Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Drittes Buch: Corinna.
Zweites Kapitel
Graf d'Erfeuil kam nach seiner Gewohnheit Morgens zu Lord Nelvil; er warf diesem vor, den vorhergehenden Abend bei Corinna versäumt zu haben; »Sie würden überdies sehr glücklich gewesen sein, wenn Sie dort gewesen wären.« – »Und weshalb?« – »Weil ich gestern die Gewißheit erlangt habe, daß Corinna lebhaftes Interesse an Ihnen nimmt.« – »Immer noch diese Leichtfertigkeit!« unterbrach ihn Lord Nelvil ungeduldig; »wissen Sie denn nicht, daß ich dergleichen nicht hören kann, noch mag?« – »Sie nennen die Schnelligkeit meiner Beobachtung Leichtfertigkeit?« fragte der Graf. »Habe ich darum weniger Recht, weil ich früher Recht habe? Ihr wäret wahrhaftig Alle für das glückliche Zeitalter der Patriarchen geboren, wo der Mensch fünf Jahrhunderte zu leben hatte; man hat uns mindestens vier davon gestrichen, lassen Sie sich das gesagt sein.« – »Meinetwegen«, erwiderte Oswald, »und diese plötzliche Beobachtung, was hat sie Ihnen entdeckt?« – »Daß Corinna Sie liebt! Ich besuchte sie gestern; sie nahm mich sehr gut auf, – sicherlich; aber ihre Augen waren auf die Thür gerichtet, um zu sehen, ob Sie mir folgten. Sie versuchte anfangs von andern Dingen zu sprechen; aber da sie sehr lebhaft und sehr natürlich ist, fragte sie endlich ganz einfach, warum Sie mich nicht begleitet hätten. Ich habe darauf ziemlich schlecht von Ihnen gesprochen, – Sie werden mir das nicht weiter übel nehmen; ich sagte unter Anderem, Sie wären ein finstrer und seltsamer Mensch; mit den Lobeserhebungen, in denen ich mich außerdem über Sie erging, verschone ich Sie.«
»Er ist traurig, sagte Corinna; ohne Zweifel hat er einen theuren Angehörigen verloren. Für wen trägt er das Trauerkleid? – Für seinen Vater, Madame, obgleich mehr als ein Jahr verflossen ist, seit er ihn verlor; und da nach dem Naturgesetz wir doch nun einmal länger, als unsere Eltern leben sollen, bilde ich mir ein, daß irgend ein anderer, geheimer Grund die Ursache seiner tiefen und anhaltenden Schwermuth ist. – O, rief Corinna, ich bin weit entfernt, zu glauben, daß dem Anscheine nach gleiche Schmerzen auch für alle Menschen die gleichen sein müssen. Der Vater Ihres Freundes, und Ihr Freund selbst sind vielleicht nicht von gewöhnlicher Art; ich bin fast geneigt, dies zu glauben. – Ihre Stimme war sehr sanft, mein lieber Oswald, als sie diese letzten Worte sprach.« – »Sind dies schon alle angekündigten Beweise von Theilnahme?« fragte Oswald. – »Nun, mein Gott«, entgegnete der Graf, »das genügt doch, um des Geliebtwerdens sicher zu sein; aber weil Sie mehr verlangen, sollen Sie mehr hören; das Wichtigste habe ich für's Ende verspart. Fürst Castel-Forte kam dazu, und berichtete, ohne zu wissen, daß er von Ihnen sprach, Ihr ganzes Abenteuer von Ancona; er erzählte es wirklich gut, und mit vieler Lebhaftigkeit, soweit ich dies, Dank den zwei italienischen Stunden, die ich bereits genommen, beurtheilen kann; aber es giebt in den fremden Sprachen so viele französische Worte, daß ein Franzose sie ja fast alle versteht, ohne sie gelernt zu haben. Ueberdies erklärte mir Corinnens Miene, was mir etwa entging. So sichtbar konnte man aus derselben die Aufregung ihres Herzens lesen! Sie athmete kaum, aus Furcht, ein einziges Wort zu verlieren, und als man nach dem Namen dieses Engländers fragte, stieg ihre Unruhe so sehr, daß es leicht zu ersehen war, wie bang sie fürchtete, es könne ein Anderer, als der Ihre, ausgesprochen werden!
Fürst Castel-Forte versicherte, er wisse nicht, wer dieser Engländer sei; und darauf rief Corinna, indem sie sich lebhaft zu mir wendete: »Nicht wahr, Herr Graf es ist Lord Nelvil?« – »Ja, Madame«, antwortete ich, »Sie rathen gut.« –Corinna war jetzt in Thränen. Sie hatte während der Erzählung nicht geweint; was in aller Welt gab es an dem Namen des Helden Ergreifenderes als an der Geschichte selbst?« – »Sie weinte!« rief Lord Nelvil, »ach, daß ich nicht dort war!« – Dann, plötzlich inne haltend, senkte er die Augen in äußerster Befangenheit; doch sprach er schnell weiter, denn er fürchtete, daß Graf d'Erfeuil seine geheime Freude bemerken, und dann auch wohl leicht trüben könne. »Wenn unser Abenteuer von Ancona erzählt zu werden verdient, gebührt auch Ihnen die Ehre davon, lieber Graf.« »Es wurde wohl«, antwortete dieser, »von einem sehr liebenswürdigen Franzosen, welcher dort mit Ihnen war, gesprochen; aber Niemand, außer mir, achtete auf diese interessante Episode. Die schöne Corinna bevorzugt Sie, und hält Sie ohne Zweifel für den Getreueren von uns Beiden. Der sind Sie nicht; vielleicht selbst werden Sie ihr größeres Leid bereiten, als ich es je gethan hätte. Aber die Frauen lieben den Schmerz, vorausgesetzt, daß es ein romantischer sei: folglich findet sie an Ihnen Gefallen.« – Lord Nelvil litt von jedem Wort des Grafen, doch was sollte er ihm erwidern? Es war des Franzosen Art, weder zu streiten, noch aufmerksam genug zuzuhören, um dann eine Meinung auszutauschen. Wenn er seine Worte einmal hingeworfen, interessirten sie ihn nicht mehr; und das Beste, was man thun konnte, war, sie so schnell als er selbst zu vergessen.