Über Bürgers Gedichte
Die Gleichgültigkeit, mit der unser philosophierendes Zeitalter auf die Spiele der Musen herabzusehen anfängt, scheint keine Gattung der Poesie empfindlicher zu treffen als die lyrische. Der dramatischen Dichtkunst dient doch wenigstens die Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens zu einigem Schutze, und der erzählenden erlaubt ihre freiere Form, sich dem Weltton mehr anzuschmiegen und den Geist der Zeit in sich aufzunehmen. Aber die jährlichen Almanache, die Gesellschaftsgesänge, die Musikliebhaberei unsrer Damen sind nur ein schwacher Damm gegen den Verfall der lyrischen Dichtkunst. Und doch wäre es für den Freund des Schönen ein sehr niederschlagender Gedanke, wenn diese jugendlichen Blüten des Geists in der Fruchtzeit absterben, wenn die reifere Kultur auch nur mit einem einzigen Schönheitsgenuß erkauft werden sollte. Vielmehr ließe sich auch in unsern so unpoetischen Tagen, wie für die Dichtkunst überhaupt, also auch für die lyrische, eine sehr würdige Bestimmung entdecken; es ließe sich vielleicht dartun, daß, wenn sie von einer Seite höhern Geistesbeschäftigungen nachstehen muß, sie von einer andern nur desto notwendiger geworden ist. Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt. Sie allein kann das Schicksal abwenden, das traurigste, das dem philosophierenden Verstande widerfahren kann, über dem Fleiß des Forschens den Preis seiner Anstrengungen zu verlieren und in einer abgezognen Vernunftwelt für die Freuden der wirklichen zu ersterben. Aus noch so divergierenden Bahnen würde sich der Geist bei der Dichtkunst wieder zurechtfinden und in ihrem verjüngenden Licht der Erstarrung eines frühzeitigen Alters entgehen. Sie wäre die jugendlichblühende Hebe, welche in Jovis Saal die unsterblichen Götter bedient.
Dazu aber würde erfodert, daß sie selbst mit dem Zeitalter fortschritte, dem sie diesen wichtigen Dienst leisten soll; daß sie sich alle Vorzüge und Erwerbungen desselben zu eigen machte. Was Erfahrung und Vernunft an Schätzen für die Menschheit aufhäuften, müßte Leben und Fruchtbarkeit gewinnen und in Anmut sich kleiden in ihrer schöpferischen Hand. Die Sitten, den Charakter, die ganze Weisheit ihrer Zeit müßte sie, geläutert und veredelt, in ihrem Spiegel sammeln und mit idealisierender Kunst aus dem Jahrhundert selbst ein Muster für das Jahrhundert erschaffen. Dies aber setzte voraus, daß sie selbst in keine andre als reife und gebildete Hände fiele. Solange dies nicht ist, solange zwischen dem sittlich ausgebildeten, vorurteilfreien Kopf und dem Dichter ein andrer Unterschied stattfindet, als daß letzterer zu den Vorzügen des erstern das Talent der Dichtung noch als Zugabe besitzt; solange dürfte die Dichtkunst ihren veredelnden Einfluß auf das Jahrhundert verfehlen, und jeder Fortschritt wissenschaftlicher Kultur wird nur die Zahl ihrer Bewunderer vermindern. Unmöglich kann der gebildete Mann Erquickung für Geist und Herz bei einem unreifen Jüngling suchen, unmöglich in Gedichten die Vorurteile, die gemeinen Sitten, die Geistesleerheit wieder finden wollen, die ihn im wirklichen Leben verscheuchen. Mit Recht verlangt er von dem Dichter, der ihm, wie dem Römer sein Horaz, ein teurer Begleiter durch das Leben sein soll, daß er im Intellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; man fodert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein andrer sein, als daß es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst zu verstecken suchen. Vom Ästhetischen gilt eben das, was vom Sittlichen; wie es hier der moralisch vortreffliche Charakter eines Menschen allein ist, der einer seiner einzelnen Handlungen den Stempel moralischer Güte aufdrücken kann; so ist es dort nur der reife, der vollkommene Geist, von dem das Reife, das Vollkommene ausfließt. Kein noch so großes Talent kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht, und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst die Feile nicht wegnehmen.
Wir würden nicht wenig verlegen sein, wenn uns aufgelegt würde, diesen Maßstab in der Hand, den gegenwärtigen deutschen Musenberg zu durchwandern. Aber die Erfahrung, deucht uns, müßte es ja lehren, wieviel der größere Teil unsrer, nicht ungepriesenen, lyrischen Dichter auf den bessern des Publikums wirkt; auch trifft es sich zuweilen, daß uns einer oder der andre, wenn wir es auch seinen Gedichten nicht angemerkt hätten, mit seinen Bekenntnissen überrascht oder uns Proben von seinen Sitten liefert. Jetzt schränken wir uns darauf ein, von dem bisher Gesagten die Anwendung auf Hn. Bürger zu machen.
Aber darf wohl diesem Maßstab auch ein Dichter unterworfen werden, der sich ausdrücklich als »Volkssänger« ankündigt und Popularität (s. Vorrede z. 1. Teil, S. 15 u. f.) zu seinem höchsten Gesetz macht? Wir sind weit entfernt, Hn. B. mit dem schwankenden Wort »Volk« schikanieren zu wollen; vielleicht bedarf es nur weniger Worte, um uns mit ihm darüber zu verständigen. Ein Volksdichter in jenem Sinn, wie es Homer seinem Weltalter oder die Troubadours dem ihrigen waren, dürfte in unsern Tagen vergeblich gesucht werden. Unsre Welt ist die homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen begegnen konnten. Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben ein sehr großer Abstand sichtbar, wovon die Ursache zum Teil schon darin liegt, daß Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredlung ein zusammenhängendes Ganze ausmachen, mit dessen Bruchstücken nichts gewonnen wird. Außer diesem Kulturunterschied ist es noch die Konvenienz, welche die Glieder der Nation in der Empfindungsart und im Ausdruck der Empfindung einander so äußerst unähnlich macht. Es würde daher umsonst sein, willkürlich in einen Begriff zusammenzuwerfen, was längst schon keine Einheit mehr ist. Ein Volksdichter für unsre Zeiten hätte also bloß zwischen dem Allerleichtesten und dem Allerschweresten die Wahl; entweder sich ausschließend der Fassungskraft des großen Haufens zu bequemen und auf den Beifall der gebildeten Klasse Verzicht zu tun – oder den ungeheuern Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Größe seiner Kunst aufzuheben und beide Zwecke vereinigt zu verfolgen.
Es fehlt uns nicht an Dichtern, die in der ersten Gattung glücklich gewesen sind und sich bei ihrem Publikum Dank verdient haben; aber nimmermehr kann ein Dichter von Hn. Bürgers Genie die Kunst und sein Talent so tief herabgesetzt haben, um nach einem so gemeinen Ziele zu streben. Popularität ist ihm, weit entfernt, dem Dichter die Arbeit zu erleichtern oder mittelmäßige Talente zu bedecken, eine Schwierigkeit mehr, und fürwahr eine so schwere Aufgabe, daß ihre glückliche Auflösung der höchste Triumph des Genies genannt werden kann. Welch Unternehmen, dem ekeln Geschmack des Kenners Genüge zu leisten, ohne dadurch dem großen Haufen ungenießbar zu sein – ohne der Kunst etwas von ihrer Würde zu vergeben, sich an den Kinderverstand des Volks anzuschmiegen. Groß, doch nicht unüberwindlich, ist diese Schwierigkeit, das ganze Geheimnis, sie aufzulösen – glückliche Wahl des Stoffs und höchste Simplizität in Behandlung desselben. Jenen müßte der Dichter ausschließend nur unter Situationen und Empfindungen wählen, die dem Menschen als Menschen eigen sind. Alles, wozu Erfahrungen, Aufschlüsse, Fertigkeiten gehören, die man nur in positiven und künstlichen Verhältnissen erlangt, müßte er sich sorgfältig untersagen und durch diese reine Scheidung dessen, was im Menschen bloß menschlich ist, gleichsam den verlornen Zustand der Natur zurückrufen. In stillschweigendem Einverständnis mit den Vortrefflichsten seiner Zeit würde er die Herzen des Volks an ihrer weichsten und bildsamsten Seite fassen, durch das geübte Schönheitsgefühl den sittlichen Trieben eine Nachhülfe geben und das Leidenschaftsbedürfnis, das der Alltagspoet so geistlos und oft so schädlich befriedigt, für die Reinigung der Leidenschaft nutzen. Als der aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Volksgefühle würde er dem hervorströmenden, Sprache suchenden Affekt der Liebe, der Freude, der Andacht, der Traurigkeit, der Hoffnung u.a.m. einen reinern und geistreichern Text unterlegen; er würde, indem er ihnen den Ausdruck lieh, sich zum Herrn dieser Affekte machen und ihren rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch noch auf den Lippen des Volks veredeln. Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auflösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten geben. Ein Vorläufer der hellen Erkenntnis, brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und verdachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze heraufzuführen. Ehe sie ein Eigentum der Überzeugung geworden, hätten sie durch ihn schon ihre stille Macht an den Herzen bewiesen, und ein ungeduldiges einstimmiges Verlangen würde sie endlich von selbst der Vernunft abfodern.
In diesem Sinne genommen, scheint uns der Volksdichter, man messe ihn nach den Fähigkeiten, die bei ihm vorausgesetzt werden, oder nach seinem Wirkungskreis, einen sehr hohen Rang zu verdienen. Nur dem großen Talent ist es gegeben, mit den Resultaten des Tiefsinns zu spielen, den Gedanken von der Form loszumachen, an die er ursprünglich geheftet, aus der er vielleicht entstanden war, ihn in eine fremde Ideenreihe zu verpflanzen, so viel Kunst in so wenigem Aufwand, in so einfacher Hülle so viel Reichtum zu verbergen. Hr. B. sagt also keineswegs zuviel, wenn er »Popularität eines Gedichts für das Siegel der Vollkommenheit« erklärt. Aber indem er dies behauptet, setzt er stillschweigend schon voraus, was mancher, der ihn liest, bei dieser Behauptung ganz und gar übersehen dürfte, daß zur Vollkommenheit eines Gedichts die erste unerlaßliche Bedingung ist, einen von der verschiednen Fassungskraft seiner Leser durchaus unabhängigen absoluten, innern Wert zu besitzen. »Wenn ein Gedicht«, scheint er sagen zu wollen, »die Prüfung des echten Geschmacks aushält und mit diesem Vorzug noch eine Klarheit und Faßlichkeit verbindet, die es fähig macht, im Munde des Volks zu leben; dann ist ihm das Siegel der Vollkommenheit aufgedrückt.« Dieser Satz ist durchaus eins mit diesem: Was den Vortrefflichen gefällt, ist gut; was allen ohne Unterschied gefällt, ist es noch mehr.
Also weit entfernt, daß bei Gedichten, welche für das Volk bestimmt sind, von den höchsten Foderungen der Kunst etwas nachgelassen werden könnte; so ist vielmehr zu Bestimmung ihres Werts (der nur in der glücklichen Vereinigung so verschiedner Eigenschaften besteht) wesentlich und nötig, mit der Frage anzufangen: Ist der Popularität nichts von der höhern Schönheit aufgeopfert worden? Haben sie, was sie für die Volksmasse an Interesse gewannen, nicht für den Kenner verloren?
Und hier müssen wir gestehen, daß uns die Bürgerischen Gedichte noch sehr viel zu wünschen übrig gelassen haben, daß wir in dem größten Teil derselben den milden, sich immer gleichen, immer hellen, männlichen Geist vermissen, der, eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt, aber auch in der vertrautsten Gemeinschaft mit demselben nie seine himmlische Abkunft verleugnet. Hr. B. vermischt sich nicht selten mit dem Volk, zu dem er sich nur herablassen sollte, und anstatt es scherzend und spielend zu sich hinaufzuziehen, gefällt es ihm oft, sich ihm gleich zu machen. Das Volk, für das er dichtet, ist leider nicht immer dasjenige, welches er unter diesem Namen gedacht wissen will. Nimmermehr sind es dieselben Leser, für welche er seine »Nachtfeier der Venus«, seine »Lenore«, sein Lied »An die Hoffnung«, »Die Elemente«, die »Göttingische Jubelfeier«, »Männerkeuschheit«, »Vorgefühl der Gesundheit« u.a.m. und eine »Frau Schnips«, »Fortunens Pranger«, »Menagerie der Götter«, »An die Menschengesichter« und ähnliche niederschrieb. Wenn wir anders aber einen Volksdichter richtig schätzen, so besteht sein Verdienst nicht darin, jede Volksklasse mit irgendeinem, ihr besonders genießbaren, Liede zu versorgen, sondern in jedem einzelnen Liede jeder Volksklasse genugzutun.
Wir wollen uns aber nicht bei Fehlern verweilen, die eine unglückliche Stunde entschuldigen, und denen durch eine strengere Auswahl unter seinen Gedichten abgeholfen werde kann. Aber daß sich diese Ungleichheit des Geschmacks sehr oft in demselben Gedichte findet, dürfte ebenso schwer zu verbessern als zu entschuldigen sein. Rez. muß gestehen, daß er unter allen Bürgerischen Gedichten (die Rede ist von denen, welche er am reichlichsten aussteuerte) beinahe keines zu nennen weiß, das ihm einen durchaus reinen, durch gar kein Mißfallen erkauften Genuß gewährt hätte. War es entweder die vermißte Übereinstimmung des Bildes mit dem Gedanken oder die beleidigte Würde des Inhalts oder eine zu geistlose Einkleidung, war es auch nur ein unedles, die Schönheit der Gedanken entstellendes Bild, ein ins Platte fallender Ausdruck, ein unnützer Wörterprunk, ein (was doch am seltensten ihm begegnet) unechter Reim oder harter Vers, was die harmonische Wirkung des Ganzen störte; so war uns diese Störung bei so vollem Genuß um so widriger, weil sie uns das Urteil abnötigte, daß der Geist, der sich in diesen Gedichten darstellte, kein gereifter, kein vollendeter Geist sei; daß seinen Produkten nur deswegen die letzte Hand fehlen möchte, weil sie – ihm selbst fehlte.
Man begreift, daß hier nicht der Ort sein kann, den Beweis für eine so allgemeine Behauptung im einzelnen zu führen; um jedoch im kleinen anschaulich zu machen, was die Bürgerische Muse sich zu erlauben fähig ist, wollen wir ein einzelnes Lied, und zwar bloß in dieser einzigen Hinsicht durchlaufen. 1. T., S. 163 u. f. »Elegie, als Molly sich losreißen wollte«:
Auszuschreien seinen Schmerz –
Schreien! Ich muß aus ihn schreien.
Und sie sollte lügen können?
Lügen nur ein einzig Wort?
Nein! In Flammen will ich brennen,
Zeitlich hier und ewig dort,
Der Verzweiflung ganz zum Raube
Will ich sein, wofern ich nicht
An das kleinste Wörtchen glaube u.s.f.
O ich weiß wohl, was ich sage,
Deutlich, wie mir See und Land
Hoch am Mittag liegt zutage,
So wird das von mir erkannt.
Rümpften tausend auch die Nasen,
– – o ihr tausend seid nicht ich.
Ich, ich weiß es, was ich sage,
Denn ich weiß es, was sie ist,
Was sie wiegt auf rechter Waage!
Was nach rechtem Maß sie mißt.
Doch lebendig darzustellen
Das, was sie und ich gefühlt,
Fühl ich jetzt mich, wie zum schnellen
Reigen sich der Lahme fühlt.
Es ist Geist, so rasch beflügelt,
Wie der Spezereien Geist,
Der, hermetisch auch versiegelt,
Sich aus seinem Kerker reißt. –
Ach ich weiß dem keinen Tadel,
Ob es gleich mich niederwürgt –
Wie wird mir so herzlich bange,
Wie so heiß und wieder kalt! –
Herr mein Gott! Wie soll es werden?
Herr mein Gott! Erleuchte mich!
Freilich, freilich fühlt, was billig
Und gerecht ist, noch mein Sinn –
Dient denn Gott ein Mensch zum Spiele,
Wie des Buben Hand der Wurm?
O es keimt, wie lang es währe,
Doch vielleicht uns noch Gewinst –
Sinnig sitz ich oft und frage
Und erwäg es herzlich treu
Auf des besten Wissens Waage,
Ob »uns lieben« Sünde sei?
Freier Strom sei meine Liebe,
Wo ich freier Schiffer bin.
Zur Entschuldigung Hn. B. sei es übrigens gesagt, daß das gewählte Lied, dessen vier letzte Strophen jedoch von ungemeiner Schönheit sind, zu seinen mattesten Produkten gehört; doch müssen wir zugleich hinzusetzen, daß wir nur die Hälfte dessen bezeichnet haben, was uns darin mißfallen hat. Sollen wir nun noch aus »Fortunens Pranger« S. 186 die faulen Äpfel und Eier – Mir nichts, dir nichts, – Lumpenkupfer – Schinderknochen – Schurken – Fuselbrenner – Galgenschwengel – Mit Treue umspringen, wie die Katze mit der Maus – Hui und Pfui – u.d.m. als Beweise unsrer Behauptung anführen, oder weiß der Leser es schon genug, um darin uns beizustimmen, daß ein Geschmack, der solche Cruditäten sich erlaubte und bei wiederholter Durchsicht begnadigte, Hn. B. auch bei seinen gelungensten Produkten unmöglich ein treuer und sichrer Führer gewesen sein konnte?
Eine der ersten Erfodernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Ihm kommt es zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien, die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Art im einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines innern Ideals von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt. Zu je größerer Reinheit und Fülle er dieses innere allgemeine Ideal ausgebildet hat; desto mehr werden auch jene einzelnen sich der höchsten Vollkommenheit nähern. Diese Idealisierkunst vermissen wir bei Hn. Bürger. Außerdem, daß uns seine Muse überhaupt einen zu sinnlichen, oft gemeinsinnlichen Charakter zu tragen scheint, daß ihm Liebe selten etwas anders als Genuß oder sinnliche Augenweide, Schönheit oft nur Jugend, Gesundheit, Glückseligkeit nur Wohlleben ist, möchten wir die Gemälde, die er uns aufstellt, mehr einen Zusammenwurf von Bildern, eine Kompilation von Zügen, eine Art Mosaik als Ideale nennen. Will er uns z.B. weibliche Schönheit malen, so sucht er zu jedem einzelnen Reiz seiner Geliebten ein demselben korrespondierendes Bild in der Natur umher auf und daraus erschafft er sich seine Göttin. Man sehe 1. T. S. 124: »Das Mädel, (?) das ich meine«, »Das hohe Lied« und mehrere andre. Will er sie überhaupt als Muster von Vollkommenheit uns darstellen, so werden ihre Qualitäten von einer ganzen Schar Göttinnen zusammengeborgt. S. 86. »Die beiden Liebenden«:
Im Denken ist sie Pallas ganz
Und Juno ganz an edelm Gange,
Terpsichore beim Freudentanz,
Euterpe neidet sie im Sange;
Ihr weicht Aglaja, wenn sie lacht,
Melpomene bei sanfter Klage,
Die Wollust ist sie in der Nacht,
Die holde Sittsamkeit bei Tage. (?)
Wir führen diese Strophe nicht an, als glaubten wir, daß sie das Gedicht, worin sie vorkömmt, eben verunstalte, sondern weil sie uns das passendste Beispiel zu sein scheint, wie ungefähr Hr. B. idealisiert. Es kann nicht fehlen, daß dieser üppige Farbenwechsel auf den ersten Anblick hinreißt und blendet; Leser besonders, die nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern. Aber wie wenig sagen Gemälde dieser Art dem verfeinerten Kunstsinn, den nie der Reichtum, sondern die weise Ökonomie; nie die Materie, nur die Schönheit der Form; nie die Ingredienzien, nur die Feinheit der Mischung befriedigt! Wir wollen nicht untersuchen, wie viel oder wenig Kunst erfodert wird, in dieser Manier zu erfinden; aber wir entdecken bei dieser Gelegenheit an uns selbst, wie wenig dergleichen Matadorstücke der Jugend die Prüfung eines männlichen Geschmacks aushalten. Es konnte uns eben darum auch nicht sehr angenehm überraschen, als wir in dieser Gedichtsammlung, einem Unternehmen reiferer Jahre, sowohl ganze Gedichte als einzelne Stellen und Ausdrücke wiederfanden (das Klinglingling, Hopp Hopp Hopp, Huhu, Sasa, Trallyrum larum u. dgl. m. nicht zu vergessen), welche nur die poetische Kindheit ihres Verfassers entschuldigen und der zweideutige Beifall des großen Haufens so lange durchbringen konnte. Wenn ein Dichter, wie Hr. B., dergleichen Spielereien durch die Zauberkraft seines Pinsels, durch das Gewicht seines Beispiels in Schutz nimmt; wie soll sich der unmännliche, kindische Ton verlieren, den ein Heer von Stümpern in unsere lyrische Dichtkunst einführte? Aus eben diesem Grunde kann Rez. das sonst so lieblich gesungene Gedicht »Blümchen Wunderhold« nur mit Einschränkung loben. Wie sehr sich auch Hr. B. in dieser Erfindung gefallen haben mag, so ist ein Zauberblümchen an der Brust kein ganz würdiges und eben auch nicht sehr geistreiches Symbol der Bescheidenheit; es ist, frei heraus gesagt, Tändelei. Wenn es von diesem Blümchen heißt:
Du teilst der Flöte weichen Klang
Des Schreiers Kehle mit,
Und wandelst in Zephyrengang
Des Stürmers Poltertritt.
so geschieht der Bescheidenheit zuviel Ehre. Der unschickliche Ausdruck: die Nase schnaubt nach Äther, und ein unechter Reim: blähn und schön, verunstalten den leichten und schönen Gang dieses Liedes.
Am meisten vermißt man die Idealisierkunst bei Hn. B., wenn er Empfindung schildert; dieser Vorwurf trifft besonders die neuern Gedichte, großenteils an Molly gerichtet, womit er diese Ausgabe bereichert hat. So unnachahmlich schön in den meisten Diktion und Versbau ist, so poetisch sie gesungen sind, so unpoetisch scheinen sie uns empfunden. Was Lessing irgendwo dem Tragödiendichter zum Gesetz macht, keine Seltenheiten, keine streng individuellen Charaktere und Situationen darzustellen, gilt noch weit mehr von dem lyrischen. Dieser darf eine gewisse Allgemeinheit in den Gemütsbewegungen, die er schildert, um so weniger verlassen, je weniger Raum ihm gegeben ist, sich über das Eigentümliche der Umstände, wodurch sie veranlaßt sind, zu verbreiten. Die neuen Bürgerschen Gedichte sind großenteils Produkte einer solchen ganz eigentümlichen Lage, die zwar weder so streng individuell, noch so sehr Ausnahme ist, als ein Heautontimorumenos des Terenz, aber gerade individuell genug, um von dem Leser weder vollständig, noch rein genug aufgefaßt zu werden, daß das Unideale, welches davon unzertrennlich ist, den Genuß nicht störte. Indessen würde dieser Umstand den Gedichten, bei denen er angetroffen wird, bloß eine Vollkommenheit nehmen; aber ein anderer kommt hinzu, der ihnen wesentlich schadet. Sie sind nämlich nicht bloß Gemälde dieser eigentümlichen (und sehr undichterischen) Seelenlage, sondern sie sind offenbar auch Geburten derselben. Die Empfindlichkeit, der Unwille, die Schwermut des Dichters sind nicht bloß der Gegenstand, den er besingt; sie sind leider oft auch der Apoll, der ihn begeistert. Aber die Göttinnen des Reizes und der Schönheit sind sehr eigensinnige Gottheiten. Sie belohnen nur die Leidenschaft, die sie selbst einflößten; sie dulden auf ihrem Altar nicht gern ein ander Feuer als das Feuer einer reinen, uneigennützigen Begeisterung. Ein erzürnter Schauspieler wird uns schwerlich ein edler Repräsentant des Unwillens werden; ein Dichter nehme sich ja in acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen. So, wie der Dichter selbst bloß leidender Teil ist, muß seine Empfindung unausbleiblich von ihrer idealischen Allgemeinheit zu einer unvollkommenen Individualität herabsinken. Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft u.s.w. selbst dem Dichter den Pinsel dabei geführt habe, hatte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen. Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes, durch eine Selbsttätigkeit möglich, welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt.
Die neuern Gedichte Hn. B. charakterisiert eine gewisse Bitterkeit, eine fast kränkelnde Schwermut. Das hervorragendste Stück in dieser Sammlung: »Das hohe Lied von der Einzigen«, verliert dadurch besonders viel von seinem übrigen unerreichbaren Werte. Andre Kunstrichter haben sich bereits ausführlicher über dieses schöne Produkt der Bürgerischen Muse herausgelassen, und mit Vergnügen stimmen wir in einen großen Teil des Lobes mit ein, das sie ihm beigelegt haben.
Nur wundern wir uns, wie es möglich war, dem Schwunge des Dichters, dem Feuer seiner Empfindung, seinem Reichtum an Bildern, der Kraft seiner Sprache, der Harmonie seines Verses so viele Versündigungen gegen den guten Geschmack zu vergeben; wie es möglich war, zu übersehen, daß sich die Begeisterung des Dichters nicht selten in die Grenzen des Wahnsinns verliert, daß sein Feuer oft Furie wird, daß eben deswegen die Gemütsstimmung, mit der man dies Lied aus der Hand legt, durchaus nicht die wohltätige harmonische Stimmung ist, in welche wir uns von dem Dichter versetzt sehen wollen. Wir begreifen, wie Hr. B., hingerissen von dem Affekt, der dieses Lied ihm diktierte, bestochen von der nahen Beziehung dieses Lieds auf seine eigne Lage, die er in demselben, wie in einem Heiligtum, niederlegte, am Schlusse dieses Lieds sich zurufen konnte, daß es das Siegel der Vollendung an sich trage; – aber eben deswegen möchten wir es, seiner glänzenden Vorzüge ungeachtet, nur ein sehr vortreffliches Gelegenheitsgedicht nennen – ein Gedicht nämlich, dessen Entstehung und Bestimmung man es allenfalls verzeiht, wenn ihm die idealische Reinheit und Vollendung mangelt, die allein den guten Geschmack befriedigt.
Eben dieser große und nahe Anteil, den das eigene Selbst des Dichters an diesem und noch einigen andern Liedern dieser Sammlung hatte, erklärt uns beiläufig, warum wir in diesen Liedern so übertrieben oft an ihn selbst, den Verfasser, erinnert werden. Rez. kennt unter den neuern Dichtern keinen, der das »sublimi feriam sidera vertice« des Horaz mit solchem Mißbrauch im Munde führte als Hr. B. Wir wollen ihn deswegen nicht in Verdacht haben, daß ihm bei solchen Gelegenheiten das Blümchen Wunderhold aus dem Busen gefallen sei; es leuchtet ein, daß man nur im Scherz so viel Selbstlob an sich verschwenden kann. Aber angenommen, daß an solchen scherzhaften Äußerungen nur der zehente Teil sein Ernst sei, so macht ja ein zehenter Teil, der zehenmal wieder kömmt, einen ganzen und bittern Ernst. Eigenruhm kann selbst einem Horaz nur verziehen werden, und ungern verzeiht der hingerißne Leser dem Dichter, den er so gern – nur bewundern möchte.
Diese allgemeinen Winke, den Geist des Dichters betreffend, scheinen uns alles zu sein, was über eine Sammlung von mehr als 100 Gedichten, worunter viele einer ausführlichen Zergliederung wert sind, in einer Zeitung gesagt werden konnte. Das längst entschiedne einstimmige Urteil des Publikums überhebt uns, von seinen Balladen zu reden, in welcher Dichtungsart es nicht leicht ein deutscher Dichter Hn. B. zuvortun wird. Bei seinen Sonetten, Mustern ihrer Art, die sich auf den Lippen des Deklamateurs in Gesang verwandeln, wünschen wir mit ihm, daß sie keinen Nachahmer finden möchten, der nicht gleich ihm und seinem vortrefflichen Freund, Schlegel, die Leier des pythischen Gottes spielen kann. Gerne hätten wir alle bloß witzigen Stücke, die Sinngedichte vor allen, in dieser Sammlung entbehrt, so wie wir überhaupt Hn. B. die leichte scherzende Gattung möchten verlassen sehn, die seiner starken nervigten Manier nicht zusagt. Man vergleiche z.B., um sich davon zu überzeugen, das Zechlied 1. T. S. 142 mit einem Anakreontischen oder Horazischen von ähnlichem Inhalt. Wenn man uns endlich auf Gewissen fragte, welchen von Hn. B. Gedichten, den ernsthaften oder den satirischen, den ganz lyrischen oder lyrischerzählenden, den frühern oder spätern wir den Vorzug geben, so würde unser Ausspruch für die ernsthaften, für die erzählenden und für die frühern ausfallen. Es ist nicht zu verkennen, daß Hr. B. an poetischer Kraft und Fülle, an Sprachgewalt und an Schönheit des Verses gewonnen hat; aber seine Manier hat sich weder veredelt, noch sein Geschmack gereinigt.
Wenn wir bei Gedichten, von denen sich unendlich viel Schönes sagen läßt, nur auf die fehlerhafte Seite hingewiesen haben; so ist dies, wenn man will, eine Ungerechtigkeit, der wir uns nur gegen einen Dichter von Hn. B. Talent und Ruhm schuldig machen konnten. Nur gegen einen Dichter, auf den so viele nachahmende Federn lauern, verlohnt es sich der Mühe, die Partei der Kunst zu ergreifen; und auch nur das große Dichtergenie ist imstande, den Freund des Schönen an die höchsten Foderungen der Kunst zu erinnern, die er bei dem mittelmäßigen Talent entweder freiwillig unterdrückt oder ganz zu vergessen in Gefahr ist. Gerne gestehen wir, daß wir das ganze Heer von unsern jetzt lebenden Dichtern, die mit Hn. B. um den lyrischen Lorbeerkranz ringen, gerade so tief unter ihm erblicken, als er, unsrer Meinung nach, selbst unter dem höchsten Schönen geblieben ist. Auch empfinden wir sehr gut, daß vieles von dem, was wir an seinen Produkten tadelnswert fanden, auf Rechnung äußrer Umstände kommt, die seine genialische Kraft in ihrer schönsten Wirkung beschränkten, und von denen seine Gedichte selbst so rührende Winke geben. Nur die heitre, die ruhige Seele gebiert das Vollkommene. Kampf mit äußern Lagen und Hypochondrie, welche überhaupt jede Geisteskraft lähmen, dürfen am allerwenigsten das Gemüt des Dichters belasten, der sich von der Gegenwart loswickeln und frei und kühn in die Welt der Ideale emporschweben soll. Wenn es auch noch so sehr in seinem Busen stürmt, so müsse Sonnenklarheit seine Stirne umfließen.
Wenn indessen irgendeiner von unsern Dichtern es wert ist, sich selbst zu vollenden, um etwas Vollendetes zu leisten, so ist es Hr. Bürger. Diese Fülle poetischer Malerei, diese glühende energische Herzenssprache, dieser bald prächtig wogende, bald lieblich flötende Poesiestrom, der seine Produkte so hervorragend unterscheidet, endlich dieses biedre Herz, das, man möchte sagen, aus jeder Zeile spricht, ist es wert, sich mit immer gleicher ästhetischer und sittlicher Grazie, mit männlicher Würde, mit Gedankengehalt, mit hoher und stiller Größe zu gatten und so die höchste Krone der Klassizität zu erringen.
Das Publikum hat eine schöne Gelegenheit, um die vaterländische Kunst sich dieses Verdienst zu erwerben. Hr. B. besorgt, wie wir hören, eine neue verschönerte Ausgabe seiner Gedichte, und von dem Maße der Unterstützung, die ihm von den Freunden seiner Muse widerfahren wird, hängt es ab, ob sie zugleich eine verbesserte, ob sie eine vollendete sein soll.