Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die neue Romantik

Uhland, Kerner Teil 2

Solchen Ton hatten indes schon vor Uhland andere Romantiker, vielleicht noch voller, angeschlagen. Um daher das Neue zu erkennen, das Uhland, wie wir vorhin sagten, mit seinen vaterländischen Gedichten angebahnt, müssen wir uns zuvörderst über Sinn und Bedeutung dieser Dichtungsart näher zu verständigen suchen. – Was ist denn eigentlich politische Poesie? Gewiß nicht versifizierte Kammerverhandlungen über Presse, Verfassungsfragen oder ordinäre Franzosenfresserei. Wer freilich möchte leugnen, daß auch solchen Bestrebungen poetische Sympathien zum Grunde liegen; aber ebenso gewiß gehören alle jene Dinge in ihrer abstrakten Erscheinung einer geistigen Kombination an, für welche die Poesie, als Kunst, weder den Beruf noch die Mittel und mithin auch keinen natürlichen Ausdruck hat. Die äußeren Staatsformen, sie mögen als Recht oder Mißbrauch, als Verfassung oder als öffentliche Meinung sich kundgeben, sind immer nur die Resultate der inneren Geschichte, des normalen oder verkehrten Bildungsprozesses eines Volks. Historisch gegebene Größen, aus denen der ordnende Weltverstand, den wir Regierungskunst nennen, seine Gleichungen zu machen hat, um die unbekannte Größe des Ewigen zu finden. Die Aufgabe der Poesie dagegen ist nicht, das, was der Wogenschlag der Zeit als Begriffe abgelagert, prüfend zurechtzulegen, nicht das Erkämpfte, sondern den Kampf, das Werdende, mit einem Wort: das Dramatische jenes Bildungsprozesses selbst lebendig darzustellen. Eine vorwitzige Mengerei dieser wesentlich verschiedenen Aufgaben und Elemente, vor der schon Lessing so ernst gewarnt, kann daher im vorliegenden Falle nur die Politik phantastisch machen oder die Poesie zu einer didaktischen Rhetorik aufblasen. Von beiderlei Mißgeburten hat unsere neueste Literatur zahlreiche Exemplare aufzuweisen; ja, viele der jetzigen Dramen sind, fast wie unsere gesellschaftlichen Rätselspiele, schlechthin bloße Allegorien radikaler Stichworte; im Grunde also nur eine andere Art von Iffländerei, die uns, statt der damaligen platten Wirklichkeit der häuslichen Familiendebatte, jetzt die nicht minder redselige Wirklichkeit der Kammerdebatte aufdringen will.

Die Staatskunst ist wie die Astronomie; wie diese den Wandel der Gestirne, so sucht jene das ewige Gesetz der Bewegungen und Wechselbeziehungen der ethischen Kräfte der Menschheit zu entdecken, um das natürliche Planetensystem der Gesellschaft herzustellen. Aber die unsichtbare, bewegende Urkraft, von der dieses Gesetz eben nur der Ausdruck ist, zu ergründen und zum waltenden Bewußtsein zu bringen, werden beide jederzeit der Philosophie und Poesie überlassen müssen. Will daher die Poesie auf dem Boden des Volkslebens bildend wirken – und welche echte Poesie hätte das nicht gewollt? –, so muß sie nicht über das fait accompli der Bildung, über die auf der Oberfläche treibenden Tatsachen ganz unberufen mitschwatzen wollen, sondern in die geheimnisvolle Werkstätte selbst, wo die Tatsachen geboren und die draußen auszuprägenden Metalle erzeugt werden, sich versenken, die Erinnerungen, Kräfte und Tugenden weckend, aus denen heraus der gesunde Staat sich aufbaut oder verjüngt. Das kann sie aber nur, indem sie das religiöse Volksgefühl belebt, in welchem alle jene Tugenden wurzeln.

So hat es Friedrich Schlegel, im Jahre 1809 und früher, mit seinen patriotischen Liedern gehalten, und in diesem Sinne sind auch Uhlands harmlos unpolitische Lieder allerdings politischer als seine sogenannten vaterländischen. Das Neue und Abweichende der letzteren aber von Schlegel und den andern Romantikern liegt eben darin, daß Uhland grade hier jenes Element religiöser Erhebung fallen läßt und aus der Werkstatt der Zeiten mitten in ihre wilde Bewegung hinaustritt. Er sagt es selbst:

»Ich bitt euch, teure Sänger, Die ihr so geistlich singt, Führt diesen Ton nicht länger, So fromm er euch gelingt! Will einer merken lassen, Daß er mit Gott es hält, So muß er keck erfassen Die arge böse Welt.«

Ganz ritterlich. Aber wie soll nun der Dichter, als solcher, den Kampf mit der argen Welt bestehen, wenn er seine stärkste Waffe, die geistliche, vorweg von sich wirft? Indem er auf diese Weise seinem bisherigen unsichtbaren Banner entsagt, wird er sich notwendig unter eine fremde, weltliche Fahne stellen müssen. Und das tut denn auch Uhland in der Tat, wenn es weiterhin heißt:

»Andre Zeiten, andre Musen! Und in dieser ernsten Zeit Schüttert nichts mir so den Busen, Weckt mich so zum Liederstreit: Als wenn du, mit Schwert und Waage, Themis, thronst in deiner Kraft, Und die Völker rufst zur Klage, Könige zur Rechenschaft!«

Die Poesie wird also vom ethischen Boden auf den Rechtsboden gestellt. Es ist das Recht, das alte gute Recht und immer  wieder nur das Recht, das nicht erst innerlich errungen, sondern als ein angefallenes Erbstock gerichtlich in Anspruch genommen werden soll; ein Handel, der natürlich, wie jeder Rechtsstreit, zuletzt auf einen geschriebenen und besiegelten Kontrakt hinausläuft:

»Das Recht ist ein gemeines Gut, Es liegt in jedem Erdensohne, Es quillt in uns wie Herzensblut; Und wenn sich Männer frei erheben Und traulich schlagen Hand in Hand, Dann tritt das innre Recht ins Leben Und der Vertrag gibt ihm Bestand.

Vertrag! es ging auch hier zu Lande
Von ihm der Rechte Satzung aus,
Es knüpfen seine heil'gen Bande
Den Volksstamm an das Fürstenhaus,
Ob einer im Palast geboren,
In Fürstenwiege sei gewiegt,
Als Herrscher wird ihm erst geschworen,
Wenn der Vertrag besiegelt liegt.«

Uns will es freilich scheinen, als ginge nicht das Recht von dem Vertrage, sondern der Vertrag von dem Rechte aus, als gebe dieses jenem und nicht der papierne Vertrag dem Rechte Bestand, und als käme endlich, bei wechselseitiger rechter Treue, überhaupt nicht viel auf solche Besiegelung an. Allein auch dieses Recht selbst bleibt poetischerweise hier ein sehr unbestimmtes, der Vertrag ein erst zu redigierender, wenn wir nicht etwa mit einem württembergischen Provinzialrecht vorliebnehmen wollen. Die Epigonen aber haben sich's bald anders gedeutet, in das ungewisse Recht einen willkürlichen Inhalt hineingefaselt und zu dem Vertrage ihre Punktation nach eignem Gelüsten aufgesetzt. Und so ist Uhland wider Willen und Wissen – wie in der protestantischen Abzweigung von der Romantik, so in dem trotzigen Rechtsgefühl – Führer geworden einer Dichterschar, die man ungenau als die schwäbische bezeichnet; denn sie geht in immer wachsendem Ungestüm rasch über Schwaben fort mit Anastasius Grün und Lenau durch Österreich nach Ungarn hinein, bis sie endlich allerwärts in einem Bacchantenzuge von Freischärlern austobt, die mit Uhland und der Romantik gar nichts mehr gemein haben.

Eben deshalb gehören sie aber auch nicht mehr in den Kreis unserer Betrachtung und ebensowenig die in dieser Reihe Uhland Zunächststehenden, da wir keine Literaturgeschichte der Romantik schreiben, sondern nur ihre Hauptrichtungen nachweisen wollen, über die Hervorragendsten aus jener Reihe aber, wie z.B. über Gustav Schwabs herzliche, lebenswarme Poesie und Gesinnungstüchtigkeit, nur ungefähr das von Uhland Gesagte hier widerholen könnten. Über Justinus Kerner dagegen sei es uns erlaubt, noch wenige Worte hinzuzufügen, weil er einige Klänge der Romantik für sich allein oder doch vorzugsweise und eigentümlich ausgebildet hat.

Gleich wie nämlich von Uhland die Geschlechtsfolge der politischen Dichter ausgeht, so kann Kerner als der Ahnherr des späteren Weltschmerzes und jener Zerrissenheit betrachtet werden, die zuletzt die Romantik selbst zerrissen hat. Die Romantik, von Natur und selbst in ihren asketischen Richtungen durch ihr Gottvertrauen heiter und lebensfrisch, läßt die Wehmut, die Sehnsucht und den Schmerz nur wie Wolkenschatten über die sonnige Landschaft fliegen. Eben diese Schatten aber hat Kerner aufgegriffen und gleich Trauerflören an allen blühenden Wipfeln ausgehängt. Es ist die Nachtseite der Romantik wo seine Dichtung weilt, jener melancholische Tiefsinn, der ihn auch anderwärts zum Somnambulismus und zur Geisterschau geführt. So sehen wir ihn überall aus dem Weltleben in die Stille der Natur sich flüchten:

»O könnt ich einmal los Von all dem Menschentreiben, Natur in deinem Schoß Ein herzlich Kind verbleiben!

O nimm dein reuig Kind
In deine Mutterarme,
Daß dir's am Busen lind
Zu neuer Lieb erwarme!

Bis ich wie Blum und Quell
Dir darf im Herzen bleiben,
Mutter! o führ mich schnell
Hin, wo kein Menschentreiben!«

 

Ja, in diesem schmerzlichen Zwiespalt zwischen dem Jenseits und dem Irdischen ist ihm das Leben wie eine Krankheit, von der er nur im Tode genesen kann:

»O armer Sohn der Arzenei! Bist selbst erkrankt im Herzen, Kennst der Heilkräuter mancherlei, Such eins für eigne Schmerzen! Welt, daß ich's finde, laß mich los! Mich heilt nur meines Grabes Moos.«

Allein es ist eben nur erst der Grundton, den Kerner angeschlagen, er selbst steht den nachstürzenden Weltschmerzlern und Zerrissenen noch völlig fremd und fern, weil bei ihm das, was jenen gänzlich fehlt, das religiöse Gefühl der Romantik, noch pulsiert. Und zwar kein unbestimmtes, ästhetisch-katholisierendes Gefühl, sondern ein positiv-christlicher Sinn, wie er in: »Die Kranke und die Stimme«, im »Saul« und vielen andern seiner Lieder sich kundgibt, und dem es redlich Ernst ist mit der sittlichen, inneren Bewältigung und Nachfolge Christi, wenn er sagt:

»Ruf auf, ruf auf den Geist, der tief Als wie in eines Kerkers Nacht, Schon längst in deinem Innern schlief, Auf daß er dir zum Heil erwacht!

Aus hartem Kieselsteine ist
Zu locken ird'schen Feuers Glut,
O Mensch! wenn noch so hart du bist,
In dir ein Funke Gottes ruht.

Doch wie aus hartem Steine nur
Durch harten Schlag der Funke bricht,
Erfordert's Kampf mit der Natur,
Bis aus ihr bricht das Gotteslicht.

Schlag an, schlag an, wenn's weh auch tut Dem Fleische, drin der Funke ist, Noch weher tut der Hölle Glut, Mensch! wenn du nicht zu wecken bist.«

Nun ist es aber ebenso natürlich, als durch Shakespeares melancholische Personen jedermann hinreichend bekannt, daß  in solchen Gemütern die Betrachtung der Welt, weil diese ihnen aus ihrer einsamen Höhe nur in der Vogelperspektive erscheint, gar leicht in ein keckes Lachen über die Nichtigkeit alles Irdischen umschlägt. Und in ein solches herzliches Lachen bricht denn auch Kerner in seinen »Reiseschatten« aus, wo die Wichtigtuerei des kleinen Menschentreibens an dem Ernst der Natur und einer höheren Weltanschauung sich ergötzlich abarbeitet. Eben dieses religiöse Gefühl des Kontrastes aber zwischen dem Diesseits und Jenseits ist die Wurzel alles gesunden Humors und die Kluft, die Kerner von den Zerrissenen scheidet. Denn da den letzteren das Jenseits abhanden gekommen und nun das irdische Leben für sich allein gelten soll und doch nicht kann, so ist es ihnen ergangen wie dem Don Quichotte, als er ein Marionettenspiel, weil er die leitende Hand und die unsichtbaren Stimmen nicht bemerkt, für die volle Wahrheit nahm und die armen Puppen kindisch zerstörte.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03