Politisches Rechnen

Die Wahrheit eines politischen oder moralischen Raisonnements ist nichts als Wahrscheinlichkeit, also mancherlei Grade fähig, die für zwei Menschen nicht immer ein und dieselben sind. Doch diese Verschiedenheit der Meinung ist nicht so bös als eine andere, die darin besteht, daß der eine alle die Möglichkeiten, die noch neben einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit bestehen können, wegwirft, um sich nicht in ein Labyrinth von Alternativen zu verlieren, während der andere sie beibehält. Der erstere kommt bald auf ein reines Resultat, der andere nie. Den ersten leitet in seinem Handeln stets der wahrscheinlichste Fall; er kann irren, weil der wahrscheinlichste Fall doch nicht der einzig mögliche ist; aber immer bleibt doch sein Irrtum unwahrscheinlich, und immer wird sein Betragen konsequent sein. Der andere, nicht imstande, alle möglichen Fälle immer gleich scharf ins Auge zu fassen, sie alle nach ihrem wahren Wert zu würdigen, hat bald keinen anderen Führer als seine Wünsche. Hiermit hört seine Intelligenz auf, und er ist seinen Feinden ein leichtes Spiel.

Daher handeln gewöhnliche Menschen in großen Krisen nicht eher vernünftig, als bis sie, auf die Spitze der Verzweiflung gestellt, gar keinen anderen Rettungsweg mehr sehen, als einen gewagten Sprung zu tun. Dieser Zustand gibt ihnen Mut, Einheit und Energie; weg ist aber dieser ganze Geistesreichtum, wenn entfernte Möglichkeiten törichte Hoffnungen erwecken, das sind die wahren Ableiter der Kraft, der moralischen Elektrizität, und vor unsern Augen sinkt mit unglaublicher Schnelligkeit der innere Mensch von seiner künstlichen Höhe herab und schrumpft zusammen zur alten Erbärmlichkeit, in der das lauernde Gespenst eines feindseligen Geschöpfes ihn dann mit leichter Mühe ergreift.


Letzte Änderung der Seite: 27. 09. 2021 - 03:09