Das System der Rechtslehre
von Johann Gottfried Fichte.
Erster Teil.
[Alle sollen frei sein, und keiner die Freiheit des Andern stören]
Alle sollen frei sein, und keiner die Freiheit des Andern stören. Inwiefern nun das natürliche oder vernünftige Dasein schon die Grenzen der Freiheit eines jeden bestimmt hat, werden durch das Rechtsgesetz diese Grenzen bloß sanktioniert, und zum Gesetze gemacht auf alle Zukunft. Jeder besitzt seinen Körper, den niemals ein Anderer mit dem seinigen verwechseln wird, als freies Werkzeug seines Willens. Dass er nun durch keine fremde Einwirkung gehindert werde, freier Herr seines Körpers in aller Weise zu sein, auf alle Zukunft hin, liegt im Rechtsgesetze. Dieses erhält bloß, und gibt unbedingte Fortdauer der Naturverfügung. Keiner soll dem Andern an seinen Leib kommen, ihn hindern oder schaden. Kurz, keine unmittelbare gewalttätige Berührung in irgend einer Weise gegen irgend Jemand soll sein nach dem Rechtsgesetze.
Wo aber die Natur die Menschen nicht also geschieden hat in der Sinnenwelt, als der fortpflanzenden Sphäre ihrer Wirksamkeit, wie soll da die mittelbare Störung vermieden werden? Antwort: durch Kunst. Es müssen getrennte Sphären errichtet und Jeder an eine solche besondere gewiesen werden, der alle Übrigen sich enthielten. So wie es auf dem Boden des Sittengesetzes heißt: was der Eine soll, soll durchaus kein Andrer; so heißt es hier: was der Eine darf, darf durchaus kein Andrer. Jeder müsste ausschließlich und eigentümlich seine Grenzen haben, innerhalb welcher alle Andern ihn ungestört lassen sollen; eine Sphäre seines Handelns, welches man Eigentum nennt. (Dies ist der Grundbegriff, der Sie gleich beim Eintritt vor einer Fülle von Irrtümern, die über diesen Begriff in Theorie und Leben sich eingeschlichen haben, bewahrt).
Dieses Eigentum ist geschieden durch freie Kunst, weil die Natur nicht geschieden hat. Das Eigentum des Körpers muss durch das Rechtsgesetz bloß gesichert werden, da es schon eine Verfügung der Natur ist, das Eigentum der Sphäre dagegen muss befohlen werden, als Bedingung des ersteren.
Wenn wir irgend ein Wesen denken, welches die Gemeinschaft mehrerer freier Wesen denkt, so muss es einsehen, dass es so sein soll, falls die Freiheit Aller bestehen soll: wo aber dieses nicht so wäre, so würde Gewalt herrschen, und die größere Stärke würde entscheiden.
Dies Aufgestellte war jedoch der bloße leere Gedanke, ein Bild. Der Rechtsbegriff soll aber kein leerer Gedanke bleiben, sondern verlangt seine Realisation. Wie könnte nun der Rechtsbegriff realisiert werden? Ich sage: wenn der Rechtsbegriff Gesetz des Willens Aller würde.
- Ich sage, des Willens Aller, die neben einander frei sein sollen. Denn wir haben schon gesehen, dass die Beschränkung der Einzelnen Nichts hilft, sondern schlechthin Alle sich in ihrer Grenze einschließen müssen, wenn die Freiheit Aller, als das gemeinschaftliche Resultat, hervorgehen solle.
- Der Rechtsbegriff soll ein Gesetz des Willens Aller sein. Ein Gesetz, d.h. dass es schlechthin unmöglich wäre, dass Einer Andre verletzen wollte in der ihnen zugeteilten Sphäre des freien Wirkens. Er kann ihn verletzen; das hat die Natur ihm frei gelassen. Die Sterne in ihren Bahnen können nicht in einander eingreifen und ihren Lauf beschränken; so aber nicht das freie Wesen. Es ist eben nicht Naturgesetz. Wo liegt ihm denn nun das Können? Da liegt es ihm, weil er wollen kann. Was darum müsste man ihm binden, da die Kraft ihm nicht gebunden ist? Den Willen . Es müsste durch ein dem mechanischen gleiches Gesetz, das dem Willen geböte, unmöglich sein, dass Einer die Rechtsverletzung wollte.
Es ist wichtig, dass Sie hier im Einfachen einsehen, dass grade dieses gefordert werde durch die Gültigkeit des Rechtsbegriffes. Es wird späterhin daraus gefolgert, und zwar nicht etwas Bekanntes, oder bis jetzt klar Eingesehenes. - Der Rechtsbegriff, er allein und nichts Anderes, wäre das den Willen Bewegende: lediglich um des Rechts willen, und von Rechts wegen soll gewollt werden. Nicht Liebe, Gunst, Mitleiden, Sittlichkeit, (denn deren Erscheinung wird ja gar nicht vorausgesetzt, und muss sorgfältig abgehalten werden); - Begriffe von Nutzen und allgemeinem Wohl, noch weniger Gewalt und dergl., sondern durchaus und lediglich der Rechtsbegriff soll den Willen bestimmen; von ihm allein ist die Rede, und alles Andre muss sorgfältig abgehalten werden.
- Warum wir hierüber so strenge halten, zeigt sich sogleich durch eine wichtige Folgerung.
a) Um des Rechts willen, und aus keinem andern Grunde ist in dem gedachten Zustande der Dinge unter der Herrschaft des Rechtes die Freiheit eines Jeden unverletzlich: die ganze Freiheit, die von der Natur gegebene persönliche sowohl, als die bestimmte Sphäre des ungehinderten Wirkens.
Was Jeder unter dieser Herrschaft an Freiheit hat, ist ihm gegeben nicht durch die Natur, welche ihn bloß gesetzt, ihren Schutz aber dadurch, dass sie Allen die Macht gegeben hat, Freiheit zu verletzen, zurückgenommen hat; sondern er hat sie durch das Recht, und eben nur als sein Recht.
b) Aber der Rechtsbegriff ist ein solcher, der von Allen gedacht werden muss, die darunter begriffen sein wollen, und Anteil an ihm haben. Nur inwiefern Alle sich ihm unterwerfen um des Rechts willen, ist ein Rechtszustand; denn dieser ist ein Zustand nicht der Einzelnen, sondern Aller. Wer sich darum demselben nicht unterwirft, gehört nicht unter diese Alle und hat darum kein Recht, und da in diesem Zustande Aller sein Anspruch auf Freiheit ohne Ausnahme sich nur auf das Recht gründen kann, keinen Anspruch auf Freiheit.
Anspruch auf Freiheit hat er nur dadurch, dass er in dem Rechte begriffen wäre: aber er ist in dem Rechte begriffen, nur inwiefern er selbst alle Andren darin begreift. Recht ist nur, inwiefern der Wille Aller demselben unterworfen ist. Wer den Willen nicht unterwirft, der ist nicht in dem: Alle, und wird nicht unter diesen begriffen.
Also: das Recht jedes Einzelnen ist dadurch bedingt, dass er die Rechte aller Übrigen anerkennt, und außer dieser Bedingung hat Niemand ein Recht.
Anmerkung.
Hier zeigt sich nun die Wichtigkeit für wissenschaftliche, d.i. klare und bestimmte Ansicht, dass das Rechtsgesetz vom Sittengesetze getrennt werde.
Es erkennt Einer das Recht nicht an. Soll ich ihn denn nun deshalb ohne Schonung als einen durchaus Rechtlosen, als ein Ding, behandeln? Wer sagt so? Vielleicht ein sittliches Wesen. Er ist ja denn doch ein Werkzeug des Sittengesetzes; jetzt freilich ist er roh, aber er kann sich bilden; trage ihn, erziehe ihn. - Alles dieses wird er sagen nach sittlichen Prinzipien, und das werden wir auch sagen in der Sittenlehre. Da ist das Gesetz an mich allein gerichtet, und ist unbedingt. Aber so nicht das Rechtsgesetz, sondern dies ist an Alle gerichtet, und die Unterwerfung des Einzelnen ist bedingt durch die Aller, und jedes Einzelnen. Fällt die Bedingung weg, so fällt auch das Bedingte weg. So verhält es sich mit dem Rechte. Wenn ich jenes tue, ihn trage und erziehe, so tue ich es meiner Pflicht, nicht aber seines Rechtes wegen, und davon war jetzt die Rede. (Widersprechen sich denn also Sittengesetz und Rechtsgesetz? Das letztere ignoriert das erstere, das erstere dagegen hebt das letztere auf. Wie der Staat, der neben seiner Rechtlichkeit zugleich sittlich ist, die beiderseitigen Ansprüche zu vereinigen habe, werden wir sehen.
Das Rechtsgesetz verbindet Alle, und die Einzelnen verbindet es nur, inwiefern es Alle verbunden hat. Wer nicht unter die Alle gehört, durch den ist kein Einzelner verbunden.
Folgerungen.
- Die Rechtsverfassung umfasst eine bestimmte und geschlossene Gemeine von Individuen, welche als umfasste allen mittelbar oder unmittelbar bekannt sein müssen, indem nur sie die in dieser Verfassung Berechtigten sind.
- Ein Recht überhaupt wird nur durch Übernehmung der Verbindlichkeit erlangt, die Rechte der Andern zu schauen, und zwar lediglich bei denen, welchen man sich auf diese Weise verbindet. Kein Recht darum ohne Verbindlichkeit, und umgekehrt; denn eben dadurch, dass man sich verbindet, beweist man sich als dem Rechtsbegriffe unterworfen, welches die Bedingung ist, unter der man Recht hat. So weit gegen die Personen die Verbindlichkeit sich erstreckt, so weit erstreckt sich auch das Recht. Man hat Rechte, so weit man Rechte zugesteht.
Resultat des Aufgefundenen.
- Das Rechtsgesetz umfasst notwendig eine Allheit.
- In diese Allheit gehört nur der Einzelne, der selbst seinen Willen dem Rechtsgesetze unterworfen hat.
Die formale Bedingung des Rechtes auf bestimmte Andre ist, dass man die Rechte dieser bestimmten Andern anerkenne, und sich ihnen, als einem Gesetze, unterwerfe: dadurch werden auch sie seinem Rechte unterworfen.