dem Tode ähnlich zu machen suchte, scheinen auch die Werke der Kunst mehr seinen Mumien, als dem Leben nachgebildet. Ihre Thierbilder sind am vortrefflichsten, während sie in das Reich der Seele nicht einzudringen vermochten.
Hieran schließen sich nun die Säulenhallen des Museums, wo man mit jedem Schritt auf ein neues Meisterwerk trifft. Vasen, Altäre, Zierrathen aller Art umgeben den Apollo, Laokoon und die Musen. Hier lernt man Homer und Sophokles verstehen, hier offenbart sich uns eine Erkenntniß des Alterthums, wie sie sich anderswo nie erreichen ließe. Umsonst verläßt man sich auf das Lesen der Geschichte, um den Geist der Völker zu begreifen. Gesehenes erweckt viel mehr Ideen als Gelesenes, und diese in ihrer Aeußerlichkeit wiedergegebenen Gegenstände wirken mit belebender Kraft, die uns das Studium der Vergangenheit mit dem Interesse und dem Leben erfassen hilft, wie wir es den Menschen und Thatsachen aus der Jetztzeit entgegenbringen.
Inmitten dieser stolzen Arkaden, dieser Freistätte so vieler Herrlichkeit, giebt es ewigströmende Springbrunnen, deren Wasser uns leise rauschend erzählen, daß sie vor zweitausend Jahren den großen Schöpfern dieser Wunderwelt schon ihr träumerisches Lied gesungen. Doch den wehmüthigsten Eindruck empfängt man im Museum des Vaticans, wo die Trümmer einstiger Steinbilder angehäuft sind; ein Torso des Herkules, Köpfe, die von den Leibern getrennt sind, ein Fuß des Jupiter, der ein größeres und vollkommeneres Standbild des Gottes, als alle bisher gekannten, voraussetzen läßt. Man glaubt das Schlachtfeld zusehen, wo die Zeit mit dem Genius gerungen, und diese zerstückten Glieder bezeugen ihren Sieg und unsere Verluste.
Nachdem sie den Vatican verlassen, führte Corinna Oswald vor die Kolosse des Monte Cavallo, die, wie es heißt, Castor und Pollux vorstellen. Jeder der beiden Heroen zügelt, jedoch nur mit einer Hand, ein wildes, sich bäumendes Pferd. Diese Riesenformen, dieser Kampf des Menschen mit dem Thier, giebt, wie alle Werke der Alten, eine bewundernswürdige Vorstellung von der physischen Kraft der menschlichen Natur; und hier hat dieselbe zugleich einen Adel, wie er sich heutzutage, wo alle körperlichen Uebungen meist dem geringeren Volke überlassen werden, nicht mehr vorfindet. Es ist nicht blos die thierische Kraft des menschlichen Organismus, welche in diesen Meisterwerken wiedergegeben ist. Bei den Alten, die unaufhörlich im Kriege, und zwar in einem Kriege von Mann gegen Mann, lebten, war die Verwandtschaft der sinnlichen und sittlichen Eigenschaften eine viel innigere als bei uns; Kraft des Körpers und Adel der Seele, Würde im Angesichte und Stolz im Charakter, die Höhe der Gestalt und der Blick eines Herrscher-Geistes waren unzertrennliche Vorstellungen, ehe eine übersinnliche Religion die Vollkommenheit des Menschen in seiner Seele gipfeln ließ. Corinna und Lord Nelvil beschlossen ihr schönes Tagewerk mit einem Besuch in der Werkstätte Canova's, des größesten modernen Bildhauers. Man zeigte ihnen dieselbe, da es schon zu dunkeln begann, bei Fackelschein, und dadurch gewinnen Bildwerke ungemein. Die Alten wußten dies, da sie ihre Statuen vorzugsweise gern in den Bädern aufstellten, wo das Tageslicht nicht eindrang. Beim Fackelschein dämpft der vermehrte Schatten des Marmors glänzende Einförmigkeit, und zeigt uns blasse Gestalten von milderem, anmuthigerem Leben. Hier bei Canova stand ein wundervolles, für ein Grab bestimmtes Marmorbild: der Genius des Schmerzes, gelehnt an einen Löwen, an das Symbol der Kraft. Corinna glaubte in diesem Genius einige Ähnlichkeit mit Oswald zu finden, und auch der anwesende Meister war davon betroffen. Lord Nelvil trat zurück, um solches Vergleichen zu vermeiden, doch sagte er der Freundin leise: »Ich war, ehe ich Ihnen begegnete, zu diesem ewigen Schmerz verurtheilt. Sie aber haben mein Leben umgestaltet; jetzt füllt zuweilen Hoffnung, und immer süßeste Erregung das Herz, das sich nur noch bestimmt glaubte zu leiden.«