Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Fünftes Buch: Gräber, Kirchen und Paläste.

Drittes Kapitel

Raphael sagte, das neue Rom sei fast ganz aus Trümmern des alten erbaut; und gewiß ist, daß man hier nicht einen Schritt thun kann, ohne auf Bruchstücke und Ueberbleibsel aus dem Alterthum zu stoßen. Man erkennt die »ewigen Mauern«, wie Plinius sie nennt, durch alle Veränderungen der letzten Jahrhunderte heraus; fast sämmtliche Gebäude Roms haben ein historisches Gepräge und meistens ist die Physiognomie des Zeitalters, dem sie angehören, unverkennbar. Seit den Etruskern bis auf unsere Tage, seit jenen Völkern also, welche, älter selbst als die Römer, durch Dauerhaftigkeit ihrer Arbeit und Seltsamkeit der Entwürfe den Egyptern ähnlich waren, bis hinab zu dem manierirten Bernini und den ebenso gekünstelten, italischen Dichtern des siebzehnten Jahrhunderts, findet man zu Rom die Schöpfungen des menschlichen Geistes in dem verschiedenen Charakter der Kunst, der Bauwerke und Denkmale dargestellt. Das Mittelalter und das glanzvolle Jahrhundert der Mediceer treten uns in ihren Werken entgegen, und solches Studium der Vergangenheit, an Gegenständen ausgeführt, die sich jetzt noch unserer Anschauung darbieten, hilft uns in den Geist der Zeiten eindringen. Man glaubt, daß Rom einst einen besonderen Namen hatte, der nur einigen Eingeweihten bekannt war; aber auch jetzt noch ist das Geheimniß dieser Stadt wohl den Wenigsten geoffenbart. Sie ist nicht schlechthin eine Anhäufung von Gebäuden, sie ist vielmehr eine durch mannigfache Sinnbilder verdeutlichte, unter verschiedenen Gestalten dargestellte Weltgeschichte.

Corinna kam mit Lord Nelvil überein, daß sie zuerst die Gebäude des modernen Rom in Augenschein nehmen, und seine wundervollen Bildwerke und Gemäldesammlungen für spätere Zeit sich vorbehalten wollten. Vielleicht wünschte Corinna, ohne sich davon Rechenschaft zu geben, das eben, was man in Rom unerläßlich sehen muß, so weit als möglich hinauszuschieben; denn wer verließe es je, ohne den Apoll von Belvedere und die Bilder Raphaels bewundert zu haben? Diese Sicherheit, wie schwach sie auch war: daß Oswald noch nicht abreisen könne, that ihr wohl. Geziemt es einem edlen Stolz, wird man fragen, den Geliebten mit andern Mitteln festhalten zu wollen, als mit der Liebe, die man für ihn hegt? Ich weiß es nicht; aber je mehr man liebt, je weniger vertraut man dem Gefühl, das man einflößt, und welches auch die Veranlassung sei, die uns des Geliebten Gegenwart sichert, man nimmt sie immer mit Freude auf! In eine gewisse Art von Stolz mischt sich oft viel Eitelkeit; und wenn so allgemein bewunderte Vorzüge, wie die Corinnens, einen wahren Vortheil bieten, so ist es der, daß sie gestatten, seinen Stolz mehr in das selbstempfundene, als in das bei Andern hervorgerufene Gefühl zu setzen.

Mit den merkwürdigsten unter den zahlreichen Kirchen Roms fingen Corinna und Lord Nelvil ihre Reise wieder an; all jene Gotteshäuser sind mit prachtvollen alten Bruchstücken ausgeschmückt; aber der Beschauer steht trotz seiner Bewunderung dieser edlen Marmorsteine, dieser, den Heidentempeln geraubten Ornamente oft mit düsterem Sinnen vor ihnen. Säulen von Porphyr und Granit waren in Rom in solchem Ueberflusse vorhanden, daß man wenig Werth darauf legte, und sie verschwendete. In St. Johann von Lateran, einer durch die darin abgehaltenen Concilien berühmten Kirche, findet sich eine solche Menge von Marmorsäulen, daß man viele derselben mit Gyps bewarf, um Pfeiler daraus zu machen; so hatte das Uebermaß dieser Reichthümer gegen dieselben gleichgültig gemacht!

Ein Theil dieser Säulen stammt aus dem Grabmal Hadrians, ein anderer aus dem Kapitol; diese letzteren zeigen an ihren Capitälen noch die Figur der Gänse, die das römische Volk retteten; theils tragen sie gothische Ornamente, theils sind sie mit arabischem Geschmack verziert. Die Urne Agrippa's bewahrt die Asche eines Papstes; denn selbst die Todten haben andern Todten Platz gemacht, und die Gräber mußten fast ebenso oft, als die Wohnungen der Lebenden, ihren Herrn wechseln.

Nahe der Laterankirche ist die heilige Treppe, die, wie es heißt, von Jerusalem nach Rom gebracht worden ist. Nur mit den Knieen darf man sie berühren. Stiegen doch selbst Cäsar und Claudius die Stufen, welche zum Tempel des Jupiter Capitolinus führten, knieend hinan. Neben St. Johann von Lateran zeigt man auch die Kapelle, wo Constantin getauft sein soll. In der Mitte des Platzes steht ein Obelisk, der aus der Zeit des trojanischen Krieges stammt und also wohl das älteste Denkmal der Welt sein mag; ein Obelisk, den selbst der barbarische Kambyses so respektirte, daß er um seinetwillen dem Brande einer Stadt Einhalt thun ließ, und für welchen ein König das Leben seines einzigen Sohnes als Pfand setzte. Mit staunenerregenden Mitteln haben ihn die Römer aus der Tiefe Egyptens nach Italien geschafft; der Nil mußte seinen Lauf ändern, damit er ihn hole und bis ans Meer bringe. Die diesen Obelisk bedeckenden Hieroglyphen haben all diese Jahrhunderte hindurch ihr Geheimniß bewahrt und bieten bis auf den heutigen Tag den gelehrtesten Nachforschungen Trotz. Indien, Egypten, die Vorzeit der Vorzeit würden uns vielleicht durch diese Zeichen offenbart sein. Der wunderbare Zauber Roms liegt nicht allein in der wirklichen Schönheit seiner Denkmale, sondern auch in dem Nachdenken, das sie anregen; und dieses sich in den Geist der Dinge Hineinleben nimmt zu mit jedem Tage, mit jeder neu erworbenen Kenntniß. Eine der sonderbarsten Kirchen Roms ist die von St. Paul. Ihr Aeußeres gleicht einer schlecht gebauten Scheune, während ihr Inneres durch achtzig Säulen von so schönem Marmor, von so vollendetem Styl geschmückt wird, daß man sie einem, durch Pausanias beschriebenen Tempel der Athener zugehörig glaubt. Cicero sagt: »Wir sind von den Spuren der Geschichte umgeben.« Wenn er das damals schon sagen durfte, was sollen wir heute sagen?

In ganz unglaublicher Weise findet man die Säulen, Standbilder und Basreliefs des alten Rom an die Kirchen der modernen Stadt verschwendet; in einer derselben, St. Agnes, dienen umgekehrte Basreliefs als Treppenstufen, ohne daß man sich auch nur die Mühe gegeben hätte, nachzusehen, was sie vorstellen. Welch überraschenden Anblick böte jetzt das alte Rom, wenn man Säulen, Marmor und Statuen an der Stelle gelassen hätte, wo man sie gefunden! Dann stände wohl fast noch die ganze alte Stadt; aber würden die Menschen unserer Tage es wagen dürfen, in ihr umher zu wandeln?

Die Paläste der Großen sind von ungemeiner Ausdehnung, in oft sehr schönem und immer großartigem Styl; aber der Schmuck ihres Innern ist selten von gutem Geschmack, und es sind hier auch nicht annähernd jene eleganten Wohnungen zu finden, wie sie anderswo die Verfeinerung des gesellschaftlichen Lebens geschaffen hat. Die weiten Säle der römischen Fürsten liegen wüst und schweigend da; ihre trägen Bewohner ziehen sich in einige kleine, unbemerkte Zimmer zurück, und lassen die Fremden jene prachtvollen Gallerien, wo sich die schönsten Gemälde aus der Zeit Leo's X. vereinigen, ungehindert durchstreifen. Die römischen Großen sind jetzt dem pomphaften Luxus ihrer Vorfahren ebenso fern, als diese selbst es den strengen Tugenden der römischen Republik waren. Noch mehr geben die Landhäuser ein Bild der Vereinsamung, ein Bild von der Gleichgültigkeit, mit welcher ihre Besitzer inmitten des köstlichsten Aufenthaltes der Welt leben. Man lustwandelt in diesen endlosen Gärten, ohne sich's einfallen zu lassen, daß sie einen Herrn haben. Das Gras wächst in den Alleen; dagegen aber sind in eben diesen verlassenen Alleen die Bäume künstlich nach altfranzösischem Geschmack verschnitten: welche sonderbare Grillenhaftigkeit liegt in solchem Vernachlässigen des Nothwendigen und solcher Sucht nach abgeschmacktester Nutzlosigkeit. Aber man wird in Rom und den meisten andern Städten Italiens von der Neigung der Italiener zu überladenen Zierrathen recht oft so peinlich überrascht. Sie, die doch unaufhörlich die Einfalt der Antike vor Augen haben, sie lieben mehr das Glänzende, als das Gediegene und Bequeme; und besitzen überhaupt in jeder Beziehung die Vortheile und die Nachtheile einer nicht in gesellschaftliche Formen gefügten Lebensweise. Ihr Luxus ist mehr für die Fantasie, als für eigentlichen Genuß berechnet. Gesondert, wie sie sich von einander halten, haben sie den Geist der Spötterei nicht zu fürchten, der selten bis in die häuslichen Geheimnisse dringt; und wenn man den Contrast zwischen dem Aeußeren und dem Innern der Paläste sieht, könnte man oft mit Recht sagen, daß die meisten der italienischen Großen ihre Wohnungen einrichten, um das Erstaunen der Vorübergehenden zu erregen, aber nicht, um Freunde darin zu empfangen.

Nachdem sie die Paläste und Kirchen durchwandert hatten, führte Corinna den Freund nach der Villa Mellini. Von ihrem einsamen Garten aus, der keinen anderen Schmuck hat, als prachtvolle Bäume, sieht man in der Entfernung die Kette der Apenninen. Die Durchsichtigkeit der Luft färbt diese Berge, bringt sie einander näher und zeichnet sie dennoch auf eigenthümlich malerische Weise scharf von einander ab. Oswald und Corinna verweilten hier einige Zeit, um sich an dem zauberischen Himmel und dem Frieden der Natur zu erfreuen. Von diesem wunderbaren Frieden, dieser tiefen Ruhe macht man sich keine Vorstellung, wenn man nicht in südlichen Gegenden gelebt hat. An heißen Tagen ist nicht ein Hauch in der Luft zu fühlen; die zartesten Grashalme sind vollkommen unbeweglich; selbst die Thiere theilen die von dem schönen Wetter hervorgerufene, träge Erschlaffung; keine Fliege summt, kein Vogel singt, kein Wesen treibt sich noch mit irgendwelchen Bestrebungen umher, die ja alle so zwecklos und überflüssig scheinen; Alles schläft bis zu dem Augenblick, wo Sturm und Leidenschaft die gewaltige Natur erwecken, und diese nun mit Ungestüm aus ihrer Ruhe aufsteht.

Es giebt in den Gärten Roms eine große Anzahl immer grüner Bäume, welche die Milde des Klimas, die den Winter hinwegzutäuschen weiß, darin noch unterstützen. Breit und buschig gegipfelte, nahe bei einander stehende Pinien von eigenthümlicher Schönheit bilden eine Art von Ebene in den Lüften, deren Wirkung reizend ist, wenn man hoch genug steht, sie zu übersehen. Die niedern Bäume wachsen unter dem Schutz dieses grünen Gewölbes. Nur zwei Palmen finden sich in Rom, beide in Klostergärten; die eine, auf einer Anhöhe stehende, dient aus der Ferne als Gesichtspunkt, und mit Vergnügen sieht man diesen Abgesandten Afrika's in den verschiedenen Bildern Roms immer wieder auftauchen, – dieses Kind eines noch glühenderen als des italienischen Südens, das uns so viel neue Vorstellungen giebt.

»Finden Sie nicht auch«, sagte Corinna, als sie, neben Oswald stehend, den Blick über die Gegend schweifen ließ, »daß in Italien die Natur mehr zu Träumerei und Nachdenken auffordert, als irgendwo sonst? Man möchte wähnen, sie stände hier in näherer Beziehung zum Menschen, und der Schöpfer bediene sich ihrer als einer Sprache zwischen sich und dem Geschöpfe.« – »Gewiß so scheint es auch mir«, entgegnete Oswald, »aber wer weiß, ob es nicht die tiefe Rührung ist, welche Sie in meinem Herzen erwecken, was mich jetzt für alles Große und Schöne so empfänglich macht! Sie erst erschließen mir eine Weise des Nachdenkens, die auch von den äußeren Gegenständen ihren Stoff nimmt. Bis jetzt lebte ich nur mit dem Herzen, Sie haben meine Einbildungskraft erweckt. Aber diese Schönheit des Weltalls, die Sie mich erkennen lehren, wird mir doch nie Schöneres zeigen, als Ihren Blick, nie Süßeres, als Ihre Stimme!« – »Möchte dieses Gefühl, das ich Ihnen heute einflöße, so lange dauern, als mein Leben«, sagte Corinna, »oder möchte wenigstens mein Leben nicht länger dauern, als dies Gefühl!«

Oswald und Corinna beschlossen ihre Reise durch Rom mit der Villa Borghese, von allen römischen Gärten und Palästen derjenige, in welchem die Reichthümer der Natur und der Kunst mit dem gewähltesten Geschmack, dem meisten Glanz zusammengestellt sind. Es giebt dort Bäume von allen Gattungen und viel prächtiges Wasser. Eine Unzahl von Statuen, Vasen, antiken Sarkophagen mischt sich mit der jungen Frische der südlichen Natur. Die Mythologie der Alten scheint wieder verkörpert in unser Leben getreten zu sein. Am Rand der Gewässer ruhen Najaden und Nymphen in einem Hain, der ihrer würdig ist! Gräber unter elyseischen Schatten! Mitten auf einer Insel die Statue des Aeskulap; die der Venus scheint eben aus den Wellen emporzusteigen. Ovid und Virgil könnten an diesem, schönen Orte lustwandeln und sich noch im Zeitalter des Augustus glauben. Die in diesem Palast enthaltenen Meisterwerke der Bildhauerkunst verleihen ihm unvergänglichen Glanz. Durch die Bäume hindurch schimmert in der Ferne die Stadt Rom, St. Peter, die Campagna und jene langen Bogengänge, die Trümmer der Wasserleitungen, welche die Gebirgsquellen nach dem alten Rom führten. Hier ist für Alles gesorgt, für den Gedanken, für die Einbildungskraft, für die Träumerei. Die reinste Sinnlichkeit gesellt sich hier zu seelischem Genügen, und giebt so eine Ahnung von vollkommenem Glück. Aber wenn man nun fragt, weshalb dieser entzückende Aufenthalt nicht bewohnt wird, erhält man zur Antwort, daß die schlechte Luft es nicht gestatte, während des Sommers hier zu leben.

Diese ungesunden Dünste sind, so zu sagen, die Belagerer Roms, sie dringen jedes Jahr um einige Schritte weiter vor, und man ist gezwungen, ihrer Herrschaft die reizendsten Wohnplätze zu überlassen. Ohne Zweifel ist der Mangel an Bäumen in der Campagna und um die Stadt herum eine ihrer Ursachen, und vielleicht weihten die alten Römer ihre Wälder hauptsächlich deshalb den Göttinnen, damit sie vom Volke verschont blieben. Nunmehr sind zahllose Waldungen niedergeschlagen; könnte es denn auch wirklich in unsern Tagen noch so geheiligte Orte geben, daß die Habgier sie zu verwüsten unterließe? Die ungesunde Luft ist die Geißel der römischen Einwohner, und sie droht der Stadt mit gänzlicher Entvölkerung; aber sie erhöht noch die Wirkung, welche die, im Umkreise Roms liegenden, wundervollen Gärten hervorbringen: der schädliche Einfluß macht sich durch kein äußeres Anzeichen fühlbar; man athmet eine Luft, die rein und sehr angenehm scheint; die Erde ist lachend und fruchtbar; Abends ruht man in köstlicher Kühle von des Tages brennender Hitze aus: und dieses Alles – ist der Tod!

»Ich liebe solche geheime, unsichtbare Gefahr«, sagte Oswald zu Corinna, »die in Gestalt so milder Wahrnehmungen auftritt. Wenn der Tod nur der Aufruf zu einem glücklicheren Leben ist, wie ich fest glaube, warum sollte der Blumen Duft, der Schatten schöner Bäume, der erquickende Hauch des Abends – warum sollten sie nicht beauftragt sein, uns die Botschaft zu bringen? Freilich muß der Staat nach allen Seiten hin über die Erhaltung der Menschenleben wachen, doch die Natur hat ihre Geheimnisse, welche allein der Gedanke zu durchdringen vermag, und ich begreife leicht, daß Einwohner und Fremde, trotz der Gefahr, welcher sie während des schönsten Theiles des Jahres hier ausgesetzt sind, dieses Aufenthalts nicht müde werden.«

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