Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Fünftes Buch: Gräber, Kirchen und Paläste.
Erstes Kapitel
Oswald und Corinna waren Beide voller Befangenheit, als sie sich am folgenden Tage wiedersahen. Corinna hatte zu der Liebe, die sie erweckt, kein Vertrauen mehr. Oswald schien mit sich selbst unzufrieden; er besaß eine gewisse Charakterschwäche, die sich zuweilen gegen seine eigenen Empfindungen, wie gegen eine Tyrannei, aufzulehnen suchte; und so vermieden Beide, der letztverflossenen Tage zu erwähnen. – »Ich schlage Ihnen heute einen recht feierlichen Gang vor, der Sie aber gewiß interessiren wird: lassen Sie uns die Gräber besuchen; gehen wir zur letzten Ruhestätte derer, die einst hier, wo wir jetzt Ruinen bewundern, unter stattlichen Bauwerken wandelten.« – »O, Sie errathen, was meiner Seelenstimmung genehm ist«, sagte Oswald mit so schmerzlichem Nachdruck, daß Corinna schwieg, und nicht gleich ihn wieder anreden mochte. Doch der Wunsch, seinen Trübsinn durch lebhafte Theilnahme an allem Sehenswerthen zu verscheuchen, gab ihr bald den Muth dazu. »Sie wissen, Mylord«, sagte sie; »den Alten fiel es nicht ein, daß der Anblick der Gräber die Lebenden verstimmen könne; sie legten ihre Grabstätten absichtlich an die Heerstraßen, damit das Andenken großer Männer immer gewissermaßen vor Augen stehe und die Jugend in beredtem Schweigen zu Nacheiferung und Ruhmbegier ermahne.« – »Ach, wie beneide ich Jeden, in dessen Leid sich keine Reue mischt!« seufzte Oswald. – »Reue!« rief Corinna, »Sie sprechen von Reue? O, ich bin überzeugt, daß diese bei Ihnen nur eine Tugend mehr ist, eine Gewissenhaftigkeit des Herzens, ein zu hoch gespanntes Feingefühl.« – »Berühren Sie diesen Gegenstand nicht weiter, Corinna«, sagte Oswald; »in Ihrer glücklichen Heimat, da mögen die finstern Gedanken wohl vor des Himmels Bläue entfliehen; ein Schmerz aber, der sich bis auf den Grund unserer Seele grub, hat unser ganzes Dasein auch für immer untergraben.« – »Sie beurtheilen mich falsch«, antwortete Corinna; »wiewohl meine Natur dafür gemacht ist, das Glück voll und groß zu genießen, würde ich doch tiefer leiden, als Sie, wenn –«, sie endigte nicht. »Ich habe keinen andern Wunsch, Mylord«, fuhr sie dann fort, als, Sie ein wenig zu zerstreuen; mehr hoffe ich nicht.« – Die sanfte Antwort rührte Lord Nelvil, und als er jetzt so viel Schwermut!) in diesen Augen sah, die sonst in Leben und Feuer leuchteten, machte er sich den stillen Vorwurf, Corinnens frohe Sorglosigkeit getrübt zu haben; er bemühte sich, ihre Stimmung in den alten Ton zurückzuführen. Aber die Unruhe, welche Corinna über Oswalds Pläne, über die Möglichkeit seiner Abreise empfand, trübte gänzlich ihre gewohnte Heiterkeit.
Sie führte Lord Nelvil vor die Thore der Stadt nach der einstigen Via Appia. Diese die Campagna durchschneidende Straße wurde zu beiden Seiten von Gräbern eingefaßt, deren Trümmer sich unabsehbar, meilenweit hinaus erstrecken. Die Römer duldeten die Beerdigung ihrer Todten nicht innerhalb der Mauern der Stadt; nur die Grabstätten der Kaiser waren ausgenommen. Jedoch erhielt ein einfacher Bürger, Namens Publius Biblius, diese Gunst, als Belohnung seiner verborgenen Tugenden. Die Zeitgenossen ehren diese meist lieber, als alle übrigen.
Um auf die appische Straße zu gelangen, geht man durch das St. Sebastiansthor, früher . Cicero sagt, daß die ersten Gräber, welche man beim Heraustreten aus diesem Thore bemerke, die der Metellus, der Scipionen und der Servilius sind. Das Familiengrab der Scipionen ist denn auch wirklich an dieser Stelle gefunden und seither nach dem Vatikan gebracht worden. So der Asche der Todten einen anderen Ruheplatz anweisen, so die Ruinen aufrühren, das ist fast eine Entheiligung: die Einbildungskraft ist inniger, als man glaubt, mit dem sittlichen Gefühl verwachsen, man sollte sie nicht beleidigen. Unter so vielen, die Aufmerksamkeit fesselnden Gräbern theilt man die großen Namen nach Willkür aus, ohne seine Vermuthungen sicher feststellen zu können; aber eben diese Ungewißheit fordert eine beständige Theilnahme, die es nicht gestattet, vor einem dieser Denkmale mit Gleichgültigkeit zu stehen. Es giebt darunter welche, in denen Landleute ihre Wohnungen aufgeschlagen haben, denn die Römer verwendeten auf die Todtenurnen ihrer Freunde und ruhmgekrönten Mitbürger großen Raum und ziemlich weitläufige Gebäude. Sie hatten nicht jenes dürre Nützlichkeitsprincip, das, um einen Fuß breit Erde mehr anzubauen, das große Gebiet des Gefühls und des Gedankens wüste und unbestellt läßt.
Unfern der appischen Straße liegt ein Tempel, welchen die Republik der Ehre und Tugend errichtete; ein anderer, jenem Gotte geweiht, der Hannibals Umkehr veranlaßte; weiterhin die Quelle der Egeria, wo Numa von der Gottheit aller guten Menschen, dem in der Einsamkeit befragten Gewissen, sich Raths erholte. Es hat den Anschein, als ob in diesem Bereich nur die Gräber, wo hohe Tugend schläft, noch vorhanden wären. Aus den Jahrhunderten des Verbrechens findet sich kein Denkmal in der Nähe dieser großen Todten; ein ehrender Zwischenraum scheidet sie von der übrigen Welt, und ungestört walten erhabene Erinnerungen über ihnen.
Der Anblick der römischen Campagna ist von besonderer Eigenthümlichkeit. Gewiß ist sie in sofern eine vollständige Einöde zu nennen, als es dort weder Bäume, noch Wohnungen giebt. Aber der Boden ist mit üppiger, sich ewig erneuernder Vegetation bedeckt, und diese wuchernden Pflanzen ranken sich um die Grüfte, schmücken ihr verfallendes Gemäuer und scheinen allein zur Ehre der Todten da zu sein. Es ist, als verschmähe hier die stolze Natur allen Anbau von Menschenhand, seit ein Cincinnatus nicht mehr den Pflug leitet, der ihren Schooß durchfurchte; ungepflegt läßt sie ein freies Wachsthum gedeihen und will den Lebenden die Verwendung dieser Schätze nicht mehr gestatten. Wohl müssen diese unkultivirten Flächen Ackerbauern, Staatsökonomen und allen solchen mißfallen, welche die Erde mit berechnendem Gewinneseifer immer nur für das Bedürfniß der Menschen ausnützen wollen; träumerische Seelen aber, die über den Tod nicht weniger als über das Leben nachdenken, versenken sich gern in die Betrachtung dieser Umgegend von Rom, der die neuere Zeit auch nicht eine ihrer Eigentümlichkeiten geraubt hat, und verweilen gern auf einem Boden, der seine Todten so treu umfangen hält, der sie liebevoll mit nutzlosen Blumen zudeckt, und sie einhüllt in rankendes Grün, das sich der Erde dicht und liebkosend anschmiegt, als könne es sich nicht von der theuren Asche trennen.
Oswald gestand, daß man an dieser Stätte mehr ausruhen könne, als irgendwo sonst; die Seele leidet hier weniger durch die, vom Schmerz ihr immer wieder vorgehaltenen Bilder; man wähnt, die holde Freude an dieser Luft, dieser Sonne, diesem Grün mit den Dahingegangenen zu theilen. Corinna beobachtete, welch tiefen Eindruck dies Alles auf Lord Nelvil machte, und schöpfte daraus für ihn Hoffnung zum Besseren. Zwar bildete sie sich nicht ein, Oswald trösten zu können, und sie hätte auch nicht einmal gewünscht, den Kummer um den verlorenen Vater aus seinem Herzen zu bannen; aber es kann selbst der größeste Schmerz etwas Süßes und beinahe Wohltuendes haben, auf das man solche Unglückliche hinweisen muß, die bisher nur des Leides Bitterkeit empfanden; es ist die einzig mögliche Weise, ihnen wohlthätig zu sein.
»Verweilen wir hier an diesem Grabmal«, sagte Corinna, »dem einzigen, das fast noch ganz erhalten ist. Es ist nicht das eines berühmten Römers, sondern der jungen Cäcilia Metella, deren Vater es ihr errichten ließ.« – »Glücklich die Kinder, welche in den Armen ihrer Eltern sterben«, sagte Oswald, »und an dem Herzen dessen, der ihnen das Leben gab, auch den Tod empfangen; so verliert selbst dieser seinen Stachel.« – »Ja«, entgegnete Corinna weich, »glücklich Alle, die nicht Waisen sind. Sehen Sie, man hat auf diesem Grabmal Waffen abgebildet, obwohl es das einer Frau ist; doch die Grabstätten der Heldentöchter dürfen sich mit den Trophäen der Väter schmücken; Unschuld und Tapferkeit vereinigen sich schön. Eine Elegie des Properz schildert besser als irgend ein Schriftstück des Alterthums diese Würdighaltung des römischen Weibes, die reiner noch und mehr voller Ehrfurcht ist, als selbst der verehrende Glanz, mit dem das ritterliche Mittelalter seine Frauen umgab. Cornelia, die in ihrer Blüthe starb, sagt dem Gatten die rührendsten Abschieds- und Trostesworte, und man fühlt in solcher Sprache die ganze Achtbarkeit und Heiligkeit der Familienbande. Der edle Stolz eines fleckenlosen Lebens malt sich in dieser majestätischen Dichtkunst der Lateiner, einer Dichtkunst, die strenge und vornehm ist, wie die Herren der Welt. »Ja«, sagt Cornelia, »kein Flecken hat mein Leben verdunkelt; rein habe ich gelebt, von der Fackel Hymens bis zur Todesfackel!«[1] »Welch schönes Wort!« rief Corinna, »welch erhabenes Bild! und wie beneidenswerth ist das Loos einer Frau, die sich so die vollkommenste Einheit in ihrem Geschick erhalten konnte, und die nur eine Erinnerung mit in das Grab nimmt! Sie genügt auch für ein Leben.« –
Während Corinna diese letzten Worte sprach, hatten sich ihre Augen mit Thränen gefüllt; ein grausamer Argwohn bemächtigte sich Oswalds. »Corinna!« rief er, »Corinna, hat Ihre reine Seele sich denn etwas vorzuwerfen? Wenn ich über mich bestimmen konnte, wenn ich mich Ihnen antragen dürfte, würde ich in der Vergangenheit keine Nebenbuhler haben? Würde ich auf meine Wahl stolz sein dürfen? Würde Eifersucht nicht mein Glück beunruhigen?« – »Ich bin frei, und liebe Sie, wie ich niemals liebte«, antwortete Corinna; »was wollen Sie noch mehr? Ist es nöthig, mich zu dem Bekenntniß zu verurtheilen, daß, ehe ich Sie kannte, mich die Sehnsucht zu lieben, über das Interesse, welches man mir abgewann, vielleicht hat täuschen können? Und giebt es für die Verirrungen, in welche das Gefühl, oder vielmehr ein eingebildetes Gefühl uns hineinzog, nicht göttliche Nachsicht im Menschenherzen?«– Bescheidenes Erröthen lag auf ihrer Stirn und ihren Wangen. Oswald schwieg in heftiger Bewegung. In Corinnens Zügen war ein Ausdruck von Reue und Schüchternheit, der es ihm unmöglich machte, sie strenge zu beurtheilen, und es schien ihm, als ob der Himmel selbst sie mit verklärendem Strahl umgebe und sie frei spreche. Er ergriff ihre Hand, drückte sie an sein Herz und kniete vor ihr nieder, ohne zu sprechen, ohne etwas zu versprechen, aber mit einem Liebesblick, der Alles hoffen ließ.
»Glauben Sie mir«, sagte Corinna, »es ist besser, für die Zukunft keine Pläne zu machen. Die glücklichsten Stunden des Lebens sind immer noch die, welche ein gnädiger Zufall uns gewährt. Ist denn dies ein Ort – hier diese Stätte der Todten, – um an Künftiges zu denken?« – »Nein!« rief Lord Nelvil, »nein, ich glaube an keine Zukunft, die uns scheiden könnte. Diese vier Tage der Trennung haben mich nur zu wohl gelehrt, daß ich nur noch in Ihnen lebe.« – Corinna antwortete nichts auf dieses beglückende Wort, aber sie bewahrte es heilig in ihrem Herzen. Stets fürchtete sie, durch ein Gespräch über das eine Gefühl, das sie jetzt ausschließlich beschäftigte, Oswald auf eine Darlegung seiner Zukunftspläne hinzuleiten, ehe längere Gewohnheit ihm das Scheiden unmöglich mache. Oft sogar lenkte sie seine Aufmerksamkeit absichtlich auf äußere Gegenstände; wie jene Sultanin in dem arabischen Mährchen, die durch tausend verschiedene Erzählungen die Theilnahme des Geliebten zu fesseln suchte, um die Entscheidung ihres Schicksals bis zu dem Momente hinauszuschieben, wo die Anmuth ihres Geistes den Sieg davon getragen haben würde.
[1] Anmerkung der Autorin: Augustus ist zu Nola gestorben, als er nach den Bädern von Brundusium reiste, die ihm verordnet waren; doch verließ er Rom schon sterbend.