Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands
Die neue Romantik
Immermann, Rückert, Chamisso
Wir sind hier endlich an den äußersten Grenzen der Romantik angelangt, wo sie kaum sich selbst mehr wiedererkennt. – Wenn ein vorzeitiger Herbst plötzlich hereinbricht, da werden die Wandervögel irr und schweifen unruhig hin und wieder und wissen nicht wohin, denn ihre Zeit ist noch nicht gekommen, die ihnen Weg und Richtung weist. Und so sehen wir auch die Singvögel, welche die wechselnden Jahreszeiten der nationalen Bildung bezeichnen, wir sehen die Dichter dieser Periode in hastiger, unsteter Geschäftigkeit und Ungenüge, dem Alten entfremdet und des Neuen noch ungewiß; man könnte sie die Heimatlosen nennen. Sie gehören, da sie keine Romantiker mehr sind, gleich Platen eigentlich auch nicht mehr in den Kreis unserer Betrachtung, und wir wollen daher nur drei der bedeutendsten unter ihnen – Immermann, Rückert und Chamisso – hier mit wenigen Worten noch erwähnen.
Immermann ist schon durch seine Individualität von seinen Vorgängern geschieden; eine starke, aber etwas herbe, durchaus oppositionelle Natur, wesentlich ein Verstandesdichter, der nicht ergötzen, sondern belehren will. Er stellt sich schon frühe – mehr infolge gelehrter Studien als innerer Nötigung – außerhalb der Romantik mit seinen Dramen unmittelbar auf Shakespeare, mit seinen Romanen auf Goethe; und sein berüchtigter Kampf mit Platen ist, wenigstens von seiten Immermanns, weniger persönlich als vielmehr eine männliche Entrüstung, ein ethischer Ekel vor der prätentiösen Geziertheit der Romantik, wie sie seit Fouqué sich kundgegeben. Wie lose Immermann überhaupt nur noch mit dem Grundprinzip der Romantik zusammenhängt, beweist auch seine völlig gleichgültige Behandlung der katholischen Ansicht, z.B. in seinem »Trauerspiel in Tirol«, wo sie augenscheinlich das historische Grundelement bildet, und wo dennoch der den Hofer tröstende Engel nur noch als bloße theatralische Dekoration, mithin ganz ungeschickt und nutzlos, erscheint.
Aber zu scharfsichtig, um in der bloßen Opposition schon das positive Heil zu erblicken, und doch ohne die erforderliche eigne Produktionskraft, selbst neue Bahnen zu brechen, überkam ihn nach und nach eine allgemeine, oft ingrimmige Trostlosigkeit, als sei nun seit Goethe alles vorüber. Und in dieser natürlichen Verstimmung greift er, den Übergang zu der allerneuesten Literatur unwillkürlich vorbereitend, schon oft faktisch in die letztere hinüber, indem er jenen Übergang selbst, mit klarem, keinerlei Täuschung zugänglichem Bewußtsein zum Gegenstand seiner eigenen Dichtung macht. So in den »Epigonen«, deren Held Hermann mit moderner Blasiertheit zwischen der unvereinbaren Vielheit und ratlosen Zerfahrenheit der neuen Zustände und Tendenzen irrwischartig hin und her geworfen wird. »In unseren Geschichten«, sagt er am Schlusse dieses Romans, »spielt gleichsam der ganze Kampf alter und neuer Zeit, welcher noch nicht geschlichtet ist.« – Daß er aber auch in Immermann nicht geschlichtet war, beweist der fast verzweifelte, immer neue Anlauf, den er zu immer neuen, ganz verschiedenartigen Produktionen genommen, zum freien und bühnengerechten Drama, zur Lyrik, zum Roman und zum Epos, um wenigstens für sich zu einem vergeblich angestrebten, poetischen Frieden zu gelangen.
Auch Friedrich Rückert gehört, gleich Immermann, zu den Flüchtlingen der Romantik. Noch teilt er, zumal in seiner frühesten Zeit, als er unter dem Namen Freimund Reimar auftrat, fast alle Neigungen und Bahnen der Romantiker. Durchaus edel, sittlich, die Schönheit ehelicher Liebe innig feiernd, sehen wir auch ihn in den verhängnisvollen Jahren Deutschlands den romantischen Banner altritterlicher Tugend und Treue keck aufrichten, und aller männliche Ernst und Liebeszorn Friedrich Schlegels leuchtet in ihm noch einmal auf, wenn er z.B. in seinen geharnischten Sonetten sein Volk anredet:
»Was schmiedst du, Schmied? ›Wir schmieden Ketten, Ketten.‹Ach, in die Ketten seid ihr selbst geschlagen.Was pflügst du Baur? ›Das Feld soll Früchte tragen.‹Ja für den Feind die Saat, für dich die Kletten.
Was zielst du, Schütze? ›Tod dem Hirsch, dem fetten.‹
Gleich Hirsch und Reh wird man euch selber jagen.
Was strickst du Fischer? ›Netz dem Fisch, dem zagen.‹
Aus euerm Todesnetz, wer kann euch retten?
Was wiegest du, schlaflose Mutter? ›Knaben.‹Ja, daß sie wachsen und dem Vaterlande,Im Dienst des Feindes, Wunden schlagen sollen.
Was schreibest, Dichter, du? ›In GlutbuchstabenEinschreib ich mein und meines Volkes Schande,Das seine Freiheit nicht darf denken wollen.‹«
Ja, er hat insbesondere eine Richtung der Romantik, die Meisterschaft in der Form, bis zur äußersten Vollendung ausgeführt.
Hierin dürfte zwar mancher Platen über ihn stellen; allein bei Platen ist es vielmehr Sache des Gelehrten als des Dichters, man fühlt überall unwillkürlich das Studium, die Absicht und Prätention heraus. Bei Rückert dagegen scheint das Schwierigste und Unerhörteste, weil es wirklich poetisch durchgeistet ist, sich von selbst zu verstehen, es ist, als hätte er eben nur eine feinere Hand, um jedem verborgenen Triebe der deutschen Sprache seinen ungehinderten, natürlichen Wuchs zu geben und viele seiner kühnen Reimverschlingungen gleichen musikalischen Fugen, die, eine geheimnisvolle Melodie in ihren seltsamsten Kombinationen verarbeitend, zuletzt dennoch zu rechtem Klang und Abschluß kommen.
Dieses bewunderungswürdige Formentalent, dem nichts Fremdes fremd ist, erklärt andrerseits auch seine Neigung und http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0899.pngeinen Beruf zu einer gewissen universalen Auffassung der poetischen Literatur. Seine Poesie durchläuft fast die ganze Skala der Dichtkunst, vom deutschen Volksliede und einfachen Märchen, durch alle Irrgewinde romanischer Kunstformen bis in die Rosengärten von Schiras, und seine sogenannten Übersetzungen bleiben dennoch deutsch, weil er überall eben nur jenen allen Nationen gemeinsamen Klang zu erkennen und anzuschlagen weiß, von dem er sagt:
»Daß über ihrer Bildung GangDie Menschheit sich verständ'ge,Dazu wirkt jeder Urweltsklang,Den ich verdeutschend bänd'ge.«
Wir haben schon öfters erwähnt, daß die Romantik dieselbe universelle Tendenz hatte. Allein sie suchte sie auf andere Weise geltend zu machen. Sie ging weniger auf den bloßen Klang, sondern wollte vielmehr das Ganze auf die aller modernen Poesie gemeinsame Grundidee, auf ihr christliches Element, zurückführen; während Rückert die mannigfachen Lebensströme der Völker in ihrem bloß musikalischen Zusammenhange gleichmäßig nebeneinander gewähren läßt, ohne tiefer nach ihrer gemeinschaftlichen Quelle zu fragen.
Er ist daher in seinen Dichtungen ein ebenso vollkommener Brahmine als Mahommedaner oder mittelalterlicher Katholik. So hat er allerdings mehrere recht schöne christliche Lieder und sagt in einem seiner Abendlieder:
»Mich fasset ein Verlangen,Daß ich zu dieser FristHinauf nicht kann gelangen,Wo meine Heimat ist.«
Aber eben diese Heimat wird ihm nicht recht klar. Seine Frömmigkeit bleibt ein ästhetisches Gefühl, das meist in der schönen Form aufgeht, und daher, weil ein solches Gefühl einem ernsten Gemüt nimmermehr genügen kann, häufig durch einen Anhauch von Ironie sich selber paralysiert, wie z.B. in der »Bitte um Anstellung in der anderen Welt«. Ja, diese Formenseligkeit hat ihn sogar verführt, die heiligen Evangelienbücher durch kunstreiche Verse ausschmücken zu wollen. Die religiöse Unentschiedenheit des bloß ästhetischen Gefühles aber, da es Zeit und Ewigkeit, das Diesseits und Jenseits nicht im christlichen Sinne als ein sich wechselseitig bedingendes und ergänzendes Ganze lebendig aufzufassen vermag, erzeugt überall jenen inneren Zwiespalt, der das Leben unnatürlich zerklüftet, indem er Lust und Leid, die Sinnenwelt und das Gottesreich, als zwei unversöhnlich feindliche Gewalten einander entgegenstellt, während doch jene nur die sichtbare Brücke zum Unsichtbaren bildet. Und so klagt auch Rückert, wo er sich vielmehr des eigenen Mangels zeihen sollte, das Christentum an und ruft mißmutig aus:
»Ich war schon ziemlich ein Christ,Und wär es noch mehr geworden;Doch mir verleidet istAuf einmal der ganze Orden.
Ihr machet es mir zu toll
Mit eurem christlichen Leide;
Mein Herz ist noch freudenvoll,
Darum bin ich ein Heide.
Bricht einst mein Lebensmut,Dann könnt ihr vielleicht mich erwerben;Denn eure Lehre ist gutZu nichts auf der Welt als zum Sterben.«
Auf diese Weise die christliche Vermittlung der Gegensätze zurückweisend, erstrebt er denn auch in der Religion eine universelle Ansicht, die alle Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gleichmäßig umfassen, erklären und rechtfertigen soll.
Bei den Romantikern deutet die Natur nur sehnsüchtig und symbolisch das Überirdische an, bei Rückert ist sie selber Gott und Mensch und alles. Er war daher auch der erste, der den geheimen Pantheismus, welcher in der Romantik nur fragmentarisch oder in mystischen Sprüchen erscheint, in der Poesie praktisch und zur Seele seiner überreichen Lyrik gemacht hat, und es ist in der Tat keine bloße poetische Redensart, wenn er ausruft:
»O Sonn, ich bin dein Strahl, o Ros, ich bin dein Duft,Ich bin dein Tropf, o Meer, ich bin dein Hauch, o Luft!«
Chamisso endlich ist ein Heimatloser schon durch seinen Lebenslauf. In Frankreich geboren und in Deutschland gebildet, ist diese seine Beidlebigkeit nicht ohne Einfluß auf seine Dichtung geblieben. Ein deutsches Gemüt, keusch, ehrenhaft, treu in der Freundschaft, sittlich und fleißig; bei einem durchaus französischen Naturell, das mit großem Geschick auf das Äußerliche, Kunstreiche gerichtet, aber ohne nachhaltige Tiefe und indifferent in religiösen Dingen. Daher, weil ihm die wesentliche Innerlichkeit und Hauptbedingung der Romantik fehlte, wußte er sich nicht reinzuhalten von absichtlicher Effektmacherei. Die stille, unsichtbare Gewalt der Poesie, die er gar wohl ahnte, genügte dem Deutschfranzosen nicht, er wollte sogleich den praktischen Erfolg sehen, sie sollte »packen«, wie er sich oft mündlich auszudrücken pflegte; und so zerrte er, in neufranzösischer Manier, die Romantik nicht selten ins Schauerliche und Gräßliche hinüber. – Das erste Auftreten eines Dichters in ursprünglicher, rücksichtsloser Jugendfrische ist in der Regel sein geistiges Signalement für die ganze Lebenszeit. Chamissos erstes Debüt aber war ein Mißgriff. Das sogenannte rote Taschenbuch, wo er mit seinen ersten Versuchen sich kopfüber in die Romantik stürzte, ist wegen seiner abenteuerlichen Übertreibungen sprichwörtlich, ja später ihm selber ein Greuel geworden, und beweist eben nur, wie wenig er eigentlich gleich vom Anbeginn mit der Romantik innerlich sympathisierte. Im Grunde hat er in seinem »Schlemihl« nur sein eigenes Dichtergeschick niedergelegt: den ewigen Konflikt von Schein und Sein, die er, wiederum französischerweise, in seinen Gedichten so häufig verwechselt. Dieses wunderliche Märchen, das durch seine pikante Unbestimmtheit sich überall beliebt gemacht, gehört zu jenen glücklichen Aperçus, deren Wert und Bedeutung die Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie suchen.