Corinna oder Italien
von Anna Louise Germaine de Staël
Drittes Buch: Corinna.
Erstes Kapitel
Auch Graf d'Erfeuil hatte der Feier auf dem Kapitol beigewohnt; am folgenden Tage kam er zu Lord Nelvil: »Mein theurer Oswald, darf ich Sie heute Abend bei Corinna einführen?« »Wie!« rief Oswald, »so sind Sie ihr bekannt?« »Nein«, erwiderte der Graf, »aber eine so berühmte Persönlichkeit ist immer geschmeichelt, wenn man sie zu sehen wünscht. Ich habe ihr folglich heute Morgen geschrieben, und für Sie und mich um die Erlaubniß gebeten, ihr aufwarten zu dürfen.« »Es wäre mir lieb gewesen«, antwortete Oswald, »wenn Sie dies nicht ohne meine Einwilligung gethan hätten!« »Sie sollten mir für diese Beseitigung einiger langweiliger Förmlichkeiten dankbar sein«, entgegnete der Graf. »Statt zu einem Gesandten, von diesem zu einem Cardinal, mit diesem zu irgend einer hochgestellten Frau zu gehen, welche endlich Sie bei Corinna eingeführt hätte, stelle ich Sie vor, Sie mich, und wir werden Beide willkommen sein.«
»Ich habe weniger Selbstvertrauen, als Sie, und das sicherlich mit Grund«, erwiderte Lord Nelvil; »diese übereilte Bitte hat Corinna mißfallen, fürchte ich.« »Durchaus nicht, das versichere ich Sie«, sagte Graf d'Erfeuil; »dazu ist sie zu geistreich; auch ist ihre Antwort sehr liebenswürdig.« »Sie hat Ihnen also geantwortet? Und was schreibt sie, lieber Graf?« »Ach so, lieber Graf!« sagte d'Erfeuil lachend; »nun, ich sehe, Sie besänftigen sich schon, seit Sie wissen, daß Corinna mir antwortete! Aber was thut's: ich liebe Sie, und Alles ist verziehen. Ich muß Ihnen freilich gestehen, daß in meinem Billet mehr von mir, als von Ihnen die Rede war, wogegen man in der Antwort leider Sie voranzusetzen scheint; doch bin ich nie auf meine Freunde eifersüchtig.« »Nun gewiß«, erwiderte Nelvil, »ich denke nicht, daß weder Sie noch ich uns schmeicheln dürften, Corinna zu gefallen; und was mich betrifft: Alles, was ich wünsche, ist, mich bisweilen des Verkehrs mit einer so außerordentlichen Frau erfreuen zu können. Auf heute Abend also, weil Sie es so eingerichtet haben.« – »Sie begleiten mich?« fragte Graf d'Erfeuil. – »Nun, ja doch«, entgegnete Lord Nelvil mit sichtlicher Verlegenheit. – »Warum also«, fuhr d'Erfeuil fort, »warum beklagten Sie sich so sehr über mein Verfahren? Sie endigen, wie ich angefangen habe; aber man mußte Ihnen wohl den Vorzug lassen, der Zurückhaltendere zu sein – vorausgesetzt, daß Sie dabei nichts verlieren. Diese Corinna ist wirklich ein reizendes Geschöpf! voller Geist und Anmuth! zwar habe ich, da sie italienisch sprach, nicht genau verstanden, was sie sagte; doch nach ihrem Aussehen möchte ich wetten, daß sie gut französisch kann; nun, wir werden das heute Abend erfahren. Ihre Lebensweise ist eigentümlich; sie ist reich, jung, unabhängig, doch Niemand kann mit Gewißheit angeben, ob sie Liebhaber hat oder nicht. Gegenwärtig indeß scheint sie Keinen zu bevorzugen; es ist auch nicht zu verwundern; schwerlich kann sie in diesem Lande einem ihrer würdigen Manne begegnen.« – Graf d'Erfeuil fuhr noch eine Zeitlang in dieser Weise zu reden fort, ohne von Oswald unterbrochen zu werden. Er sagte, genau genommen, nichts Ungeziemendes; aber dennoch verletzte er des Anderen Feingefühl unausgesetzt dadurch, daß er von Dingen, die Jenen näher berührten, entweder zu gründlich oder zu leichtfertig sprach. Es giebt Rücksichten, die selbst mit Geist und Gesellschaftsformen nicht erlernt werden, und man kann das Herz verwunden, ohne die Gesetze der vollendetsten Höflichkeit zu verletzen.
Lord Nelvil war den ganzen Tag hindurch, im Hinblick auf den Abend, in rastloser Spannung, doch verscheuchte er, so viel er es vermochte, die beunruhigenden Gedanken, und suchte sich zu überreden, daß eine Neigung, weil sie uns süß und theuer sei, unser Lebensschicksal deshalb noch nicht zu entscheiden brauche. Trügerische Sicherheit! denn an den Empfindungen, welche sie selber für vorübergehend hält, findet die Seele kein rechtes Genüge.
Die Reisegefährten erreichten Corinnens Wohnung; diese lag in dem Viertel der Transteveriner, ein wenig hinter der Engelsburg. Seine Lage am Ufer des Tiber war ein Vorzug des im Innern mit dem vollendetsten Geschmacke ausgestatteten Hauses. Den Salon schmückten die besten Statuen Italiens: Niobe, Laokoon, die mediceische Venus, der sterbende Fechter; und in dem Zimmer, welches Corinnens bevorzugter Aufenthalt war, fanden sich Bücher, verschiedene musikalische Instrumente, und einfache bequeme Möbel, die so geordnet waren, daß man leicht einen Kreis bilden, und in traulicher Unterhaltung sich gehen lassen konnte. Corinna war noch nicht da, als Oswald eintrat, und während er sie erwartete, musterte er nicht ohne einige Beklommenheit ihre Gesellschaftsräume. Er fand hier in tausend Einzelheiten die kennzeichnenden Vorzüge der drei Nationen vertreten: den französischen Geschmack an der Geselligkeit, die Liebe der Engländer zu den Wissenschaften, und das italienische Kunstgefühl.
Corinna erschien endlich; sie war ungesucht, doch immerhin malerisch gekleidet. In den Haaren trug sie antike Kameen, am Halse eine Korallenschnur. Sie benahm sich mit edler, leichter Höflichkeit; man erkannte aber selbst im vertrauten Freundeskreise die Gottheit vom Kapitol in ihr wieder, wiewohl sie doch in Allem so vollkommen einfach und natürlich war. Zuerst begrüßte sie den Grafen d'Erfeuil, dann aber, als bereue sie diese Art von Falschheit, trat sie Oswald näher. Lord Nelvils Name machte sichtlich eine eigenthümliche Wirkung auf sie; zweimal wiederholte sie denselben mit bewegter Stimme, als ob er ihr ein rührendes Gedenken wach rufe.
Endlich sagte sie Lord Nelvil italienisch einige anmuthsvolle Worte über die ihr Tags vorher durch das Aufheben des Kranzes bewiesene Gefälligkeit. Oswalds Antwort suchte die Bewunderung auszudrücken, welche sie ihm eingeflößt, und er beklagte sich sanft, daß sie ihn nicht englisch anrede. »Bin ich Ihnen heute fremder, als gestern?« fügte er hinzu. »Nein, gewiß nicht«, erwiderte Corinna; »aber wenn man, wie ich, mehrere Jahre seines Lebens hindurch, zwei bis drei Sprachen neben einander brauchte, wird uns die eine oder die andere durch die Gefühle eingegeben, die wir eben auszudrücken wünschen.« »Sicherlich ist doch das Englische Ihre Muttersprache«, sagte Oswald; »die Sprache, welche Sie mit Ihren Freunden reden, diejenige....« – »Ich bin Italienerin«, unterbrach ihn Corinna schnell; »verzeihen Sie, Mylord, aber es scheint, ich finde auch bei Ihnen den Nationalstolz wieder, der Ihre Landsleute so oft kennzeichnet. In diesem Lande sind wir bescheidener: wir sind weder zufrieden mit uns, wie die Franzosen, noch stolz auf uns, wie die Engländer. Ein wenig Nachsicht von Seiten der Fremden genügt hier; und da es uns seit lange schon verwehrt ist, eine Nation zu sein, begehen wir oft das große Unrecht, als Individuen der Würde zu ermangeln, die wir als Volk verloren haben. Doch wenn Sie die Italiener erst kennen, werden Sie sehen, daß ihr Charakter einige Spuren antiker Größe behielt, einige seltene Spuren, halb verloschen zwar, die aber in glücklicheren Zeiten wieder hervortreten würden. Ich werde mit Ihnen zuweilen englisch sprechen, nicht immer; das Italienische ist mir theuer; ich habe viel gelitten«, fügte sie seufzend hinzu, »um in Italien leben zu können.«
Graf d'Erfeuil machte Corinna liebenswürdige Vorwürfe, daß sie ihn ja ganz vergesse, wenn sie sich in einer ihm fremden Sprache ausdrücke. »Schöne Corinna«, sagte er, »Erbarmen! sprechen Sie französisch! Sie sind wahrlich dessen würdig!« Corinna lächelte zu der Schmeichelei, und erwiderte in geläufigem Französisch zwar, aber mit englischem Accent. Graf d'Erfeuil war darüber nicht minder als Lord Nelvil erstaunt; und da der Graf meinte, man könne Alles sagen, vorausgesetzt nur, man sage es mit Anmuth, und ferner behauptete, es gäbe nur eine Unhöflichkeit der Form, nicht des Meinens, fragte er Corinna ohne Umschweife nach der Ursache jener Eigentümlichkeit. Sie schien anfangs von dieser plötzlichen Wendung des Gesprächs betreten, dann sagte sie, sich sammelnd: »Wahrscheinlich, Herr Graf, habe ich das Französische von einem Engländer gelernt.« Er erneuerte seine Fragen lachend, aber beharrlich. Corinna, die immer verlegener dadurch geworden war, erwiderte endlich: »Seit den vier Jahren, Herr Graf, die ich hier lebe, hat keiner meiner Freunde, keiner von Denen, die doch sonst mir vielen Antheil beweisen, nach meinem Schicksale geforscht; sie haben immer bald verstanden, daß es mir schmerzlich sei, davon zu reden.« Diese Antwort machte den Fragen des Grafen ein Ende. Aber Corinna glaubte nun ihn verletzt zu haben; sie fürchtete, wiewohl unbewußt, er könne, da er mit Lord Nelvil eng verbunden schien, ihr durch ein ungünstiges Urtheil bei diesem schaden, und so bemühte sie sich bald, ihm wieder zu gefallen.
Fürst Castel-Forte trat jetzt mit einigen von Corinnens römischen Freunden ein. Es waren unter ihnen Männer von liebenswürdigem und heiterem Geist, mit gefälligen Formen und lebhaftem Verständniß für das Anregende in dem Gespräch der Andern, mit seiner Empfindung für das, was empfunden zu sein verdient. Die Trägheit der Italiener hindert sie, in der Gesellschaft, wie auch sonst im Leben, den ganzen Geist zu zeigen, den sie doch wirklich besitzen. Selbst in der Zurückgezogenheit kultiviren die meisten von ihnen die Geistesfähigkeiten nicht, welche ihnen die Natur gegeben. Dagegen freuen sie sich warm, an allem Schönen, was ihnen ohne Mühe zufällt.
Corinna hatte viel Witz; sie bemerkte das Lächerliche mit dem Scharfsinn einer Französin, und schilderte es mit den Farben einer Italienerin. Aber ihre Herzensgüte blieb auch hier unverkennbar, sie schaute allenthalben hervor, und nie konnte man Berechnetes oder Feindliches in ihren Einfällen bemerken. Wie ja denn immer die kälteren Naturen leichter zu beleidigen im Stande sind; wahrend der warme Geistesaufschwung sehr lebhafter Menschen fast stets von großer Gutmüthigkeit begleitet wird.
Oswald fand Corinna von einer Anmuth, deren holdselige Weise ihm durchaus neu war. Eine große und schreckliche Erfahrung seines Lebens war ihm durch eine Frau geschehen, durch eine hübsche und geistreiche Französin; aber Corinna glich dieser in keiner Beziehung.
Ihre Unterhaltung war gewissermaßen eine Mischung aller Geistesarten; in ihr vereinigte sich Begeisterung für die Kunst und Kenntniß der Welt, Feinheit des Empfindens und Gedankentiefe, endlich der ganze Zauber geistsprühender Unvorsichtigkeit, ohne daß darum ihre Gedanken unvollständig, ihre Reflexionen oberflächlich gewesen wären. Oswald war erstaunt und entzückt, beunruhiget und angezogen, er begriff kaum diese strahlende Vielseitigkeit, und fragte sich, ob das einigende Band so vieler, beinahe entgegengesetzter Eigenschaften Inkonsequenz oder Superiorität sei; ob sie aus dem Reichthum, Alles zu verstehen, oder weil sie Alles nach einander vergaß, so in einem Augenblick von der Schwermuth zur Heiterkeit, vom Tiefsinn zum Scherz, von der staunenswürdigsten Entfaltung ihrer Kenntnisse und Gedanken, zu der verführerischen Anmuth einer Frau überzugehen vermochte, die gefallen und einnehmen will. Doch lag so vollkommener Adel in diesem edlen Wunsche zu gefallen, daß ihm nur mit ächter Hochachtung begegnet werden konnte.
Fürst Castel-Forte war sehr mit Corinna beschäftigt, wie denn alle Italiener ihres Kreises ihr eine Zuneigung bewiesen, die sich in den zartesten Aufmerksamkeiten, in den angelegentlichsten Huldigungen äußerte. Dieser beständige Kultus, mit welchem man sie umgab, breitete über alle ihre Lebenstage einen gewissen Festesglanz; und Corinna war glücklich, so geliebt zu sein, glücklich, wie man es über ein schönes Klima, über süße Harmonien, über irgend welche angenehme Eindrücke im Allgemeinen ist. Das tiefe und große Gefühl der Liebe lag noch nicht auf ihren Zügen, die ganz Leben und Beweglichkeit waren. Oswald beobachtete sie schweigend; seine Gegenwart erhöhte ihre Liebenswürdigkeit; nur zuweilen, wenn ihr Gespräch am glänzendsten war, hielt sie, über seine äußere Ruhe verwundert, inne; sie wußte nicht, ob er ihr im Geheimen beistimme, oder sie tadle, und ob seine englische Anschauung ihm gestatte, derartigen Vorzügen einer Frau Beifall zu zollen.
Oswald war von Corinnens Zauber viel zu sehr hingerissen, um sich seiner früheren Ansichten über die, den Frauen ziemende Zurückgezogenheit zu erinnern; dagegen fragte er sich, ob man ihre Liebe erwerben könne, ob es möglich sei, auf sich allein so viele Strahlen des Glücks zu vereinigen? Er war geblendet und verwirrt, und obgleich sie ihn bei seinem Fortgehen sehr höflich zum Wiederkommen einlud, ließ er doch einen ganzen Tag verstreichen, ohne sie aufzusuchen; mit Schrecken gewahrte er die Sehnsucht, die ihn so mächtig zu ihr zog.
Zuweilen versuchte er den unseligen Irrthum seiner ersten Jugend gegen dieses Gefühl zu halten; doch mit Abscheu wies er dann den Vergleich zurück. Denn was ihn damals gefesselt hatte, war Kunst, und eine perfide Kunst, während Corinnens Wahrhaftigkeit über jeden Zweifel sich erhob. Woher kam ihre anziehende Macht? Von einem geheimen Zauber? Von ihrer dichterischen Begeisterung? War sie Armida oder Sappho? Durfte man hoffen, einen so hochfliegenden Geist jemals zu beherrschen? Wer konnte das entscheiden; aber jedenfalls fühlte man, daß nicht die Gesellschaft, sondern der Himmel selber dieses ungewöhnliche Weib gebildet, und daß ihr Geist der Nachahmung ebenso unfähig sei, als ihr Charakter der Verstellung. »O mein Vater!« rief Oswald; »wenn du Corinna gekannt hättest, wie würdest du sie beurtheilt haben?«