Corinna oder Italien

von Anna Louise Germaine de Staël

Erstes Buch: Oswald

Viertes Kapitel

<xml></xml> Ein unvorhergesehenes Ereigniß vergrößerte um Vieles die Hochschätzung, welche Graf d'Erfeuil, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, für seinen Reisegefährten empfand. Lord Nelvils Gesundheitszustand hatte ihn gezwungen, einige Tage in Ancona zu rasten. Berge und Meer vereinigen sich, dieser Stadt eine sehr schöne Lage zu bereiten; dazu geben ihr die vielen Griechen, welche, nach orientalischer Sitte, arbeitend vor ihren Buden sitzen, und die Verschiedenheit der morgenländischen Trachten, denen man in den Straßen begegnet, ein eigenthümliches und fesselndes Gepräge. Alle Kunst der Civilisation strebt unaufhörlich darnach, die Menschen in Erscheinung und Wirklichkeit einander gleich zu machen; dagegen Geist und malerischer Sinn sich in den Abweichungen gefallen, welche die Nationen charakterisiren. Die Menschen gleichen einander nur in der Liebe und in der Selbstsucht; alles Uebrige ist eigenartig. Darum gewährt die Verschiedenheit der Volkstrachten nicht blos den Augen ein angenehmes Vergnügen; es scheint, als mache sie auch eine neue Weise des Empfindens und Urtheilens nothwendig.

Der griechische, katholische und jüdische Kultus bestehen in Ancona friedlich und gleichberechtigt nebeneinander. Die Ceremonien dieser verschiedenen Religionsbekenntnisse weichen zwar ungemein von einander ab; doch ein gleiches Gefühl steigt aus ihnen zum Himmel empor, – ein gleicher Schmerzensschrei,– ein gleiches Schutzbedürfniß.

Die katholische Kirche liegt auf steiler Bergeshöhe und beherrscht von senkrechtem Felsen herab das Meer. Das Rauschen der Wogen mischt sich oft mit dem Gesänge der Priester. Das Innere der Kirche ist mit einer Menge Zierrathen in ziemlich schlechtem Geschmack überladen; doch wenn man unter ihrem Portale steht, versucht man es wohl gern, den von hier aus sich darbietenden Anblick dieses hehren Meeres mit der reinsten aller seelischen Empfindungen, der Religion, in Verbindung zu bringen – dieses Meeres, dem der Mensch seine Spuren nicht aufzudrücken vermag. Die Erde hat er umgewühlt, Berge geebnet oder sie mit seinen Straßen durchschnitten, Flüsse in Kanäle eingezwängt, die Meeresfluthen aber, sie bleiben unversehrt, und wenn das Schiff auch für Augenblicke seine Furchen durch ihren Spiegel zog, es kommen die Wogen und löschen diese flüchtige Spur der Dienstbarkeit wieder aus, und das Meer scheint unberührt, wie es am Tage der Schöpfung war.

Lord Nelvil hatte beschlossen, seine Reise am folgenden Morgen fortzusetzen, als er in der Nacht von entsetzlichem Hülfegeschrei geweckt wurde. Er verließ schnell sein Zimmer, um die Ursache zu erfahren, und sah eine Feuersbrunst, die offenbar vom Hafen ausging, von Haus zu Haus weitergriff und schon den oberen Theil der Stadt arg bedrohte. Der Wind fachte das Feuer an, stürmte die Gewässer auf, und der Wiederschein der Flammen leuchtete aus den empörten Wogen herauf in rother, düsterer Gluth.

In Ermangelung des nöthigen Lösch-Apparates schleppten die Einwohner Ancona's das Wasser nur in Eimern herbei.[1] Durch das allgemeine Geschrei klirrten unheimlich die Ketten der Galeerensklaven, welche man zur Rettung der Stadt, die ihnen doch nur ein Gefängniß war, verwendete. Die verschiedenen, durch den Handel mit der Levante herbeigezogenen Fremden drückten ihren Schrecken meist nur durch betäubtes Staunen aus, und vollends verloren die ansäßigen Kaufleute beim Anblick ihrer brennenden Magazine alle Geistesgegenwart. Die Angst um bedrohtes Eigenthum verwirrt den Alltagsmenschen ebenso sehr, als die Todesfurcht; sie raubt ihm die nöthige Besonnenheit und verhindert jenes kühle entschlossene Sichdarüberstellen, das so oft den rettenden Gedanken eingiebt.

Das Schreien der Matrosen hat ohnehin immer etwas Schauerliches und jetzt, da es sich zu Angstrufen steigerte, erklang es klagend und fürchterlich. Aus den rothen und braunen Mantelkappen, wie sie die Seeleute des adriatischen Meeres tragen, starrten Gesichter hervor, auf denen sich die Furcht in tausend Abstufungen malte. Die Einwohner lagen verhüllten Hauptes auf der Straße, als ob ihnen nichts weiter zu thun bliebe, als ihren Untergang müßig abzuwarten. Andere warfen sich verzweifelnd in die Flammen. Abwechselnd sah man blinde Wuth und blindes Resigniren, aber überall fehlte die kalte Gelassenheit, welche Mittel und Kräfte verdoppelt.

Oswald erinnerte sich, daß zwei englische Fahrzeuge im Hafen lagen, die meistens wohl eingerichtete Pumpen an Bord zu haben pflegen; er eilte zum Kapitän, und mit diesem in ein Boot, um jene Spritzen zu holen. Die Leute, welche ihn abstoßen sahen, riefen ihm nach: »O, Ihr thut recht, Ihr Fremden, unsere unglückliche Stadt zu verlassen.« »Wir kommen wieder«, entgegnete Oswald. Sie glaubten es nicht. Doch kehrte er zurück, stellte eine der Spritzen vor dem ersten, am Hafen brennenden Hause auf, und ließ durch die andere die ganze Straße bestreichen. Graf d'Erfeuil setzte sein Leben mit sorglosem Muth auf's Spiel, und auch die englischen Matrosen wie die Bedienten Lord Nelvils kamen diesem zu Hülfe; denn die Bürger Ancona's blieben unbeweglich, verstanden kaum, was die Fremden beabsichtigten, und glaubten nicht an einen etwaigen Erfolg ihrer Bemühungen.

Glocken läuteten von allen Seiten, Priester und Processionen flehten jammernd zum Himmel, vor den Heiligenbildern lagen weinende Frauen, aber Niemand dachte an die natürliche Hülfe, welche Gott dem Menschen zu seiner Verteidigung gegeben. Als die Einwohner indessen die glücklichen Wirkungen von Oswalds Thätigkeit bemerkten, als sie sahen, daß die Flammen nicht weiter um sich griffen, und ihre Häuser verschont bleiben würden, gingen sie vom Erstaunen zur Begeisterung über; sie drängten sich um Lord Nelvil, küßten ungestüm seine Hände, und er war genöthigt, sie durch Zorn und Drohungen zurück zu weisen, damit die schnelle Folge seiner Anordnungen, und der zur Rettung der Stadt nöthigen Maßregeln nicht unterbrochen werde. Alle Welt ordnete sich nun seinem Befehle unter, weil in den kleinsten wie größten Verhältnissen, wo es Gefahr giebt, der Muth kühn seinen Platz einnimmt und behauptet: wenn die Leute Furcht haben, hören sie auf, eifersüchtig zu sein.

Oswald unterschied indeß in dem allgemeinen Getöse noch schrecklicheres Hülfegeschrei, das vom andern Ende der Stadt herüberdrang. Er fragte, woher diese Rufe kämen, und man antwortete ihm, sie gingen von dem Judenviertel aus. Die städtische Behörde ließ herkömmlich Abends die Barrieren dieses Viertels schließen, und als das Feuer nun nach dieser Seite hin um sich griff, konnten dessen jüdische Bewohner nicht entrinnen. Oswald schauderte bei dem Gedanken, und verlangte, daß man den Zugang zu diesen Straßen augenblicklich öffne. Als dies einige Frauen aus dem Volke hörten, warfen sie sich ihm zu Füßen, und beschworen ihn, es nicht geschehen zu lassen. »Sie sehen wohl«, sagten sie, »o, Sie unser Schutzengel, daß wir nur der hier weilenden Juden wegen die Feuersbrunst erdulden müssen; sie bringen uns nichts als Unglück, und wenn sie herausgelassen werden, reicht alles Wasser des Meeres nicht hin, die Flammen zu löschen.« Und sie flehten Oswald so beredt und dringend an, die Juden verbrennen zu lassen, als ob sie einen Akt der größten Barmherzigkeit begehrten. Böse waren diese Weiber nicht, nur abergläubisch, und von Schreck verwirrt; dennoch vermochte Oswald kaum seine Entrüstung zu bemeistern.

Er beauftragte einige englische Matrosen, die Barrieren, welche jene Unglücklichen einschlossen, mit Gewalt zu öffnen. Die aus ihrer Noth Befreiten breiteten sich nun augenblicklich über die ganze Stadt aus, stürzten sich um ihrer Habe willen auch wohl mitten in die Flammen, mit einer Gier des Besitzes, die etwas sehr Düsteres hat, wenn sie selbst die Scheu vor dem Tode bezwingt. Es scheint oft, als ob der Mensch in dem gegenwärtigen Zustande unserer Gesellschaft mit dem einfachen Geschenk des Lebens nichts mehr zu beginnen weiß.

Jetzt blieb nur noch ein, im höchsten Theile der Stadt gelegenes Haus, welches die Flammen schon dergestalt ergriffen hatten, daß es unmöglich schien, sie zu löschen, noch unmöglicher, sie zu durchdringen. Da die Bürger Ancona's für dieses Haus durchaus keine Theilnahme gezeigt, hatten die englischen Matrosen, es für unbewohnt haltend, ihre Spritzen schon wieder nach dem Hafen hinuntergeschafft. Oswald selbst, betäubt durch das Hülfegeschrei der ihn zunächst Umdrängenden, war noch nicht auf dasselbe aufmerksam geworden. Das Feuer hatte sich nach dieser Seite hin später, aber dann mit reißendem Fortschritt ausgebreitet. Lord Nelvil fragte jetzt ängstlich nach dem Zweck dieses Gebäudes, und erfuhr, es sei das Irrenhaus. Entsetzt rief er nach seinen Matrosen, doch sie waren nicht mehr in der Nähe; auch Graf d'Erfeuil hatte ihn verlassen, und umsonst wandte er sich an die Einwohner der Stadt; denn sie waren sämmtlich mit der Rettung ihres Eigenthums beschäftigt und sie fanden es nebenher thöricht, sich für Menschen preis zu geben, von denen nicht Einer anders als unheilbar verrückt war. »Es ist für sie und ihre Angehörigen eine Wohlthat des Himmels«, sagten sie, »wenn sie sterben, ohne daß es Jemandes Schuld ist.«

Von derartigen Reden begleitet, eilte Oswald dem Irrenhause zu; die Menge tadelte ihn, und folgte ihm dennoch mit einem Gefühl unfreiwilliger, unklarer Begeisterung. Dort angelangt, erblickte er an dem einzigen, von den Flammen noch verschonten Fenster einige Wahnsinnige, die das Umsichgreifen des Feuers mit jenem herzzerreißenden Lächeln verfolgten, welches entweder die Unkenntniß aller Lebensnoth, oder so viel tiefen Seelenschmerz voraussetzen läßt, daß keine Todesart mehr schaudern machen kann. Oswald war unaussprechlich erschüttert; einst, auf der Höhe seiner Verzweiflung, hatte auch er einen Augenblick gehabt, wo sein Verstand sich zu verwirren drohte, und seit jener Zeit flößte ihm der Anblick des Wahnsinns immer das schmerzlichste Mitleid ein. Er ergriff eine in der Nähe liegende Leiter, lehnte sie an, und stieg kühn durch das brennende Fenster zu einem Zimmer hinauf, welches die unglückseligen Bewohner des Hospitals eben Alle vereinigte.

Denn ihre Narrheit war sanft genug, um ihnen im Innern des Hauses das freie Umhergehen zu gestatten. Nur Einer lag in demselben Zimmer, durch dessen Thür das Feuer jetzt hereinbrach, ohne jedoch den Fußboden schon erfaßt zu haben, in eisernen Fesseln. Als Oswald inmitten dieser elenden, durch Krankheit und Leiden herabgekommenen Geschöpfe erschien, empfingen sie ihn mit Staunen, wie einen Zauberer, und gehorchten ihm anfangs ohne Widerstand. Er hieß Einen nach dem Andern die Leiter, die jeden Moment von den Flammen zerstört werden konnte, hinabsteigen. Der Erste dieser Beklagenswerthen folgte dem Befehle ohne Widerrede; Ton und Miene Lord Nelvils beherrschten ihn gänzlich. Auch ein Zweiter zeigte sich bereit; ein Anderer aber, die Gefahr nicht ahnend, die er so für sich und seinen Erretter immer näher herbeizog, weigerte sich. Das Volk sah das Entsetzliche von Lord Nelvils Lage, und rief diesem flehend zu, herabzukommen und die Wahnsinnigen ihrem Schicksale zu überlassen; aber der großmüthige Retter hörte nicht darauf und wollte sein Werk zu Ende bringen.

Von den sechs hier wohnenden Kranken waren fünf nun schon gerettet; es blieb nur noch der Letzte, der in Ketten lag. Oswald löste seine Fesseln, und wollte ihn in derselben Weise, wie die Vorhergehenden, entrinnen lassen; doch dieser arme, auch des letzten Verstandesfunkens beraubte junge Mensch raste, als er sich nach zweijähriger Kettenhaft plötzlich in Freiheit sah, mit gräßlicher Freude im Zimmer umher. Seine Freude verwandelte sich aber in Wuth, als Oswald ihn jetzt hinausschaffen wollte. Da dieser nun die Flammen immer näher dringen sah, und den Widerstrebenden nicht zur Selbstrettung bewegen konnte, trug er ihn, der Anstrengung nicht achtend, mit welcher Jener seinem Wohlthäter entgegenarbeitete, in seinen Armen die Leiter hinab; unten angelangt, übergab er den sich noch immer Sträubenden einigen Personen, die für ihn Sorge zu tragen versprachen.

Oswald, durch die eben bestandene Gefahr heiß erregt, mit gelösten Haaren, mit stolzem und gerührtem Blick, versetzte die zu ihm aufschauende Menge in fanatische Bewunderung; besonders drückten sich die Frauen mit einem Reichthum der Sprache aus, der in Italien eine fast allgemeine Gabe ist, und welcher den Reden der Leute aus dem Volke dort oft so vielen Adel verleiht. Sie warfen sich ihm zu Füßen, und riefen: »Ihr seid sicherlich St. Michael, der Patron unserer Stadt; entfaltet Eure Flügel, aber verlaßt uns nicht! Geht nach oben, auf den Thurm der Kathedrale, damit die ganze Stadt Euch sehe und Euch anbete.« »Mein Kind ist krank«, rief die Eine, »kommt und heilt es.« »Sagt mir«, fragte die Andere, »wo ist mein Gatte? Er verschwand vor mehreren Jahren.« Oswald suchte eben auf irgend eine Weise zu entkommen, als Graf d'Erfeuil herzutrat: »Theurer Nelvil, man muß doch aber etwas mit seinen Freunden theilen; es ist nicht schön, alle Gefahr allein auf sich zu nehmen«, sagte er mit einem Händedruck. »Helfen Sie mir hier fort«, erwiderte Oswald leise. Ein Augenblick der Dunkelheit begünstigte ihre Flucht, und Beide eilten, um Postpferde zu bestellen.

Lord Nelvil empfand in dem Bewußtsein jener That einige Befriedigung; doch mit wem konnte er sie theilen, jetzt, wo sein theuerster Freund nicht mehr war? Wehe den Verwaisten! Glückliche Ereignisse ebenso sehr als Sorgen mahnen sie stets wieder an die Einsamkeit ihres Herzens. Wie soll man auch diese, mit uns geborene Liebe ersetzen, dieses Einverständniß, diese Blutsverwandtschaft, diese durch den Himmel selber zwischen einem Kinde und seinem Vater vorbereitete Freundschaft? Man kann noch lieben, aber seine ganze Seele hingeben, ist ein Glück, das man schwer wiederfinden wird.


[1] Anmerkung der Autorin: Ancona war in dieser Beziehung noch in viel späterer Zeit ebenso schlecht versehen als damals.

Letzte Änderung der Seite: 23. 12. 2024 - 22:12