Dem Bruder zum 6. Juli
von Luise Hensel
Lange schon harrte ich dein – wie lange noch birgt dich die Ferne?
Lange schon blick' ich nach dir – ach! wann erblicke ich dich?
Wenn sich die Sonne erhebt, so hoff' ich: sie bringt dich, Geliebter!
Wenn sie hinunter dann sinkt, seufz' ich, daß du mir noch fehlst.
Siehe, so spinnt sich mein Tag der eilenden Zeit von der Spindel.
Gestern verlangt' ich wie heut; gestern auch trog mich wie heut.
Betend und ringend für dich begrüß' ich den leuchtenden Morgen,
Bittend und sorgend um dich schließ' ich mein Augenlid zu.
Bruder, was zögerst du noch? Längst hat dir der Heiland gerufen,
Ach! und du ringst und du säumst – ach! und es reizt dich die Welt.
Bruder, verachte die Welt; sie hält dir nicht, was sie verheißen;
Schäme der Fesseln dich, Held! acht' ihre Kränze für Tand.
Aber du stehst noch und schwankst und hältst noch die Wag' in den Händen,
Bruder, ergreife das Gut! Bruder, verachte den Schein!
Eile zu Jesus, Er streckt so lange nach dir schon die Arme,
Eile zur Kirche, sie schaut lange schon sehnend nach dir.
Komm und erringe den Kranz, den herrlichen, der dir gewunden,
Komm und erfasse den Kelch, der dir bereitet schon steht.
Könnt' ich erkämpfen dein Heil, Geliebter, mein Bruder! dein wär' es;
Wisse: mich dürstet danach wie nach dem eigenen Heil.
Sondermühlen, 1823