Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die neue Romantik

Hoffmann

So sehen wir jetzt die Romantik, nach ihrem geistigen Abfall, ihren Flug von der erstrebten und zum Teil wirklich erschwungenen Höhe unaufhaltsam immer rascher und tiefer bis zum Gemeinen wieder hinabsenken. Immer deutlicher und entschiedner löst sich das religiöse Element von der Phantasie, und weil diese, so isoliert, notwendig in leere Spielerei oder Verzerrung verfliegt, so zieht das religiöse Gefühl sich immer scheuer in sich selbst zurück, bis beide allmählich einander fremd und daher unbequem und störend, ja zuletzt feindlich gegenüberstehen. Die daraus entspringende innere Ungenüge, um so stechender, je schärfer die Zerklüftung hervortritt, wird nun, wie wir oben nachgewiesen, gar bald zur Zerrissenheit, bis dann auch das Bewußtsein jener Ungenüge schwindet und diese endlich nur noch als ein bloßes ästhetisches Kunststück wohlgefällig sich selbst bespiegelt.

Das treffendste Bild dieses Ausganges bietet Hoffmann dar. Glimpf und Schimpf, Verstand und Überschwenglichkeit, Grauen und schallendes Gelächter, Rührung und ironischer Hohn ringen und fressen hier, wie die bekannten beiden Löwen, einander in der Verzweiflung wechselseitig auf, daß nichts als die Schweife übrigbleiben. Man könnte darauf die von der Bibliothek der schönen Wissenschaften im Jahre 1758 gegebene Definition der Romanze anwenden: »ein abenteuerliches Wunderbare, mit einer possierlichen Traurigkeit erzählt.« – Sie hatten die Phantasie von den Banden des Verstandes gelöst; aber die Befreite war ihnen plötzlich davongefahren und über Gipfel und Wipfel in wüstem Flug bis in jenes unwirtbare Leer hinausgestürzt, wo der Himmel dunkel und die Erde nur noch in gespensterhafter Luftspiegelung erscheint. Treffend daher sagte damals Jean Paul, obgleich er selbst früher Hoffmann in die Lesewelt eingeführt hatte, in bezug auf diese Art von Poesie: »Unstreitig ist jetzt die Belladonna (wie man die Tollkirsche nennt) unsere Muse Primadonna und Madonna und wir leben im poetischen Tollkirschenfest.«

Hoffmann war von seiner frühesten Jugend an eigentlich verwaist. Der Vater, ein Mann von unordentlichen Neigungen und von seiner Frau geschieden, starb bald. Eine alte, hinfällige Großmutter, eine stets kranke, bloß vegetierende Mutter, beide nie aus ihrem Zimmer kommend, eine geistreiche Tante, die, als die Vertraute seiner Schwächen, den Knaben verzog; dazu ein wunderlicher Onkel, der Essen, Trinken, Studien und Erholung pedantisch nach der Uhr trieb und von dem zwölfjährigen Knaben nach Herzenslust mystifiziert wurde; in demselben Hause endlich das mystische Wesen Werners mit seiner halbwahnsinnigen Mutter – das waren die Umgebungen, unter denen Hoffmann aufwuchs, abgesondert von seinen Schulkameraden, die ihn, wegen seines beißenden Witzes, nicht liebten. Überdem gehörte er zu den frühreifen Talenten und galt daher schon damals als das bewunderte Genie der Familie. Er selbst sagt hierüber: »In meiner ersten Erziehung, zwischen den vier Mauern mir selbst überlassen, liegt der Keim mancher von mir hinterher begangenen Torheit. Deine gütige Freundschaft nennt die Frucht jener bizarren Einsamkeit – Originalität, es ist aber, wie ich wohl weiß und empfunden habe, nichts als Starrköpfigkeit, Ungeschick! Das Übersehen der Verhältnisse, die jedem, der als Knabe nachgeben und sich in die Umstände schicken gelernt hat, ins Auge fallen, hat mir einen guten Teil der Ruhe für lange Zeit gekostet.« – Auch seine darauf erfolgte Anstellung bei der damaligen Regierung in Posen, wo er unter der ihm geistig subordinierten Umgebung wieder nur seine Übermacht fühlte und ein zügellos sinnliches Leben ihn von allen Seiten umwogte, konnte nur dazu dienen, teils den frühgeweckten Übermut seines Talents vollends zu entfesseln, teils ihn selber in jene sinnlichen Abgründe zu verlocken.

Ein solches, äußerlich gebundenes, innerlich desolutes Jugendleben aber, voll Anschauungen der seltsamsten Kontraste, war wohl in der Tat geeignet, in einem unruhigen, talentvollen Jünglinge das Dämonische ins Diabolische zu verkehren. Und dies eben war das Charakteristische bei Hoffmann, daß er – ganz im Gegensatz von Brentano – anstatt das Dämonische in sich zu bekämpfen, es vielmehr recht mit Vorliebe und gleichsam aus einem wunderlich mißverstandenen Pflichtgefühl auf alle Weise großzog und hegte und hätschelte.

Dies zeigt sich zunächst in einem innerlichen Sichgehenlassen auf Rechnung des exklusiven Genies, in einer Liebhaberei seiner selbst, einem völligen Dilettantismus in Kunst und Leben. Musik, Malerei, Poesie, ja selbst die Liebe trieb er eigentlich nur als Dilettant; er ist Theaterkomponist, Dekorateur, Architekt, auch ein geschickter Jurist; aber er nennt die Justiz den Klotz des Baugefangenen, den er hinter sich schleppe, »denn«, sagt er, »zu heterogen ist sie der Kunst, der ich geschworen«. Mit den damaligen berühmten Männern Königsbergs (Kant, Hamann, Hippel, Kraus) kam er in gar keine persönliche Berührung; Kant verstand er geständlich nicht oder gab sich vielmehr nicht die Mühe, ihn zu verstehen; anstatt der alten klassischen Literatur aber griff er nach Rousseaus Konfessionen und beschäftigte sich fortwährend viel mit Wieglebs Magie.

Es ist dies im Grunde nur Mangel an Tiefe des wahren dichterischen Gefühls, das eben durch Ernst, Treue und Nachhaltigkeit sich unterscheidet. Darum suchte er sich vor jedem Zustande von Begeisterung sorgfältig zu verwahren. Deshalb hatte er auch für die freie Natur durchaus keinen Sinn und wußte ihre verborgenen Stimmen nur in ihrem Konflikte mit der Unnatur, d.h. mit der gesellschaftlichen Verbildung, also eigentlich nur den Mißklang, aufzufassen. Das ist aber wesentlich ein bloßes Manöver der Reflexion, die in diesem ihr fremden Gebiete notwendig sich selbst verwirrt, weshalb denn auch seine sogenannten Kindermärchen (der Nußknacker etc.) keine wahrhaften Märchen und nichts weniger als kindlich sind. Ebenso haßte und vermied er alle Gespräche über Religion, Staatseinrichtungen und Politik und blieb von den ungeheueren Begebenheiten seiner Zeit innerlich ganz unberührt. Im Jahre 1813, mitten unter dem Kriegsgetümmel, dichtet er in Dresden seinen Magnetiseur »mit großem Glück«, und bei dem Zusammensturz seines Vaterlandes im Jahre 1807 lebt er in Warschau grade recht vergnügt und gemütlich. »Die schöne Bibliothek des dasigen Musikvereins«, sagt Hitzig, »stand jeden Augenblick ihm zu Gebote, und sein Fortepiano hatte er sich im Quartettzimmer aufstellen lassen. Mehr bedurfte es nicht, um ihn Franzosen und die Zukunft vergessen zu machen.« In seinem Umgange aber war ihm sittliche Würde oder Gesinnung völlig gleichgültig; er wollte von seinen Freun den nur wie ein personifiziertes Buch angehört oder von ihnen durch Witz und glänzende Einfälle ergötzt sein. Mut dagegen und moralische Kraft bei andern imponierten ihm jederzeit, weil sie ihm selber fehlten. – Im Kapuzinerkloster zu Bamberg fühlt er sich durch die religiöse Umgebung »in eine gemütlich exaltierte Stimmung« versetzt. Er sagt hierüber in seinem Tagebuche: »Herrliche, patriarchalische Köpfe der Kapuziner. Wanduhr: mors certa, hora incerta, una ex his. Fantasien; aber auf der Redoute ganz aus dieser Stimmung herausgekommen.« Und so dienen denn alle diese Eindrücke letztlich zu nichts weiter als zu poetischem Ausschmuck in seinen Elixieren des Teufels, im Kater Murr usw.

Eine so schwachgestimmte Innerlichkeit mußte notwendig gar oft in ihr Falsett, in vage Schwärmerei, umschlagen. Wenn aber ein als Komiker beliebter Komödiant sich einmal auch tragisch versuchen will, so reizt uns schon der erste Laut seiner wohlbekannten Stimme unwillkürlich zum Lachen. Einen ähnlichen Eindruck nun macht es, wenn Hoffmann z.B. über seine erste Liebschaft in die Worte ausbricht: »Eine neue Schöpfung hatte sie hervorgebracht – gereinigt von den irdischen Verbindungen schwebte sie mir entgegen in himmlischem Glanze – ich sah sie, ich fühlte sie, ich hörte ihre Stimme, sie bot mir einen Kranz von Myrten und Rosen. – Freund! ich möchte heut gern aus mir selbst heraus – ein erhebendes Gefühl trägt mich empor auf kühnen Fittichen – Freundschaft und Liebe pressen mein Herz, und ich möchte mich durch die Mückenkolonne, durch die Maschinenmenschen, die mich umlagern mit Gemeinplätzen, gern durchschlagen, gewaltsam allenfalls!« – Und doch schlägt seine eigentliche, kalte Natur fast gleichzeitig durch, indem er bald darauf wieder sagt: »Daß ich meine Inamorata so ganz mit all dem Gefühl liebe, dessen mein Herz fähig war, daran zweifle ich sehr; nichts aber wünsche ich weniger, als einen Gegenstand zu finden, der diese schlummernden Gefühle weckt – das würde meine behagliche Ruhe stören, würde mich aus meiner vielleicht imaginären Glückseligkeit herausreißen, und ich erschrecke schon, wenn ich nur an den Troß denke, der solch einem Gefühle auf der Ferse folgt – da kommen Seufzer, bange Sorgen, Unruhe, melancholische Träume, Verzweiflung usw. – ich meide daher alles, was so etwas involvieren könnte. Zu jeder Empfindung für Cora z.B. habe ich gleich irgendeine komische Posse zur Sourdine, und die Saiten des Gefühles werden so gedämpft, daß man ihren Klang gar nicht hört.« – Und dies alles schon in seinem zwanzigsten Jahre! – Sein ganzes Leben war im Grunde nur ein geistreiches Capriccio ohne eigentlichen Inhalt.

Allerdings hatte auch er zwar ursprünglich das enthusiastische Sehnen nach einem besseren Zustande, welches den Genius vom Gemeinen scheidet. Aber er suchte diesen besseren Zustand einzig und allein im Vollgenuß der Kunst, in einer gänzlichen Hingebung aller Körper- und Seelenkräfte an dieselbe. Und weil er eben nicht umhin konnte, in allen lichteren Momenten jenen Mangel an Innerlichkeit und wahrer künstlerischer Hingebung als ein Hemmnis selber schmerzlich zu fühlen, so machte er es, wie schon oben erwähnt, zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe, das Dämonische in sich trotzig herauszufordern, das alles überwältigen und rechtfertigen sollte. »Was ist der Mensch, o Gott! pflegte ich« – so schreibt er von sich selbst – »oft andächtig zum Himmel blickend zu sagen, wenn mir der Nuits (eine Weinsorte) oder Chambertin Prima so recht mundete! In diesem Ausruf über die Nichtigkeit alles menschlichen Tun und Treibens tröstete mich aber grade die Überzeugung vom Gegenteil – denn nie fühlte ich die Lebendigkeit des lebendigen Lebens mehr, als eben da! und jener Ausruf war so gut wie die Ausforderung eines unbekannten Widersachers im höchsten Übermute, so wie im Shakespeare die besoffenen Schlingel die unverwundbare Luft mit ihren Streichen zu verletzen trachten.« – Allein der Teufel ist immer und überall mephistophelisch und verwandelt dem Dürstenden, der sich ihm verschreibt, den verheißenen Nektar in gemeines, ekles Gebräu. Auch Hoffmann gesteht: »Ein Kampf von Gefühlen, Vorsätzen usw., die sich gradezu widersprachen, tobte schon seit ein paar Monaten in meinem Innern – ich wollte mich betäuben und wurde das, was Schulrektoren, Prediger, Onkels und Tanten lüderlich nennen. Du weißt, daß Ausscheifungen allemal ihr höchstes Ziel erreichen, wenn man sie aus Grundsatz begeht, und das war denn bei mir der Fall. – Jede unverdiente, harte Kränkung, die ich erleiden mußte, vermehrte meinen innern Groll, und indem ich, mich immer und immer mehr an Wein als Reizmittel gewöhnend, das Feuer nachschürte, damit es lustiger brenne, achtete ich das nicht, daß auf diese Art nur aus dem Untergange das Heil entsprießen könne.« – Und in der Tat, dieser Untergang, anstatt des geträumten Heiles, ließ nicht lange auf sich warten. Hoffmann schlug in Berlin fortan sein Reich im Weinhause bei Lutter und Wegner auf, wo er allnächtlich seine Feuerwerke von Witz und Phantasie verpuffte, und trieb zuletzt die Kunst, mit Hintansetzung seiner tieferen Intentionen, nur noch als Erwerb für die Weinkosten; er schrieb, um zu trinken, und trank, um zu schreiben.

So war er – da er den Zauberkreis, den Religion und Sitte um uns ziehen, freventlich überschritten hatte – den unheimlichen Gewalten jenseits dieses ewigen Kreises verfallen, und Revenants, Kobolde und allerhand ordinärer Spuk, mit dem er zu spielen sich vermaß, übte schadenfroh offene Macht über ihn, weil er, wie Goethes Zauberlehrling, das heilige Bannwort vergessen. Ja, er glaubte nicht selten, diese phantastischen Zerrbilder leibhaftig vor sich zu sehen, und bei seinen nächtlichen Arbeiten mußte sich öfters seine Frau zu ihm setzen, um ihn zu beschützen. Sein eigentlicher Hauskobold aber war die Ironie. Diese Ironie, die bei Tieck noch wie ein ätherischer Duft anmutig das Ganze durchweht, duckt bei Hoffmann schon selbständig als materieller Doppelgänger auf, der ihm überall auf die Fersen tritt und, gleichsam ein travestierender Bajazzo, jedem Gedanken, jeder aufdämmernden Empfindung, fratzenhafte Grimassen schneidet. »Du weißt ja schon«, schreibt er seinem Freunde Hippel (dem Jüngeren), »welch ein besonderes Affengesicht als versteckter Poet mich kitzelt!« Und als er zu Bamberg, schon längst glücklich verheiratet, ein ganz junges Mädchen sterblich zu lieben wähnt, ruft er in seinem Tagebuche aus: »Sehr komische Stimmung; Ironie über mich selbst, ungefähr wie im Shakespeare, wo die Menschen um ihr offenes Grab tanzen – göttliche Ironie, herrliches Mittel, Verrücktheit zu bemänteln und zu vertreiben, stehe mir bei!« – Aber Samiel scheint diesmal seine Hülfe versagt zu haben; denn gleich darauf folgt in dem Tagebuch: »Innerer Wurmfraß – exaltierte Stimmung – Ahndungen seltsamer Ereignisse, die dem Leben eine Richtung geben, oder – es enden. Inkrustierter Gedanke – eine Pistole« – und hierbei eine Pistole sauber an den Rand gezeichnet.

Es ist einleuchtend, ein solchergestalt potenzierter und sich selbst beschauender Kunstgenuß konnte ihm das Glück nicht geben, das seine Jugend davon geträumt. Daher die bittere Unzufriedenheit, das Abgerißne, Fragmentarische in allen seinen Schriften; seine gedichteten friedlichen Zustände sind fühlbar nur gemacht, fast alles endigt mit einer schrillenden Dissonanz. Diesen Mißklang hat er in seiner poetischen Lieblingsgestalt, dem Kapellmeister Kreisler, verewigen wollen, aber natürlich auch hier nicht zu einer befriedigenden Lösung zu bringen vermocht; auch der Kreisler blieb Fragment und mußte und sollte, nach des Dichters eignem Plane, notwendig in Wahnsinn enden. Wie ein leidenschaftlicher Spieler pointierte Hoffmann fortwährend auf die eine Karte, immer heftiger und hartnäckiger, je unersetzlicher er an Leib und Seele verlor. Noch fünf Monate vor seinem Tode, als er seinen Geburtstag feierte, und einer der Freunde gelegentlich Schillers Vers: »das Leben ist der Güter höchstes nicht«, anbrachte, fuhr ihm Hoffmann mit einer entsetzlichen Heftigkeit entgegen: »Nein, nein, leben, leben, nur leben – unter welcher Bedingung es auch sein möge!« Und mitten unter Todesschauern diktierte er noch seine letzte Novelle, »Der Feind«. Nur einmal in dieser langen, ihm barmherzig Vergönnten Prüfungszeit will seine Frau von ihm die kaum mehr vernehmbaren Worte gehört haben: »Man muß doch auch an Gott denken!«

So war sein Ende. – Hätte er, im Leben wie im Dichten, sich selbst überwinden wollen, er hätte vielleicht Größeres geleistet; daß er es konnte, hat er in seinem »Fräulein Scuderi«, im »Majorat«, und im »Küfer Martin und seine Gesellen« überraschend dargetan. Sein Mangel war daher weniger ein literarischer als ein ethischer, und es ist keineswegs zufällig, daß die ganz unmoralische sogenannte Romantik in Frankreich ihn fast ausschließlich als ihren deutschen Vorfechter anerkennt.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03