Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Sechstes Buch: Die Sitten und der Charakter der Italiener.
Viertes Kapitel
Nach Corinnens Brief bereute Oswald ein zweites Mal, daß er daran hatte denken können, sich von ihr loszumachen. Die geistreiche Form, die vornehme Sanftmuth, mit denen sie seine harten Worte zurückwies, erfüllten ihn mit Bewunderung. Ihre so große, so einfache, so wahre Ueberlegenheit stellte sie hoch über alles gewöhnliche Maß. Er fühlte wohl immer noch, daß Corinna nicht die schwache, schüchterne, in Allem, außer in ihren Pflichten, unselbstständige Frau sei, welche er sich in Gedanken als Gefährtin seines Lebens geträumt, und die Erinnerung an die damals zwölfjährige Lucile stimmte besser zu dieser Vorstellung. Aber konnte man irgend Jemand mit Corinna vergleichen? Konnten Gesetze und alltägliche Regeln auf eine Frau Anwendung finden, die in sich so viel verschiedene Eigenschaften vereinigte, und welche dieselben durch Genie und Empfindung so schön verband? Corinna war ein Wunder der Natur; und war dies Wunder nicht allein für Oswald geschehen, wenn er hoffen durfte, von ihr geliebt zu sein? Aber wie war ihr Name? Wie ihr Schicksal? Was würden ihre Pläne sein, wenn er sie bäte, sich ihm zu vereinigen? Alles war noch in Dunkelheit; und obwohl sein begeistertes Gefühl ihn überredete, daß sie, nur sie, ihm bestimmt sei, so quälte oft auch die Befürchtung, Corinnens Leben möge nicht ganz tadellos gewesen sein, und würde dem Vater Grund zur Mißbilligung gegeben haben, seine Seele auf's Neue.
Er war durch den Schmerz nicht so niedergebeugt, als zu der Zeit, da er Corinna noch nicht kannte, aber ihm war dafür die Ruhe verloren gegangen, die selbst in einem von Reue über große Irrthümer erfüllten Leben bestehen kann. Früher fürchtete er nicht, sich seinen Erinnerungen zu überlassen, wie groß auch ihre Bitterkeit war; jetzt aber scheute er lange und tiefe Träumereien, die ihm enthüllt hätten, was auf dem Grunde seiner Seele vorging. Er schickte sich indessen eben zum Ausgehen an, um Corinna für ihren Brief zu danken, und Verzeihung für den seinen zu erbitten, als Herr Edgermond, ein Verwandter der jungen Lucile, ins Zimmer trat.
Herr Edgermond war ein rechtschaffener, englischer Landedelmann, der fast immer in Wales, wo er ein Gut besaß, gelebt hatte. Er bekannte sich zu jenen Grundsätzen und Vorurtheilen, welche in allen Landen dazu dienen, die Dinge, wie sie eben sind, in ihrem Bestehen aufrecht zu erhalten, und das ist eine gute Eigenschaft, wenn diese Einrichtungen so vollkommen sind, als menschliche Vernunft es gestattet; dann freilich müssen Männer, wie Herr Edgermond, das heißt: die Anhänger der bestehenden Ordnung, wie stark und selbst hartnäckig sie ihre Principien und Gewohnheiten auch vertreten mögen, als aufgeklärte, vernünftige Geister geschätzt werden.
Lord Nelvil fuhr zusammen, als er Herrn Edgermond anmelden hörte; es war ihm, als ob seine ganze Vergangenheit vor ihn hintrete. Zugleich fiel er auf die Vermuthung, daß Lady Edgermond, Lucilens Mutter, ihren Verwandten abgeschickt haben könnte, um ihm Vorwürfe zu machen, und dann seine Unabhängigkeit einzuschränken. Dieses Mißtrauen gab ihm Festigkeit; er empfing Herrn Edgermond mit äußerster Kälte, zu welcher er um so weniger berechtigt war, als der Ankommende in Betreff seiner auch nicht das Mindeste der Art beabsichtigte. Herr Edgermond durchstreifte Italien lediglich, um seine Gesundheit zu kräftigen; er machte sich viel körperliche Bewegung, jagte, trank fleißig auf das Wohl des Königs Georg und Alt-Englands, kurz, bewies sich als der ehrenhafteste Gentleman von der Welt. Selbst sein Geist war viel gebildeter, als seine Neigungen erwarten lassen konnten. Vor Allem war er Engländer, und zwar nicht allein, wie er es sein sollte, sondern auch, wie man hätte wünschen mögen, daß er es nicht gewesen. Ueberall lebte er nach heimischer Sitte, und redete kaum mit Fremden; dies Letztere nicht etwa aus Geringschätzung, sondern aus Widerwillen gegen die fremden Sprachen und aus einer gewissen Schüchternheit, die ihm noch im Alter von fünfzig Jahren das Anknüpfen neuer Bekanntschaften sehr erschwerte.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er zu Lord Nelvil, »in einigen Tagen gehe ich nach Neapel; werde ich Sie dort wiederfinden? Es wäre mir lieb, denn da mein Regiment sich bald einschiffen muß, kann meines Bleibens in Italien nicht lange sein.« – »Ihr Regiment?« wiederholte Lord Nelvil, und er erröthete, als ob er vergessen hätte, daß er von dem seinigen, welches erst in Jahresfrist aufbrechen sollte, mit einjährigem Urlaub versehen war; dies Erröthen galt dem Gedanken, die Liebe zu Corinna könne ihn vielleicht selbst seiner Pflicht abwendig machen.
»Ihr eigenes Regiment«, fuhr Herr Edgermond fort, »wird nicht so bald in Thätigkeit kommen; Sie können also Ihre Gesundheit erst ruhig wieder herzustellen suchen. Vor der Abreise sah ich meine junge Cousine, für die Sie sich ja interessiren; sie ist reizender denn je; und sie wird in einem Jahre, wenn Sie heimkehren, zweifellos das schönste Mädchen Englands sein.« – Lord Nelvil schwieg, und auch Herr Edgermond ließ das Gespräch fallen. Sie wechselten noch einige lakonische, wenn auch herzliche Worte, und Herr Edgermond war im Begriff hinauszugehen, als er sich noch einmal umwendete: »Ich vergaß noch eins; man hat mir gesagt, daß Sie die berühmte Corinna kennen, und wenn ich auch im Allgemeinen die neuen Bekanntschaften nicht liebe, – auf diese wäre ich doch gespannt.« – »Ich werde Corinna, da Sie es wünschen, um die Erlaubniß bitten, Sie ihr vorstellen zu dürfen.« – »Thun Sie das, bitte, und richten Sie's doch ein, daß es an einem Tage geschehe, wo sie vor Andern improvisirt oder singt.« – »Nicht in dieser Weise bietet Corinna ihr Talent Freunden und Fremden dar; sie ist eine Frau, die in jeder Rücksicht denselben gesellschaftlichen Rang einnimmt, wie Sie oder ich.« – »Verzeihen Sie meinen Irrthum«, erwiderte Herr Edgermond, »da man sie unter keinem andern Namen kennt, und sie mit sechsundzwanzig Jahren allein, ohne jeden Familienanhang, lebt, glaubte ich, sie existire durch ihre Talente, und nehme gern eine Gelegenheit wahr, dieselben gelten zu lassen.« – »Sie ist vollkommen unabhängig durch ihr Vermögen«, antwortete Lord Nelvil lebhaft, »und durch ihren Geist ist sie es noch viel mehr.« – Herr Edgermond gab augenblicklich ein weiteres Gespräch über Corinna auf; er bereute, von ihr begonnen zu haben, da er einsah, wie nahe es Lord Nelvil berührt hatte. In Allem, was wahrste Empfindung angeht, haben ganz besonders die Engländer viel Schonung und Feingefühl. Herr Edgermond ging, und ließ Oswald in großer Bewegung zurück. »Corinna muß mein werden«, rief er, »ich muß sie beschützen, damit fortan Niemand sie verkenne. Das Wenige, was ich zu bieten habe, will ich ihr geben – Rang und Namen; wofür sie mich mit allen Glückseligkeiten überschütten wird, die allein nur sie auf Erden gewähren kann.« – In dieser Stimmung eilte er zu Corinna, und noch niemals hatte er ihr ein süßeres Hoffen und Lieben entgegengebracht; allein, aus einer sehr natürlichen Befangenheit redete er zuerst von geringfügigen Dingen, und kam so auch auf jene Bitte in Betreff Herrn Edgermonds. Bei diesem Namen gerieth Corinna in sichtliche Verwirrung und weigerte in bewegtem Ton die Erfüllung seines Wunsches. Oswald, davon höchst betroffen, sagte zu ihr: »Ich glaubte, daß da, wo so viele Leute empfangen werden, die Eigenschaft, mein Freund zu sein, keine Zurückweisung begründen könne.« – »Seien Sie nicht so verletzt, Mylord«, erwiderte Corinna; »glauben Sie sicher, daß es äußerst wichtige Gründe sein müssen, wenn sie mir die Gewährung Ihres Wunsches verbieten.« – »Und wollen Sie mir diese Gründe sagen?« – »Unmöglich«, rief Corinna, »das ist unmöglich.« – »Wohlan denn –« und da die Heftigkeit seiner Aufwallung ihm das Wort nahm, wollte er sich entfernen. Aber Corinna war schon in Thränen und rief ihm auf Englisch zu: »In des Himmels Namen, wenn Sie mir das Herz nicht brechen wollen, dann verlassen Sie mich nicht so schnell.«
Diese Laute, dieser Ton erschütterten Oswald, und er nahm wieder in einiger Entfernung von Corinna Platz; das Haupt an eine, das Zimmer sanft erleuchtende Alabaster-Vase gelehnt, verhielt er sich einige Zeit lang schweigend; endlich sagte er: »Grausame Frau! Sie sehen, daß ich Sie liebe; Sie sehen, daß ich jeden Tag bereit bin, Ihnen meine Hand, mein ganzes Leben anzubieten, und Sie wollen mir nicht sagen, wer Sie sind! Sagen Sie es mir, Corinna, sagen Sie es endlich!« wiederholte er mit dem rührendsten Ausdruck des Flehens. – »Oswald, Sie wissen nicht, wie weh Sie mir thun«, rief Corinna. »Wenn ich thöricht genug wäre, Ihnen Alles zu bekennen – wenn ich's wäre – so liebten Sie mich nicht mehr.« – »Großer Gott, was haben Sie denn zu enthüllen?« – »Nichts, das mich Ihrer unwürdig machte; aber Zufall, Verschiedenheiten unserer Neigungen, unserer Denkart, wie sie früher wohl bestanden, und jetzt vielleicht geschwunden sind – Fragen Sie mich nicht. Verlangen Sie nicht, daß ich mich Ihnen zu erkennen gebe, dereinst, wenn Sie mich genug lieben, dereinst, wenn ... ... Ach, ich weiß nicht, was ich spreche«, fuhr sie fort, »Sie sollen Alles wissen, aber verlassen Sie mich nicht, ehe Sie mich gehört haben. Versprechen Sie mir das im Namen Ihres Vaters, der im Himmel ist.« – »Ihn nennen Sie nicht!« rief Lord Nelvil, »wissen Sie denn, ob er uns vereinigte oder trennte? Glauben Sie, daß er in unsere Verbindung willigen würde? Wenn Sie's glauben, beweisen Sie es mir, dann würde ich nicht mehr so schwankend und zerrissen sein. Ich werde Ihnen noch einst erzählen, wie traurig mein Leben war; nicht jetzt, Sie sehen, in welchem Zustande ich bin, durch Sie bin!« Und wirklich, seine Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt, sein Angesicht bleich, die Lippen zitterten, und vermochten kaum noch diese letzten Worte hervorzubringen. Corinna setzte sich neben ihn, und seine Hände in den ihren haltend, bat sie ihn mit hulder Sanftmuth, sich zu fassen. »Mein theurer Oswald«, sagte sie, »fragen Sie Herrn Edgermond, ob er niemals in Northumberland gewesen, oder wenigstens, ob er seit den letzten fünf Jahren erst dort war; nur in diesem Falle dürfen Sie ihn hieherbringen.« – Oswald sah sie fest und fragend an; sie schlug die Augen nieder und schwieg. »Ich werde thun, was Sie mir befehlen«, sagte er, und ging.
Zu Hause angelangt, erschöpfte er sich in Vermuthungen über Corinnens Geheimniß. Dies war ihm klar: sie mußte lange Zeit in England gelebt haben, ihr Name, ihre Familie mußten dort bekannt sein. Doch aus welchem Grunde war es nöthig, diese verborgen zu halten, und weshalb hatte sie England verlassen, wenn sie dort heimisch gewesen war? Diese sich widersprechenden Fragen bewegten Oswalds Herz auf's Ungestümste. Er war überzeugt, daß Corinnens Leben frei von jedem Tadel sei, indeß fürchtete er irgend ein ungünstiges Zusammentreffen von Umständen, welches sie in den Augen Anderer schuldig erscheinen lassen könnte. Am meisten besorgte er, man möchte sie in England nicht verstehen. Gegen alle andere Mißbilligung fühlte er sich gewappnet, aber das Andenken an seinen Vater war mit der Liebe zur Heimat innig verwachsen, und gegenseitig verstärkten diese beiden Gefühle einander. Oswald erfuhr durch Herrn Edgermond, daß dieser im verflossenen Jahre zum ersten Male in Northumberland gewesen sei, und konnte ihm also versprechen, ihn noch denselben Abend bei Corinna einzuführen. Er selbst ging etwas früher hin, um sie von der Vorstellung, welche sich Herr Edgermond über sie gebildet, in Kenntniß zu setzen, und sie zu bitten, sie möge ihn durch kalten und zurückhaltenden Anstand fühlen lassen, wie sehr er sich getäuscht habe.
»Wenn Sie es mir so erlauben«, sagte Corinna, »werde ich ihm, wie aller Welt, begegnen; falls er mich zu hören wünscht, will ich für ihn improvisiren, auch sonst in Allem mich zeigen, wie ich bin; und ich glaube, daß er mich, und was ich werth sein mag, aus einem einfachen Betragen so gut und besser erkennen wird, als wenn ich mir ein stolzes, gehaltenes Ansehen gäbe, das ja doch nur gemacht wäre.« – »Ja, Corinna«, antwortete Oswald, »Sie haben Recht. Ach, welch Mißgriff wäre es, an Ihrer wundervollen Natur ändern zu wollen!« – Herr Edgermond trat jetzt mit der übrigen Gesellschaft ein. Anfangs behielt Oswald seinen Platz neben Corinna; und mit der Theilnahme eines Liebenden und Beschützers sagte er Alles, was sie zur Geltung bringen konnte; er bezeigte ihr eine Hochachtung, die mehr noch zum Zweck hatte, den Anderen Ehrfurcht zu gebieten, als sich selbst zu genügen. Doch mit Freude fühlte er bald das Ueberflüssige aller seiner Besorgnisse. Corinna gewann Herrn Edgermonds ganze Bewunderung; sie nahm ihn nicht nur durch ihren Geist und ihr anziehendes Wesen ein, sondern nöthigte ihm auch die anerkennende Hochachtung ab, welche ein ehrenhafter Charakter immer einem wahrhaftigen zollt; und als er die Bitte wagte, sie möge sich über ein aufgegebenes Thema hören lassen, warb er in ehrfurchtsvollster Form um diese Gunst. Sie willigte auch sogleich, und mit bescheidener Liebenswürdigkeit ein; allein ihr lebhafter Wunsch, einem Landsmann Oswalds, dessen Meinung den Freund beeinflussen konnte, zu gefallen, erfüllte sie mit ungewohnter Schüchternheit; sie wollte beginnen, doch schnitt die Bewegung ihr das Wort ab. Oswald war peinlich berührt, daß sie sich so wenig auf ihrer ganzen Höhe zeigte; er schlug die Augen nieder, und seine Verlegenheit wurde so sichtlich, daß Corinna, einzig mit der Wirkung, welche dies Mißlingen auf ihn hervorbrachte, beschäftigt, immer mehr und mehr die zum Improvisiren erforderliche Geistesgegenwart verlor. Endlich, als sie fühlte, daß sie stockte, daß ihr die Worte aus dem Gedächtniß, nicht aus der Seele kamen, und sie folglich nicht schilderte, was sie dachte und wirklich empfand, hielt sie plötzlich inne, und sagte zu Herrn Edgermond: »Verzeihen Sie, wenn die Befangenheit mir heute mein Talent raubt; meine Freunde wissen es: es ist das erste Mal, daß ich mich so gänzlich unter mir selber zeige, und«, fügte sie seufzend hinzu, »ich fürchte, es wird vielleicht nicht das letzte Mal sein.« Corinnens Schwachheit, die sie so schlicht bekannte, erschütterte Oswald tief. Bis dahin hatten Geist und Einbildungskraft stets über ihr Herz gesiegt, hatten stets in Augenblicken der Niedergeschlagenheit ihre Seele erhoben. Dieses Mal aber unterjochte das Gefühl den Geist vollständig. Oswalds Eitelkeit hing bei dieser Gelegenheit so sehr an ihrem Erfolge, daß er von ihrer Verwirrung gelitten hatte, statt sich derselben zu freuen. Da es aber zweifellos war, sie werde ein anderes Mal wieder in ihrem eigensten Glanze strahlen, überließ er sich endlich ohne Verstimmung dem süßen Nachsinnen, das die gemachten Beobachtungen hervorriefen, und der Freundin Bild herrschte mächtiger als je in seinem Herzen.