Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die neue Romantik

Novalis Teil 1

Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) erkannte die prosaische Versunkenheit seiner Zeit mit einer Tiefe des Gefühls, das man, in einem anderen Sinne als heutzutage, wohl einen Weltschmerz nennen dürfte. So lange schon, sagt er, waren sie »rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschliche Seele und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden; sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher; man reformierte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neueren vernünftigeren, gemeineren Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; alle Gelehrsamkeit ward aufgeboten, um die Zuflucht zur Geschichte abzuschneiden, indem man die Geschichte zu einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familiengemälde zu veredeln sich bemühte; Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feierlich bewirten und bewundern sollte. Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue europäische Zunft, die Philanthropen und Aufklärer. Schade, daß die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen, sie zu modernisieren, zum Trotz.«

Allein Novalis begnügte sich nicht damit, zu klagen oder anzuklagen. Kampffertig vielmehr ruft er in die morgenfrische Zukunft hinaus:

»Helft uns nur den Erdgeist binden;Lernt den Sinn des Todes fassen,Und das Wort des Lebens finden;Einmal kehrt euch um.

Deine Macht muß bald verschwinden,
Dein erborgtes Licht erblassen,
Werden dich in kurzem binden,
Erdgeist, deine Zeit ist um.«

Man sieht, das ist kein bloßes ästhetisches Mißbehagen an dem und jenem Gebrechen der Zeit; es war das Grundübel des europäischen Gesamtlebens, was ihm am Herzen lag und das mithin auch nur durch eine höhere Weltkraft gebrochen werden konnte. Er wurde zuerst sich bewußt, oder hatte doch zuerst den Mut, es den Gebildeten klar und öffentlich zu sagen, daß die ganze neuere Bildung im Christentume wurzle und notwendig auf diese ihre Grundlage wieder zurückgeführt werden müsse, wenn sie fortan Bedeutung und Bestand haben sollte. »Längst«, sagt er, »hätte sich das überirdische Feuer Luft gemacht und die klugen Aufklärungsplane vereitelt, wenn nicht weltlicher Druck und Einfluß denselben zustatten gekommen wären. In dem Augenblick aber, wo ein Zwiespalt unter den Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion und ihrer ganzen Genossenschaft entstand, mußte sie wieder als drittes tonangebendes und vermittelndes Glied hervortreten, und diesen Hervortritt muß nun jeder Freund derselben anerkennen und verkündigen.«

Jener zersetzenden Gewalt der negativen Wissenschaft erkennt er daher insofern eine welthistorische Gültigkeit zu, als sie durch ihre Extreme in der allgemeinen religiösen Erschlaffung der Völker indirekt die Krise und Genesung herbeigeführt. Denn »daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind: dies kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet; die höheren Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus.« – »In Frankreich hat man viel für die Religion getan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen und ihr bloß das Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat. Als eine fremde, unscheinbare Waise muß sie erst die Herzen wieder gewinnen und schon überall geliebt sein, ehe sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freundschaftlichen Beratung und Stimmung der Gemüter gemischt wird.«

So erst wieder innerlich geworden, soll aber die Religion demnächst, als jene höhere Weltkraft, alle irdischen Verhältnisse, vor allem deren Gesamtausdruck: den Staat, beseelend durchdringen; und wir erkennen schon hier die Hauptzüge eines solchen christlichen Staats, wenn er ferner sagt: »Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten! Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle euere Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält. Aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels; gebt ihm eine Beziehung aufs Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm und werdet euere Bemühungen reichlich belohnt sehen. – – Haben die Nationen alles vom Menschen, nur nicht sein Herz, sein heiliges Organ?« –

Als eine entscheidende Annäherung zu diesem gewünschten Zustande betrachtet er daher zunächst das monarchische Prinzip. Denn »der König ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensysteme ist. Man hat sehr unrecht, den König den ersten Beamten des Staats zu nennen. Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter. Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf dem Glauben an einen höhergebornen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen beruht. Unter meinesgleichen kann ich mir keinen Oberen wählen; auf einen, der mit mir in der gleichen Frage befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen echtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunkt geknüpft ist; an ein Wesen, das zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch. Diese Dichtung drängt sich dem Menschen notwendig auf, sie befriedigt allein eine höhere Sehnsucht seiner Natur.« – Er leugnet zwar keineswegs die Vorteile einer repräsentativen Demokratie, wo die vortrefflichsten Menschen der Nation einander ergänzen und in solchem Vereine sich ein reiner Geist der Gesellschaft entzündet. Allein er fügt hinzu: »Zuerst ziehe ich die vortrefflichsten Menschen der Nation und die Entzündung des reinen Geistes in Zweifel. Auf die sehr widersprechende Erfahrung will ich mich nicht einmal berufen. Es liegt am Tage, daß sich aus toten Stoffen kein lebendiger Körper, aus ungerechten, eigennützigen und einseitigen Menschen kein gerechter, uneigennütziger und liberaler Mensch zusammensetzen läßt. Freilich ist das eben ein Irrtum einer einseitigen Majorität, und es wird noch lange Zeit vergehen, ehe man sich von dieser simplen Wahrheit überzeugen wird. Eine so beschaffene Majorität wird nicht die Vortrefflichsten, vielmehr im Durchschnitt nur die Borniertesten und Weltklügsten wählen. Unter den Borniertesten verstehe ich solche, bei denen Mittelmäßigkeit zur fertigen Natur geworden ist, die klassischen Muster des großen Haufens; unter den Weltklügsten die geschicktesten Courmacher des großen Haufens. Hier wird sich kein Geist entzünden, am wenigsten ein reiner. Ein großer Mechanismus wird sich bilden, ein Schlendrian, den nur die Intrige zuweilen durchbricht. Die Zügel der Regierung werden zwischen dem Buchstaben und mannigfaltigen Parteimachern hin und her schwanken.« – Er zieht daher selbst die Despotie eines einzelnen noch jener Despotie vor. Denn »wenn der Repräsentant schon durch die Höhe, auf die er gehoben wird, reifer und geläuterter werden soll, wieviel mehr der einzelne Regent!«

»Sollte« – frägt er demnach an einer anderen Stelle – »sollte etwa die Hierarchie, diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins, als intellektuale Anschauung des politischen Ichs sein? – Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen. – Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0756.pngsich selbst ins Gleichgewicht setzen; ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. – Auf dem Standpunkte der Kabinette, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar. – Beide Teile sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust: hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten, glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams, dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen. Keine hoffe die andre zu vernichten, – Der Krieg wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise umhertreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Worte des Friedens vernehmen und ein großes Liebesmahl als Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken und die Völker versöhnen.«

In der aufrichtigen Rückkehr der Völker zur Religion also sieht er die alleinige Rettung. Diese Rettung aber ist auf der vom Protestantismus eingeschlagenen Bahn unmöglich; vielmehr erkennt er grade in dem letzteren, den er einen Aufstand gegen den Buchstaben der ehemaligen Verfassung nennt, Grund und Anfang jenes allgemeinen Verfalls, welchen wir ihn oben beklagen hörten. Er sagt: »Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten; denn sie protestierten feierlich gegen jede Anmaßung einer Gewalt über das Gewissen. – Sie stellten auch eine Menge richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein und schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie vergaßen das notwendige Resultat ihres Prozesses; trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war. – So verlor die Religion ihren großen politischen, friedestiftenden Einfluß; – durch die Fortsetzung des sogenannten Protestantismus ward etwas durchaus Widersprechendes, eine Revolutions-Regierung permanent erklärt.«

Er sucht nun die zerstörende Einwirkung der Reformation, und zwar zunächst auf die Wissenschaft, näher nachzuweisen. »Der gelehrte und geistliche Stand«, sagt er, »müssen Vertilgungskriege führen, wenn sie getrennt sind, denn sie streiten um eine Stelle. Diese Trennung tat sich nach der Reformation besonders in späteren Zeiten mehr hervor, und die Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geschichte der europäischen Menschheit dem Zeitraume der triumphierenden Gelehrsamkeit näherte und Wissen und Glauben in eine entschiedene Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. – Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu, was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr, der Religionshaß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not obenan und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheueren Mühle, die, vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei. Ein Enthusiasmus ward großmütig dem armen Menschengeschlechte übriggelassen und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Aktionär derselben unentbehrlich gemacht, der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie, und insbesondere für ihre Priester und Mystagogen. Frankreich war so glücklich, der Schoß und Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammengeklebt war.«

Doch nicht nur um ihrer weitgreifenden Folgen willen weist er die Reformation zurück, die in dem sehr empfänglichen Frankreich, vielleicht eben weil sie sich dort nicht praktisch und äußerlich gestalten durfte, um so mehr in jene falsche Philosophie umgeschlagen. Auch in ihrem Prinzip, indem sie den historischen Boden lebendiger Tradition verläßt, findet er schon die Wurzel der unheilvollen Trennung von Glauben und Wissen. »Luther«, sagt er, »behandelte das Christentum überhaupt willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein, nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel, und dadurch wurde leider eine andere, höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt, die Philologie, deren auszehrender Einfluß von da an unverkennbar wird. – Der heilige Geist ist mehr als die Bibel; er soll unser Lehrer des Christentums sein, nicht toter, irdischer, zweideutiger Buchstabe. – Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet wie der Buchstabe; – jetzt wurde die absolute Popularität der Bibel behauptet, und nun drückte der dürftige Inhalt, der rohe abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern desto merklicher und erschwerte dem heiligen Geist die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich. Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen, großen Erscheinungen des Überirdischen mehr. – Mit der Reformation war es um die Christenheit getan. – Katholiken und Protestanten oder Reformierte standen in sektierischer Abgeschnittenheit weiter voneinander als von Mohammedanern und Heiden.«

Dagegen schildert er, namentlich in seinem Aufsatze: »die Christenheit oder Europa«, mit Begeisterung das katholische Mittelalter, als die Kirche Lehrerin und Beschützerin der Völker gewesen: »Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die Provinzen dieses geistlichen Reiches. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und strebte mit Eifer, seine wohltätige Macht zu befestigen. – Wie heiter konnte jeder sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heiligen Menschen eine sichere Zukunft bereitet wurde. – Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die, mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war. Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr himmlisches, freundliches Kind die Versuchung der irdischen Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und nun Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt und von heiliger Musik belebt waren. – Emsig suchte diese mächtige, friedenstiftende Gesellschaft alle Menschen dieses schönen Glaubens teilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen in alle Weltteile, um überall das Evangelium des Lebens zu verkündigen und das Himmelreich zum einzigen Reich auf dieser Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens; denn er wußte wohl, daß die Menschen sich gewöhnen würden, alles Große und Wunderwürdige zu verachten und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorzuziehen. – Das waren die schönen wesentlichen Züge der echt katholischen oder echt christlichen Zeiten.«

Nur der Katholizismus also bedeutete ihm das volle, ungetrübte Christentum. Denn »angewandtes, lebendiggewordenes Christentum war der alte katholische Glaube. Seine Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mitteilsamkeit, seine Freude an Armut, Gehorsam und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung.«

Fassen wir nun alle die vorstehenden Äußerungen noch einmal zusammen, so erhalten wir in Kürze folgenden wesentlichen Inhalt: Novalis beklagt, mit allen edlen Gemütern seiner Zeit, die materialistische, tödliche Erschlaffung des geistigen Lebens in Europa. Als Grund dieses Verfalls erkennt er den nüchternen Abfall der Völker von der Religion, die einseitige Trennung und feindliche Gegenüberstellung von Glauben und Wissen. Diesen Abfall aber findet er in der Reformation angebahnt, im Protestantismus konstituiert und festgehalten. Nur die Rückkehr zur wahren Religion daher, d.h. zur katholischen Kirche, kann die ersehnte Rettung und Wiedergeburt bringen. »Die Christenheit«, sagt er demnach, »muß wieder lebendig und wirksam werden und sich wieder eine sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt. – Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden.«

Die Erfüllung dieser Hoffnungen war indes unmöglich, solange jene asthenische, radikal prosaische Gesinnung das Leben niederhielt. Das Übel aber konnte wiederum nur durch sein Gegenteil gehoben, die als notwendig erkannte Rückkehr zur Kirche mithin am sichersten nur durch die Poesie vermittelt werden. Und dies war Novalis' Aufgabe. – Natürlich, daß er hiernach die Poesie nicht etwa im untergeordneten, bloß ästhetischen Sinne, sondern in ihrer großartigsten, allgemeinsten Bedeutung auffaßte, ja gewissermassen mit der Religion identifizierte. »Religionslehre«, sagt er, »ist wissenschaftliche Poesie. Poesie ist unter den Empfindungen, was Philosophie in Beziehung auf Gedanken ist.« – Ihr Organ: »das echte Gemüt ist wie das Licht, ebenso ruhig und empfindlich, ebenso elastisch und durchdringlich, ebenso mächtig und ebenso unmerklich wirksam wie dieses köstliche Element, das auf alle Gegenstände sich mit Abgemessenheit verteilt und sie alle in reizender Mannigfaltigkeit erscheinen läßt. – Es ist recht übel, daß die Poesie einen besonderen Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes – die Liebe selbst ist nichts als die höchste Naturpoesie.« – »Poesie ist Darstellung des Gemüts, der innern Welt in ihrer Gesamtheit. – Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein; er ist der Sinn für das Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende. Er stellt das Undarstellbare dar, er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare – er hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen Sinn, dem Wahnsinn überhaupt.« – Indem er nun aber diese allgemeine, belebende Weltkraft unter das Banner der Religion stellte, wurde sie, als christliche Poesie, eine geistige Macht, die alle menschlichen Verhältnisse, das ganze diesseitige Leben adeln sollte, um es zur Versöhnung mit der Religion wieder fähig zu machen; sie war ihm ein Gottesdienst, der Dichter ein Priester, die Inspiration des gläubig Schauenden und echte dichterische Begeisterung ein und dasselbe.


Letzte Änderung der Seite: 27. 09. 2021 - 03:09