Kinder- und Hausmärchen 1812-1815
von Jacob und Wilhelm Grimm.
1. Band [1812]
85. Fragmente
a. Schneeblume.
Eine junge Königstochter hieß Schneeblume, weil sie weiß, wie der Schnee war, und im Winter geboren. Eines Tags war ihre Mutter krank geworden, und sie ging in den Wald und wollte heilsame Kräuter brechen, wie sie nun an einem großen Baum vorüber ging, flog ein Schwarm Bienen heraus und bedeckten ihren ganzen Leib von Kopf bis zu Füßen. Aber sie stachen sie nicht und thaten ihr nicht weh, sondern trugen Honig auf ihre Lippen, und ihr ganzer Leib strahlte ordentlich von Schönheit. – –
b. Prinzessin mit der Laus.
Es war einmal eine Prinzessin, die war so reinlich, gewiß die reinlichste von der ganzen Welt, nie sah man den kleinsten Schmutz oder Flecken an ihr. Einmal aber fand man eine Laus auf ihrem Kopf sitzen, welches für ein wahres Wunder galt, und man wollte darum die Laus nicht umbringen, sondern beschloß sie mit Milch groß zu füttern. Dies geschah, die Laus wuchs immer mehr, so daß sie endlich so groß wie ein Kalb war. Wie nun diese Laus starb, ließ ihr die Prinzessin das Fell abziehen und sich ein Kleid daraus machen. Kam nun ein Freier und hielt um sie an, so gab sie ihm aufzurathen, von welchem Thier das Fell wäre, das sie zum Kleid trug. Da dies nun keiner rathen konnte, mußten sie alle abziehen. Endlich kam ein schöner Prinz auf folgende Art dahinter. – –
c. Vom Prinz Johannes.
Von seinem Wandeln in Sehnen und Wehmuth, von seinem Flug mit der Erscheinung, von der rothen Burg, von den vielen herzbewegenden Prüfungen, bis ihm der einzigste Anblick der schönen Sonnenprinzessin gewährt wurde.
d.. Das gute Pflaster.
Zwei Näthersmädchen hatten nichts geerbt, als ein gutes, altes Pflaster, welches Geld machte, und wovon sie außer ihrem Nähverdienst lebten. Die eine Schwester war sehr klug, die andere sehr dumm.
Eines Tags, als die älteste in die Kirche gegangen ist, kam ein Jude zu der dummen; »schönes, neues Pflaster zu verkaufen, oder zu vertauschen gegen altes, nichts zu handelen?« Da ging die dumme hin und holte dem Juden das alte Pflaster für ein neues Stück, und der Jude wußte wohl, welche Tugend das alte hatte.
Wie die älteste heim kam, sprach sie: es geht schlimm mit unserm Nähverdienst, ich muß uns ein bischen Geld schaffen, wo ist unser Pflaster? – desto besser, sprach die Dumme, ich hab auch während du aus warst, ein neues und frisches Stück gehandelt für das alte – – – – – – – – – – – – – – – – –
(Nachher wird der Jude ein Hund, die zwei Mädchen Hüner, die Hüner aber endlich Menschen und prügeln den Hund zu Tode.)
Zu den Fragmenten. No. 85.
a) Ein französ. Volksmärchen, perceneige, (Frühlingsblume, Schneeglöcklein, Primel neulich in ein Gedicht: Thibaut ou la naissance du comte de champagne. Paris 1811. pag. 97. 98. verflochten.
b) Erinnert an eine Variante zu Droßelbart. Das Ganze vollständig im Pentamerone I, 5. la polece.
c) Dieses Märchen erinnert sich Karl Graß in seiner Kindheit in Liefland von einer deutschen Amme, die Marie hieß, erzählen gehört zu haben. Er hat daraus ein Gedicht in 12 Gesängen gemacht, welches schwerlich dem Märchen beikommen wird. S. Erheiterungen 1812. Stück 5, 391-393.
d) In der 1001. N. von der kupfernen Lampe, die auch aus Dummheit gegen eine neue gegeben wird. Einigermaßen verwandt ist auch das Fabliau vom Sperber den die Tochter kauft, während die Mutter zur Kirche ist.