Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Siebentes Buch: Die italienische Literatur.

Erstes Kapitel

Lord Nelvil wünschte sehr, daß Herr Edgermond sich an Corinnens Unterhaltung, die selbst ihre improvisirten Verse aufwog, erfreuen möge. Am folgenden Tage versammelte sich die gleiche Gesellschaft bei ihr; und um sie zum Sprechen zu veranlassen, leitete er das Gespräch auf die italienische Literatur, und forderte ihren warmen Widerspruch durch die Behauptung heraus, daß England eine viel größere Anzahl wahrer Dichter, und zwar an Kraft und Gefühl überlegener Dichter, besitze, als Italien sich deren rühmen könne.

»Einestheils«, erwiderte Corinna, »kennen die meisten Ausländer nur unsere Dichter ersten Ranges: Dante, Petrarca, Ariost, Guarini, Tasso und Metastasio; während wir doch noch mehrere Andere, wie: Chiabrera, Guidi, Filicaja, Parini etc. besitzen, um Sannazar, Polician und Andere gar nicht zu zählen, die recht geistvoll in lateinischer Sprache geschrieben haben; und Alle vereinigen in ihren Versen Wohlklang mit großem Farbenreichthum. Alle wissen mit mehr oder weniger Talent die Wunder der Kunst und Natur in ihren Wortgemälden darzustellen. Gewiß, diese tiefe Schwermuth, diese Kenntniß des Menschenherzens, welche Eure Dichter auszeichnet, findet sich bei den unseren nicht, aber gebühren derartige Vorzüge nicht eigentlich auch mehr dem philosophischen Schriftsteller, als dem Dichter? Der volltönende Gesang des Italienischen eignet sich mehr zur Verherrlichung äußerer Gegenstände, als zum tiefen Gedankenausdruck. Unsere Sprache wird immer besser Empörung und Begeisterung schildern, als edle Trauer, weil dies sinnigere Gefühl, das gleichsam die zum Nachdenken gewordene Empfindung ist, mehr einen metaphysischen Ausdruck erfordert, während zornige Rachelust die Einbildungskraft entzündet und den Schmerz nach Außen wendet. Cesarotti hat die beste, geschmückteste Übersetzung des Ossian gemacht, aber beim Lesen ist's eigentlich doch, als hätten die Worte in sich selbst eine festliche Stimmung, die sich zu den düsteren Vorstellungen, welche sie wachrufen sollen, gar nicht recht schickt. Von unseren süßen Lauten kann man sich berauschen lassen, wie von dem Gemurmel des Wassers, wie von der Pracht der Farben, – was verlangen Sie von der Dichtkunst noch mehr? Weshalb die Nachtigall fragen, was ihr Gesang bedeute? Sie kann es nicht erklären, sondern beginnt einfach auf's Neue: man kann es nicht verstehen und giebt sich doch gern und ganz dem Eindruck hin. Das Versmaß, die wohlklingenden Reime, die flüchtigen, aus zwei kurzen Sylben gebildeten Endungen, welche in der That hinabgleiten, wie ihr Name ( ) es ausdrückt, ahmen zuweilen den leichten Rhythmus des Tanzes nach; zuweilen auch erinnern ernstere Laute an Sturmesrauschen und hellen Waffenklang! Kurz, unsere Dichtkunst ist ein Wunder der Einbildungskraft, und man muß in all ihren Gestaltungen nur die schöne Befriedigung der Letzteren suchen.«

»Die Schönheiten und Fehler Ihrer Poesie erklären Sie ohne Zweifel so viel, als es möglich ist«, erwiderte Lord Nelvil, »aber wie wollen Sie es vertheidigen, wenn diese Fehler sich ohne jene Vorzüge in der Prosa finden? Und diese Schaar von Alltäglichkeiten, welche Eure Dichter mit ihren melodischen Gebilden so herauszuschmücken wissen, erscheint in der kühlen Prosa von ermüdender Rührigkeit. Die meisten Eurer prosaischen Schriftsteller haben heute eine so deklamatorische, so weitschweifige, so in Superlativen überfließende Sprache, daß man schließen möchte, sie schrieben Alle auf Kommando, mit zugetheilten Phrasen, nach allgemeinem Uebereinkommen; sie scheinen gar nicht zu ahnen, daß »Schreiben« seinen Charakter und seine Gedanken aussprechen heißt. Der literarische Styl ist für sie künstliches Gewebe, erzählte Mosaik, kurz, etwas ihrer Seele Fremdes, das mit der Feder, wie eine mechanische Arbeit mit den Fingern, gemacht wird. Sie besitzen im höchsten Grade das Geheimniß, einen Gedanken auszunützen, paradiren zu lassen, ihn aufzubauschen, oder ein Gefühl moussiren zu lassen, wenn man sich so ausdrücken darf; und dies in einem Grade, daß man versucht wäre, diesen Schriftstellern zu sagen, was jene Afrikanerin eine französische Dame fragte, die unter einer schleppenden Robe den größesten Reifrock trug: »Madame, und alles dieses sind Sie selbst?« Und wirklich, wo ist in solchem Wortgepränge, das vor einem einzigen wahren Ausdruck wie eitler Schwindel zerstieben müßte, der eigentliche Kern?«

»Sie vergessen«, unterbrach Corinna lebhaft, »vor Allen den Macchiavelli und Boccaz; dann Gravina, Filangieri; ferner aus unseren Tagen: Cesarotti, Verri, Bettinelli, und noch so viele Andere, die beim Schreiben auch gedacht haben.[1] Aber ich stimme mit Ihnen überein, daß man in Italien während der letzten Jahrhunderte, und seit unglückliche Verhältnisse es seiner Unabhängigkeit beraubten, alles Streben nach Wahrheit verloren hat, zuweilen selbst nicht einmal die Möglichkeit begreift, sie auszusprechen. Daraus ist denn die Gewohnheit entstanden, sich im Wortschwall zu gefallen, und an aufklärendes Denken sich nicht heranzuwagen. Da man gewiß war, durch seine Schriften keinerlei Einfluß auf die Dinge zu erlangen, schrieb man nur noch, um seinen Geist zu zeigen, was das sicherste Mittel ist, auch den bald einzubüßen; denn die meisten und reichsten Gedanken stießen dem zu, der seine Geistesthätigkeit auf edle, nutzbringende Zwecke richtet. Wenn die Prosaiker nach keiner Richtung hin auf das Glück einer Nation einzuwirken vermögen, wenn man nur um zu glänzen schreibt, kurz, wenn die Bahn schon das Ziel ist, dann dreht und wendet man sich tausendfach hin und her, und kommt doch nicht vorwärts. Es ist wahr, die Italiener fürchten die neuen Ideen, doch nicht aus literarischer Knechtschaft, sondern aus Faulheit. Charakter, Heiterkeit und Einbildungskraft sind bei ihnen höchst eigenartig geblieben, während ihre allgemeinen Begriffe, da sie sich nicht mehr die Mühe des Nachdenkens geben, höchst alltägliche sind; selbst ihre im Sprechen so treffende Beredsamkeit hat, geschrieben, nichts Natürliches; es ist, als ob sie sich während der Arbeit abkühlten. Ueberdies ist die Prosa den Völkern des Südens unbequem, sie schildern ihre wahren Gefühle nur in Versen. – Anders ist es in der französischen Literatur«, fuhr Corinna, jetzt zu Graf d'Erfeuil gewendet fort, »Eure Prosaiker sind meist viel beredtsamer, und auch poetischer, als Eure Dichter.« – »Es ist wahr«, entgegnete Graf d'Erfeuil, »wir haben in dieser Gattung die wahrhaft klassischen Vorbilder geliefert: Bossuet, la Bruyère, Montesquieu, Buffon, sie Alle können nicht übertroffen werden; dies gilt besonders von den beiden Ersten, welche dem nicht genug zu preisenden Jahrhundert Ludwig des Vierzehnten angehören, dieser großen Zeit, deren vollendete Muster man so viel als möglich nachahmen sollte; ein Rath, den die Ausländer, so gut als wir, zu befolgen suchen müssen!« »Ich kann doch schwerlich glauben«, antwortete Corinna, »daß es für die ganze Welt wünschenswerth sei, alle nationale Färbung, alle Originalität des Gefühls und des Geistes aufzugeben; und ich wage Ihnen zu prophezeien, Herr Graf, daß diese literarische Orthodoxie, wenn ich mich so ausdrücken darf, diese sich allen Neuerungen widersetzende Selbstzufriedenheit Ihre eigene Literatur auf die Länge sehr unfruchtbar machen wird. Das Genie ist wesentlich schöpferisch, und trägt stets den individuellen Charakter dessen, dem es angehört. Die Natur, welche nicht einmal wollte, daß zwei Blätter sich gleichen, hat den Geistesformen noch mannigfaltigere Verschiedenheit verliehen; und die Nachahmung ist eine Art von Tod, denn sie beraubt den Menschen seiner natürlichen Wesenheit.«.

»Möchten Sie nicht gar, o meine schöne Gegnerin, daß wir die altdeutsche Barbarei, die Nachtgedanken des Engländers Young, die Concetti der Italiener und Spanier bei uns aufnähmen?« fragte Graf d'Erfeuil spöttisch; »was würde, nach solcher Vermischung, aus dem Geschmack und der Eleganz des französischen Styles werden?« – Fürst Castel-Forte, der so lange geschwiegen, vermittelte jetzt: »Mich dünkt, daß wir Alle uns gegenseitig brauchen, und einander ergänzen sollten. Die Literatur eines jeden Landes zeigt denen, welche in sie einzudringen vermögen, ganz neue Gebiete des Denkens. Karl der Fünfte hat es schon gesagt: »Ein Mann, der vier Sprachen versteht, steht für vier Männer!« Wenn dieser große Politiker das mit Bezug auf die Geschäfte sagen konnte, – wie viel mehr gilt es für die Gelehrsamkeit! Die Ausländer verstehen Alle das Französische; so ist also ihr Gesichtskreis viel weitreichender, als der der Franzosen, welche keine fremden Sprachen wissen. Warum geben sie sich nicht häufiger die Mühe, sie zu lernen? Sie würden sich damit ihre ausgezeichneten Eigenschaften nur fester bewahren, und dann vielleicht auch eher entdecken, was ihnen zuweilen mangelt.«


[1] Anmerkung der Autorin: Cesarotti, (Alessandro) Berri, Bettinelli sind drei jetzt lebende Schriftsteller, die auf die italienische Prosa sehr günstig eingewirkt haben.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12