Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Erstes Buch: Oswald

Fünftes Kapitel

Oswald eilte durch die Mark von Ancona und den Kirchenstaat nach Rom, ohne irgend etwas zu beachten, ohne sich für irgend etwas zu interessiren; seine schwermüthige Stimmung war davon die Ursache, und dann eine gewisse natürliche Schlaffheit, welcher ihn nur heftig erregte Leidenschaft zu entreißen vermochte. Der Geschmack für die schönen Künste war bei ihm noch unentwickelt; er hatte nur in Frankreich gelebt, dort ist die Gesellschaft Alles! und in London, wo wieder jedes andere Interesse von der Politik verschlungen wird. Noch versenkte sich seine bisher von so vielem Leid hingenommene Einbildungskraft nicht tief und ganz in die Wunder der Natur, in die Meisterwerke der Kunst.

Graf d'Erfeuil dagegen lief in jeder Stadt, mit einem Reiseführer in der Hand, umher, und hatte davon das doppelte Vergnügen, seine Zeit mit dem Durchstöbern von allerlei nutzlosem Zeug hinzubringen, und dann zu versichern, daß er nichts gesehen, was für den, der Frankreich kenne, noch der Rede werth sei. Des Grafen Blasirtheit entmuthigte Oswald vollends; außerdem hegte er gegen Italien und die Italiener manche Vorurtheile; das Geheimniß dieses Volkes und seines Landes hatte sich ihm noch nicht offenbart, ein Geheimniß, das man eher durch Divination zu verstehen suchen muß, als ihm mit dem Geiste des analytischen Urtheils, der in England so besonders vorherrschend ist, gegenübertreten zu wollen.

Die Italiener sind viel merkwürdiger durch das, was sie waren und sein könnten, als durch das, was sie gegenwärtig sind. Die Stadt Rom ist von einer Wüste umgeben, und dieser von Ruhm erschöpfte Boden, der weiteres Hervorbringen zu verschmähen scheint, ist für den, welcher ihn allein mit Nützlichkeitsgedanken betrachtet, nichts als ein unfruchtbares, unbebautes Stück Land. Oswald, von Kindheit auf an die Liebe zum Geregelten, an den öffentlichen Wohlstand gewöhnt, empfing zuerst, als er diese verlassenen Flächen in der Nähe Roms, der einstigen Königin der Welt, übersah, einen sehr ungünstigen Eindruck; streng tadelte er die Trägheit der Bewohner, und ihrer Lenker. Lord Nelvil beurtheilte Italien als aufgeklärter Staatsökonom, Graf d'Erfeuil als Weltmann: so empfand der Eine aus Verständigkeit, der Andere aus Oberflächlichkeit nicht die Wirkung, welche die Campagna Roms auf denjenigen macht, der sich in so viel Erinnerungen und Verluste, in die Schönheiten der Natur und das ruhmvolle Unglück lebhaft hineingedacht, welche alle über dieses Land einen wunderbaren Zauber verbreiten.

Graf d'Erfeuil brach über die Umgebungen Roms in drolliges Wehklagen aus. »Was!« rief er, »keine Landhäuser, keine Equipagen, nichts was die Nähe einer großen Stadt ankündigte! O, guter Gott! welche Oede!« Als sie sich den Thoren näherten, wiesen die Postillone mit Entzücken darnach hin. »Sehen Sie, sehen Sie! Und dort ist die Kuppel von St. Peter.« So zeigen die Neapolitaner ihren Vesuv, so die Küstenbewohner das Meer. »Man glaubt den Invalidendom zu sehen!« rief Graf d'Erfeuil. Dieser mehr patriotische, als richtige Vergleich zerstörte den Eindruck, welchen Oswald von dem ersten Schauen dieses erhabenen, durch Menschenkraft entstandenen Wunderwerks hätte empfangen können. Nicht am sonnigen Tage oder bei schöner Nacht kamen sie nach Rom, sondern Abends in grauem Wetter, das alle Gegenstände umnebelt und entfärbt. Sie fuhren über den Tiber, ohne es zu bemerken, und gelangten durch die Porta del Popolo auf den Corso, welcher zwar die größeste Straße des modernen Roms ist, aber auch jenem Stadttheile angehört, der die wenigste Originalität, und die meiste Aehnlichkeit mit andern großen Städten Europa's besitzt.

Das Volk lustwandelte in den Straßen; auf dem Platze, welchen die Säule des Antonius schmückt, zogen Puppentheater und Marktschreier zahlreiche Gruppen herbei. Oswalds ganze Aufmerksamkeit wurde durch das Zunächstliegende gefesselt. Der Name, der Begriff: »Rom« durchschauerte seine Seele noch nicht; er fühlte nur die bange Vereinsamung, welche uns das Herz zusammenschnürt, wenn wir eine fremde Stadt betreten, wenn wir die zahllosen Menschen sehen, denen unser Dasein ganz unbekannt ist, und mit welchen uns kein gemeinsames Interesse verbindet. Solche, für Jeden schon traurige Betrachtungen sind es für den Engländer noch viel mehr, dessen Gewohnheit es besonders ist, in sich abgeschlossen zu leben, und sich schwer den Sitten fremder Nationen anzubequemen. In dem weiten Caravanserai Rom ist Jeder nur Gast, selbst die Römer scheinen hier nicht wie Besitzende zu leben, sondern »wie Pilger, die unter Ruinen rasten.« [1] – Oswald wünschte sehnlichst mit sich allein zu sein, und ging nicht einmal aus, um die Stadt in Augenschein zu nehmen. Er war weit entfernt zu ahnen, wie bald dieses Land, das er mit so niedergeschlagenen und traurigen Gefühlen betrat, ihm Quellen reichen Denkens und neuer Freuden bieten werde.


[1] Anmerkung der Autorin: Diese Betrachtung ist einem Aufsatze über Rom von Wilhelm von Humboldt entlehnt, der bekanntlich preußischer Gesandter in Rom war.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12