Kleine Schriften

Die Verhältnisse Europas seit der Teilung Polens

Die Verhältnisse Europas haben sich seit der Teilung Polens wesentlich verändert; aber nicht, wie man gewöhnlich behauptet und wie einer dem anderen nachspricht, durch diese Teilung, sondern durch die mit ihr gleichzeitige Entwicklung der neueren französischen Überlegenheit. Polen war seit Johann Sobieskys Tode eine solche Null in dem europäischen Gleichgewichte, daß sein Verschwinden aus der Staatenreihe an sich gar keine Wirkungen auf dasselbe hervorbringen konnte; es wurde nur mittelbar wichtig, insofern sich voraussehen läßt, daß das neue Frankreich aus dieser nordischen Macht ein Unterstützungsgewicht für sich gemacht haben würde. Fragen wir nun vor allem, ob Europa eines solchen Gewichtes bedurfte.

Zur Zeit Ludwigs XIV., als Frankreich zuerst mit seiner natürlichen Überlegenheit auftrat und auf die Nachbarstaaten drückte, war Deutschland noch nicht in dem Maße bedroht wie jetzt. Spanien, ganz Italien, die Niederlande und England gehörten dem antifranzösischen System an, und Polen war ohnmächtig, auf eine europäische Stellung gar nicht angewiesen. Es konnte also für uns Deutsche damals in dem Bestehen Polens nicht die Gefahr liegen, welche jetzt aus seiner Wiederherstellung hervorgehen würde. Nach Ludwig XIV. war Frankreich etwa achtzig Jahre lang in den Händen schwacher und friedliebender Regierungen und schien den Plan einer Vorherrschaft über den Kontinent aufgegeben zu haben. Damals war die Verbindung zwischen Polen und Frankreich, wenn auch nicht unbedeutend, doch auf geringfügige Gegenstände gerichtet. Gleichwohl ist es schon damals hundert» und abermals hundertmal zur Sprache gekommen, daß Polen der natürliche Verbündete Frankreichs sei. Dieses ganz natürliche Verhältnis war also damals wirkungslos.

Wenn nun jetzt eine ganze Menge von Menschen selbst in Deutschland die Wiederherstellung Polens bloß aus moralischen Gründen wünschen und sich wegen der politischen bei dem Gedanken beruhigen, daß Polen ja ehemals dagewesen sei, ohne Deutschland zu gefährden oder zu bedrängen, so ist es, weil sie den Zustand von Europa nicht ins Auge fassen. Ein Blick auf diesen sollte ihnen jene Beruhigung wenigstens nehmen.

Und wie steht es nun mit den moralischen Gründen, aus welchen die Wiederherstellung Polens gewünscht wird?

Es wird uns niemand überreden, wie hoch er auch in Wissen und Urteil stehe, daß er imstande sei, die großen, Jahrhunderte und Jahrtausende umfassenden Verwickelungen der Völkergeschichte, wie die Hand der Vorsehung sie nach einem uns unbekannten, höchstens dunkel geahnten Ziele leitet, mit seinem Blicke zu umfassen und das moralische Gesetz anzugeben, nach welchem das höchste Wesen sie ordnet. Was wir von dieser Völkergeschichte und Entwicklung übersehen, ist eine kleine Spanne, und nur das kann uns über das Schicksal des menschlichen Geschlechtes beruhigen, wenn wir so oft Völker und Staaten zur Einheit und Selbständigkeit sich entwickeln und dann wieder untergehen sehen. – Wollen die philosophischen Politiker unserer Tage eine Revision aller Völkerprozesse vornehmen und Rechenschaft fordern, warum so viele Völker, die einst selbständig waren, als solche untergegangen sind und sich in andere verschmolzen haben, dann müssen sie die Vorsehung selbst vor ihren Richterstuhl ziehen. Und wenn das eine Absurdität ist, warum wollen sie mit dem polnischen Reiche gerade anfangen, d. h. warum wollen sie die Teilung dieses Landes und seinen Untergang als Staat aus einem moralischen und nicht aus einem historisch-politischen Gesichtspunkte betrachten? Sagen wir es nur gerade heraus: es hat mit diesem moralischen Standpunkte der polnischen Resurrektionsfrage nicht seine Nichtigkeit. Es ist diese Tendenz der öffentlichen Meinung nichts als eine Modeansicht, welcher mehr ein ästhetisches als ein moralisches Prinzip zugrunde liegt. Man gefällt sich in diesem Enthusiasmus, wie man sich in dem vom Trauerspiele erregten Schmerze gefällt, und die Leute geben sich dieser Erholung hin, weil sie glauben, es kostet ihnen nichts, weil sie immer nur zwei Schauspieler sehen, Russen und Polen, die durch das Proszenium von ihnen getrennt sind, weil sie nicht ahnen, daß sie mitspielen, ja, daß sie das ganze Schauspiel zu bezahlen haben werden.

Wenn auch die Rolle der deutschen öffentlichen Meinung die Frankreichs nicht in diesem Maße streift, so kann doch kein verständiger Mensch in Abrede stellen, daß es Torheit ist, in einem solchen Augenblicke wie der gegenwärtige sich einer Modeansicht, statt selbst nachzudenken, hinzugeben, mit Ideen zu spielen, an welche die höchsten Interessen des Vaterlandes geknüpft sind, und sich in einem falschen Enthusiasmus zu verbeißen, um darüber des wahren unfähig zu werden.

Die Wiederherstellung Polens berührt Deutschland zunächst., weil es zwischen den Polen und Franzosen mit seiner beiden Völkern ganz fremdartigen Nationalität innesteht, aber sie ist zugleich eine ganz europäische Frage. Polen kann nur auf Unkosten von Österreich und Preußen wiederhergestellt werden und würde nach seiner Wiederherstellung unaufhörlich auf diese beiden Mächte drücken. Was liegt nun alles in dieser doppelten Beziehung?

Österreich würde von seiner Staatsmasse vier Millionen verlieren; Österreich aber ist in Gefahr, in Italien sechs andere Millionen einzubüßen, wenigstens wird es gewiß von denselben Stimmen und aus demselben Grunde dazu verurteilt werden, und, was noch viel mehr ist, dieselben Umstände,, welche diesen Staat zu einer der beiden Aktionen zwingen könnten, würden ihn auch zu der anderen zwingen, so daß der Kausalzusammenhang zwischen beiden Ereignissen nicht zu leugnen ist. Wäre aber die österreichische Monarchie um zehn Millionen geschwächt, so würde sich auch nach und nach das Verhältnis Ungarns zu derselben anders stellen, und es ist nichts weniger als eine Übertreibung, wenn man sagt, daß dieser Resurrektionsgrundsatz die österreichische Monarchie in ihren Grundfesten erschüttern würde.

Mit Preußen sieht es noch viel schlimmer aus. Es würde die Million Einwohner seines Großherzogtums Posen kaum abgetreten haben, so würden die westpreußischen Provinzen nebst Danzig gefordert werden und das mit eben dem Rechte, mit welchem man das Großherzogtum zurückfordert. Dann wäre das Herzogtum Preußen von den übrigen Ländern getrennt, und da es einmal ein polnisches Lehen war, auch ein großer Teil seiner Einwohner den Polen und Litauern sprachverwandt ist, so begreift man, welch ein unsicherer Besitz dieses Herzogtum für Preußen ferner sein würde.

Dies wären die unmittelbaren Folgen des Restitutionsaktes, an diese knüpfen sich die mittelbaren an. Jeder Krieg, den Österreich und Preußen mit Frankreich hätten, würde von einem Kriege mit den Polen begleitet sein, die durch französisches Geld, französische Intrigen (denn die Intrige ist das einzige, was in Frankreich die Revolution überlebt hat) jedesmal dazu angeregt sein würden. Wenn wir uns nun auch dieses neue Polen als nicht sehr mächtig und dabei immer noch von Rußland bedroht denken, so wird es doch imstande sein, auf beide Staaten einen Druck auszuüben, welcher einen Teil ihrer Kräfte dem Kriege gegen Frankreich entzieht und die freie Muskelbewegung lähmt. Nach Österreich hin würden die Polen auf das immer etwas angeregte Ungarn wirken; Preußen aber würde sich in dem Lande zwischen Weichsel und Oder niemals behaupten können, sondern seine Verteidigung hinter der Oder, also zwölf Meilen von seiner Hauptstadt, einrichten müssen. Denn das Land zwischen Oder und Weichsel ist von der einen Seite ganz ohne Terrainabschnitt, und mit Ausnahme des kleinen Kolberg wäre es auch ohne preußische Festungen; von der anderen enthält es mit Ausnahme von Posen und Danzig, die beide befestigt sind, keinen namhaften Ort, so daß auch nicht einmal ein glücklicher Offensivstoß zu einem Resultate führen könnte, was für die Verteidigung des Ganzen brauchbar wäre. Eines Vierteils seiner Untertanen und eines Dritteils seiner Oberfläche beraubt, müßte dieser verstümmelte Kämpfer, während er mit dem Schwerte seines rechten Armes einen hundert Meilen weiten Ausfall gegen Frankreich zu tun hätte, mit der linken den Schild dicht über seinem Haupt halten.

Kann nun irgendein vernünftiger Mensch glauben, daß das Interesse Europas es so fordere? Kann namentlich England dies glauben, dessen öffentliche Meinung sich jetzt den Polen so stark zuwendet? Wer ist denn in Europa der natürliche Gegensatz von England? Doch wohl Frankreich; es wäre wenigstens schwer, einen anderen zu nennen. Oder meinen die Philosophen, daß es eines solchen Gegensatzes nicht bedarf? Das wäre sehr unphilosophisch, denn die ganze physische und geistige Natur wird durch Gegensätze im Gleichgewichte erhalten. Oder suchen sie die Gegensätze in den politischen Prinzipien; wollen sie den sogenannten Liberalismus des Westens dem sogenannten Despotismus des Ostens entgegenstellen? Aber das ist eine Glaubenssache und als solche so gut wie die Glaubenssache der Reformationszeit von den die äußere Sicherheit der Staaten bedingenden Verhältnissen getrennt zu denken. Wenn politische und religiöse Grundsätze und Meinungen auch gewöhnlich mit den materiellen Interessen und der äußeren Sicherheit in Verbindung treten, so können sie doch niemals als stellvertretend für diese gebraucht werden. Gesetzt, der sogenannte Despotismus wäre ganz verschwunden, alle Völker so frei und glücklich wie Paris jetzt ist und Dresden noch vor wenigen Monaten war, würde darum überall zwischen den Völkern ein idyllisches Friedensverhältnis walten und der Streit der Interessen und Leidenschaften schweigen, welcher die äußere Sicherheit der Völker stets bedroht? Natürlich nicht. Wir können also die Gegensätze der Völker nicht in Maximen suchen, sondern in der ganzen Summe ihrer geistigen und materiellen Verhältnisse zueinander, und darüber ist es wohl ratsam, die Geschichte zu befragen. Diese lehrt, daß England, mit Ausnahme weniger Jahre, die nicht die rühmlichsten seiner Geschichte sind, das feindselige Prinzip seiner Größe und Machtentwicklung stets in Frankreich gefunden und bekämpft hat. Und diesen Kampf hat es nur auf dem Meere unmittelbar geführt, auf dem europäischen Kontinent aber durch den Beistand, welchen es den europäischen Mächten geleistet, so oft diese von dem übermächtigen und übermütigen Frankreich bedroht waren. Diese Mächte aber sind in der jetzigen Zeit vor allen Dingen Österreich und Preußen, nächstdem aber Rußland. Wie käme nun England dazu, in der Schwächung einer dieser Mächte sein Interesse zu finden, geschweige denn in der Schwächung aller drei?

Wir heben England unter den europäischen Staaten besonders heraus, weil es gar zu widersinnig ist, in diesem Lande eine öffentliche Meinung sich bilden zu sehen, welche indirekt für die Größe Frankreichs schwärmt.

Wenn wir aber fragen, inwieweit das übrige Europa bei der Herstellung des polnischen Reiches interessiert ist, so müssen wir natürlich dies nur auf die äußere Sicherheit und Unabhängigkeit der Staaten und nicht auf die Interessen und Wünsche derjenigen Parteien beziehen, welche durch Hilfe der französischen Bajonette eine totale Veränderung des gesellschaftlichen Zustandes herbeiführen wollen. Handelt es sich um den ersten Punkt, so kann nur gefragt werden, welche von den beiden Parteien, die auf dem Kontinent einander gegenübergestanden haben, seit 1789 am meisten geneigt und geeignet ist, vorzuherrschen und dadurch die Freiheit der anderen zu beschränken – Frankreich auf der einen oder Österreich, Preußen und Rußland auf der anderen Seite? Die Jahrbücher dieses Zeitraumes beantworten diese Frage hinlänglich. Seit den Friedensschlüssen mit Preußen und Spanien 1794 hat Frankreich prädominiert, wie eben diese Friedensschlüsse und alles, was ihnen gefolgt ist, hinreichend beweisen. Nach und nach ist diese Vorherrschaft unter Bonaparte zur Alleinherrschaft übergegangen, und Europa hat vierzehn Jahre lang seinen Nacken unter dem Fuße Frankreichs gebeugt. In den Jahren 1814 und 1815 ist urplötzlich das entgegengesetzte Verhältnis eingetreten, aber auf welche Weise? Nur als Reaktion einer vierzehnjährigen Knechtschaft, welche alle Gemüter empört hatte, als Folge einer Kraftüberspannung Frankreichs, welche die beispiellose Niederlage des Jahres 1812 herbeiführte, und nur durch Hilfe eines allgemeinen Kreuzzuges aller europäischen Völker gegen den gemeinschaftlichen Feind. – Während also Frankreich nichts bedurfte als seine eigene Kraft, seine Zentralstellung in Europa, seine vorteilhaften Grenzen, seine Einheit, seinen kriegerischen Geist und einen ausgezeichneten Feldherrn, um Europa zu unterjochen, hat es für Europa einer vierzehnjährigen Prüfung und der außerordentlichsten Umstände und Verhältnisse bedurft, um dieses Joch abzuschütteln und seinerseits eine gebieterische Stellung gegen Frankreich anzunehmen. – Und doch, wie verschieden sind die Ergebnisse dieser gegenseitigen Überwältigung gewesen! Frankreich hat keine Scheu getragen, in seiner vorschreitenden Bewegung bei jedem neuen Friedensschlüsse neue Länderabtretungen zu begehren, die ältesten Bande der Staaten und Völker zu zerreißen, die willkürlichsten und ephemersten Staatenschöpfungen hinzustellen, den empörendsten Verrat mit der Gewalt zu verbinden. Dagegen haben die verbündeten Mächte dem niedergeworfenen Frankreich nichts genommen als den Raub, welchen es seit der Revolution an anderen Ländern begangen; sie haben ihr Eigentum zurückgenommen; aber sie haben nicht stark genug zu sein geglaubt, um Frankreich selbst zu verkleinern und ihm auch nur die Provinzen zu nehmen, die es im siebzehnten Jahrhundert durch die ersten Schritte in seiner Eroberungsbahn an sich gebracht hatte. Sie hätten es für den Augenblick unstreitig vermocht, aber die Mächte haben sich gescheut, dem nach allen seinen Verhältnissen so starken Frankreich ein zu heftiges Prinzip der Reaktion einzuimpfen; sie haben es vielmehr durch eine beispiellose Mäßigkeit mit seinen Königen, mit sich selbst, mit Europa versöhnen wollen. Dies ist der eigentliche Grund der gegen Frankreich angewandten Mäßigkeit, und der in den Friedensakten angegebene: » il faut que la France soit forte« kann nur als eine Phrase betrachtet werden, welche für die Franzosen eine captatio, für die verbündeten Kabinette eine Maskierung des wahren Motivs sein sollte. – Was folgt aber aus dem wahren Motiv jener Mäßigung? Daß selbst das entwaffnete, niedergeworfene Frankreich in seiner Eigenschaft als ein sehr homogenes, ungeteiltes, wohlgelegenes, gutbegrenztes, reiches, kriegerisches und geistreiches Volk niemals aufhört, die Mittel in sich zu bewahren, welche seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit für die Dauer sichern, daß es diese, wenn es sich zu törichten Unternehmungen verleiten läßt, auf einen Augenblick verlieren kann, aber immer gewissermaßen von selbst wieder dazu gelangen wird.

Dies Resultat ergibt sich nicht bloß aus der Geschichte der letzten vierzig Jahre, sonder aus der ganzen Geschichte Frankreichs, seit es zur Einheit einer homogenen Monarchie gelangt ist. Weder die früheren Bündnisse und Anstrengungen Spaniens, Deutschlands, Englands und der Niederlande, noch die späteren Österreichs, Preußens, Englands und Rußlands haben den Fortschritt Frankreichs aufhalten können. Die Ursache liegt unstreitig darin, daß den eben genannten eigentümlichen Vorteilen Frankreichs bei seinen Gegnern in vielen Beziehungen die entgegengesetzten Verhältnisse gegenüberstehen. Getrennte Länder mit getrennten Interessen, die erst zu einem verschmelzen, wenn die Gefahr den höchsten Punkt erreicht hat und es schon zu spät ist; das in seiner politischen Einrichtung so äußerst schwache, in seinen Richtungen sosehr geteilte Deutsche Reich; dabei ein anderer Feind, Türkei, Polen, Schweden, im Rücken, wodurch die Kräfte geteilt wurden.

Zurückführung der vielen politischen Fragen, welche Deutschland beschäftigen, auf die unserer Gesamtexistenz

Es tut wahrlich not, daß wir in Deutschland die vielen politischen Fragen, welche uns jetzt beschäftigen, auf eine Hauptfrage, auf die unserer Gesamtexistenz, zurückführen.

In allen Ständen und Kreisen spricht man über den Abfall der Belgier. Den einen ist er nicht unwillkommen, weil er ihnen naturgemäß scheint; die anderen schmerzt die Treulosigkeit oder die Unzulänglichkeit konstitutioneller Verhältnisse oder die Rohheit dieses Durchbruchs menschlicher Leidenschaft und der zugrunde gegangene Wohlstand; wieder anderen ist die Sache, wenn auch nicht gleichgültig, doch wenigstens ohne eine nähere Beziehung zu Deutschland. Die Letzteren denken nur immer an die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Höfe und haben soviel von der Geschichte sagen hören, daß diese nie eine ernstliche Rücksicht verdient hätten.

Ob der Abfall der Belgier von ihrem Standpunkte aus zu entschuldigen, ob er ihnen heilsam ist, wollen wir nicht erörtern; er ist einmal geschehen, und dieser Gesichtspunkt ist, wenn auch an sich nie gleichgültig, doch für die Zukunft und für unser Denken, Fühlen und Wollen weniger wichtig als die Beziehung, welche dieser Abfall und die künftige Stellung der Belgier zu unserem, d. h. zu Deutschlands Interesse hat.

Seit das burgundische Reich als trennende Mittelmacht zwischen Deutschland und Frankreich verschwunden ist, kämpfte das erstere unaufhörlich gegen die Ehrsucht und Eroberungspolitik des letzteren und erwehrte sich mit Mühe seiner Übermacht.

Die lothringischen Bistümer gingen schon unter Karl V. verloren, der Dreißigjährige Krieg hat uns das Elsaß und Straßburg gekostet.

Die belgischen Provinzen waren der spanischen Linie des Hauses Österreich zugefallen. Gegen diese war der Kampf des eroberungssüchtigen Ludwig XIV. vorzüglich gerichtet. Er verschlang die Grafschaft Burgund und nagte an den Grenzen Flanderns. Aber die noch nicht ganz erstorbene Kraft der spanischen Monarchie und die neugestaltete der vereinigten Niederlande sind ein halbes Jahrhundert hindurch bis zum Utrechter Frieden die Verfechter Deutschlands geblieben, und Belgien war als das Außenwerk zu betrachten, unter dessen Schütze Deutschland seine Sicherheit fand; die Hauptmassen der Streitkräfte waren in Belgien beschäftigt, und mit Ausnahme des Spanischen Erbfolgekrieges, wo das Bündnis der Bayern mit Frankreich eine französische Armee nach Deutschland führte, gelang es keiner derselben, tief in Deutschland vorzudringen und sich bleibend dort festzusetzen.

Durch diesen anhaltenden und angestrengten Kampf um den Besitz Belgiens ist dieses Land dem Hause Österreich verblieben, dessen deutscher Linie es durch den Utrechter Frieden zufiel.

Bis zum Revolutionskriege hat kein allgemeiner Kampf Deutschlands gegen Frankreich stattgefunden. Aber selbst in dem Österreichischen Erbfolgekriege von 1740 bis 1748, wo die geteilten Interessen Deutschlands eine französische Armee in den ersten Jahren bis nach Böhmen führten, ist dennoch in den späteren Jahren Belgien wieder das Hauptkriegstheater geworden, wo sich die französischen Anstrengungen erschöpften.

Ebenso sind im Revolutionskriege bis zum Jahre 1795 die Hauptschläge stets in Belgien geschehen, und es ist nicht eher von einer bleibenden Eroberung in Deutschland die Rede gewesen, als bis Österreich diese Länder (wahrscheinlich zu früh) aufgegeben hatte. Von dem Augenblicke an, nämlich seit 1794, ist das linke Rheinufer gefallen, und die Saaten Süddeutschlands sind von französischen Heeren zertreten worden. Daß Norddeutschland dann noch zehn Jahre lang verschont blieb, verdankt es einem Palliativmittel, der Demarkationslinie, dessen Wirkungen 1806 schwer bezahlt worden sind.

Wir fragen nun nach diesem Blicke auf die Kriegsgeschichte Europas seit dem 16. Jahrhundert, ob Belgiens Stellung für Deutschland eine gleichgültige Sache sein kann.

Aber Belgien war nicht bloß ein Außenwelt Deutschlands und Europas, sondern es war auch das pied à terre der Engländer, wenn sie dem bedrängten Kontinent beistehen wollten, und daß sie dies oft auf eine glänzende Weise getan haben, davon gibt die Kriegsgeschichte seit 150 Jahren hinreichende Beweise.

Der General Richemond hat es le camp retranché de l'ennemi genannt, und so ist es in der Tat, nur mit dem Unterschiede, daß seit Jahrhunderten aus diesem camp retranché nie ein offensiver Anfall aus Frankreich geschehen, sondern dasselbe immer nur gebraucht worden ist, Europa gegen das unruhige und ehrgeizige Frankreich zu schützen.

Alles, was die Franzosen von natürlicher Grenze sagen und worunter sie jetzt die Schelde und Maas und Rhein verstehen, später vielleicht die Weser und dann die Elbe verstehen werden, bezieht sich nicht im mindesten auf die Sicherheit ihres Staates, sondern auf die Sicherheit ihrer Oberherrschaft. Jene ist noch niemals bedroht gewesen; Frankreich besitzt noch jetzt die Grenzen, welche ihm Ludwig XIV. erworben hat, und der Umstand, daß keiner seiner natürlichen Gegner allein ihm gewachsen ist, bildet schon eine hinreichende Gewähr seiner Integrität. Dagegen ist freilich nicht zu leugnen, daß, wenn Frankreich durchaus über Europa herrschen soll, wie es in den dreizehn ersten Jahren dieses Jahrhunderts getan hat, es den Rhein wiederhaben muß; nur um jene Frage handelt es sich noch.

Was wir also auch von dem Abfalle Belgiens denken und wie wir uns seine künftige Gestaltung vorstellen mögen, diesen Punkt unseres eigenen hochwichtigen Interesses sollten wir nie aus den Augen, nie aus dem Herzen verlieren.

Endlich richtet sich, und das vorzüglich in diesem Augenblicke, auch der Gedanke nach Polen. Hier will ein sehr fähiges Volk, welches aber jahrhundertelang unter kultivierten europäischen Staaten ein halb tartarisches geblieben war, dieses tartarische Wesen wiederherstellen und möchte uns gern glauben machen, daß es eine heilsame Mittelmacht gegen Rußland bilden würde. Aber dazu gehören Bedingungen, die durchaus nicht vorhanden sind. Erstlich müßten die Polen Mittel haben, sich schnell in einen europäischen Staat zu veredeln. Dies ist eine völlige Unmöglichkeit. Gesetzt, es gelänge ihnen in ihrer Unabhängigkeit diese Aufgabe wirklich dereinst, so wird es doch nur dereinst sein, nämlich vielleicht nach hundert Jahren. Zweitens aber würde zu einer heilsamen Mittelmacht ein in den Polen selbst liegendes befreundetes Verhältnis zu den Deutschen gehören. Nun gibt es aber kein Volk, gegen welches die Polen mehr Geringschätzung zeigten als das deutsche, hauptsächlich weil es keines gibt, was einen stärkeren Gegensatz zu ihrer Nationaleigentümlichkeit bildet. Ferner gibt es kein Volk, mit welchem Polen permanentere feindlichere Interessen hätte als Deutschland, nämlich Preußen. Es hat einmal die Länder bis zur Ostsee besessen; bis dahin wird zum Teil noch seine Sprache geredet; dort findet es den natürlichen Ablauf seiner rohen Produkte; selbst das deutsche Ostpreußen war einst sein Lehensträger. Nun sind aber die Polen, wie jeder weiß, ein eitles und namentlich gegen uns ein stolzes Volk; sie würden also nichts mehr auf dem Herzen haben als ihre erste unabhängige Stellung zu benutzen, um ihre materiellen und moralischen Interessen auf unsere Unkosten zu befriedigen, und wenn sie dies je mit Erfolg können, so wird nichts natürlicher sein als die Tendenz, nach und nach das ganze Bett des slawischen Völkerstromes wieder einzunehmen, welches bekanntlich bis an die Elbe reichte und in den wendischen Völkerschaften noch Trümmer seines ehemaligen Daseins zeigt. Wir fragen, ob es einen natürlicheren Feind für uns gibt als dieses Polen, und ob es nicht im höchsten Grade absurd wäre, uns lieber Rußland als einen solchen zu denken, was halb nach Asien hingewendet ist und dessen Herrscher auf zwei Generationen hinaus den unsrigen als eng verbunden betrachtet werden können. Überhaupt ist von Rußland niemals etwas zu befürchten, so lange von Frankreich alles befürchtet werden muß. Dagegen haben sich Polen und Franzosen von jeher als natürliche Verbündete betrachtet; dies weiß jeder Zeitungsleser, wenn er auch noch so wenig Geschichte weiß. – Wer ist denn aber der Gegenstand dieses natürlichen Bündnisses? Offenbar was zwischen beiden liegt, die deutschen Mächte. Können wir nun wohl, unter solchen Umständen und wie die Dinge dermalen im Osten und Westen stehen, uns selbst genug verleugnen, um eine sogenannte Freimachung Polens im Interesse der Menschheit zu wünschen? Liegt der Menschheit mehr an der Herstellung Sarmatiens als an der Erhaltung Germaniens?

Wehe uns, wenn Rußland in den Fall kommen könnte, die Krone Polens aufzugeben und seine polnischen Provinzen: Litauen, Wolhynien, Podolien wieder abzutreten, ein Fall, den sich mancher deutsche Philosoph als ein goldenes Zeitalter des Ostens denkt. Rußland, einmal zu diesem Opfer gezwungen oder vermocht, würde dann seinen Blick ganz von dem Westen Europas abwenden, von dem es weder zu hoffen noch zu fürchten hätte, würde Deutschland vor der Hand seinem Schicksale überlassen, und Polen und Franzosen, die uns Deutsche noch mehr geringschätzen als sie uns hassen, würden sich an der Elbe die Hand zu reichen suchen. Auf diese Weise ist es, daß die polnische Frage, wie die belgische unseren höchsten und heiligsten Interessen nahe tritt, sich an die Frage um unsere Gesamtexistenz knüpft.

Wir können nicht einen Augenblick zweifeln, daß die Pariser Volkspartei und in ihrem Gefolge alle eiteln und leichtsinnigen Elemente dieser wesentlich eiteln und leichtsinnigen Nation diese Ansichten von den europäischen Angelegenheiten hat. Ihre ganze neueste Revolution schöpft darin ihre hauptsächlichste Kraft; untröstlich, seit dem Jahre 1813 den europäischen Szepter verloren zu haben, hoffen sie von der neuen Ordnung der Dinge und von dem allgemein verbreiteten Geiste der Empörung die Mittel, ihn wieder zu gewinnen. Nur darum hassen sie hauptsächlich die Bourbons, weil dieselben diesem Plane ein wesentliches Hindernis sind. Gebt ihnen einen neuen Bonaparte, und sie liefern euch die Charte aus und spalten mit ihm das Utopien aller Philosophen und Doktrinärs.

Die Franzosen, nämlich insoweit sie durch die Pariser Volkspartei und ihre Blätter repräsentiert werden, wollen ihren Fuß wieder auf den Nacken Europas setzen. Was sie zu überwinden haben, sind die deutschen Mächte, denn alle anderen europäischen Staaten können ihre Hilfe nur an den Widerstand dieser Mächte anschließen; in ihnen liegt der eigentliche Schwerpunkt des Widerstandes, der, einmal aus dem Gleichgewichte gebracht, alles andere mit sich fortreißt. Daß diese Ansicht nicht auf einem Hirngespinste oder irgend willkürlichen Voraussetzungen beruht, beweist die Sprache, welche die französischen liberalen Journale und die Redner in den Kammern führen. Wir müßten wahrlich, wenn wir diese Gefahr nicht sehen und anerkennen wollten, uns später vor uns selbst schämen und gestehen, daß wir eines gesunden politischen Urteils ganz unfähig sind.

Die Kabinette der beteiligten Mächte vom ersten bis zum letzten sind darüber nicht einen Augenblick zweifelhaft; nur die Meinungen in der gebildeten Volksklasse sind es, zum Teil, weil sie die Dinge nicht im Zusammenhange sehen und die vorliegenden Fragen vereinzeln, auch nicht ganz zu würdigen wissen.

So und schlechterdings nur dadurch kann man es sich erklären, daß so viele Menschen bei der Frage über Krieg und Frieden sich die Initiative immer auf seiten der einen oder anderen europäischen Macht denken. Rußland, Österreich, Preußen, England, jede dieser Mächte wird in dieser Beziehung vor den Richterstuhl der öffentlichen Meinung gezogen, um bald belobend über ihre Friedensliebe, bald beunruhigt über ihre Rüstungen und kriegerischen Absichten zu sprechen.

Schon dadurch, daß man ihnen verschiedene Richtungen zutraut, sollte man gewahr werden, daß man sich in einem ganz falschen Systeme befindet. Wie kann man glauben, daß diese Mächte in einem so gefahrvollen Augenblicke, wo die ganze Ruhe und Sicherheit Europas und jeder einzelnen von ihnen auf dem Spiele steht, sich einer vereinzelten Politik, einer individuellen Ansicht in dem Maße hingeben würden, um daraus einen Angriff Frankreichs oder eine dem gleichbedeutende Handlung hervorgehen zu lassen. In dieser moralischen Unmöglichkeit liegt die völlige Sicherheit Frankreichs gegen einen Angriff. Sollte ein solcher erfolgen, so müßte er von der Mehrheit der genannten Mächte, um nicht absolut zu sagen, von allen beschlossen, eingeleitet und vorbereitet werden, Dinge, die noch nie so unbemerkt geschehen sind, daß sie nicht lange vor dem Ausbruche immer unzweifelhaft geworden wären, sowohl für die Kabinette als den unterrichteten Teil des Publikums. Es ist aber bisher gar nichts derart geschehen, sondern es haben vielmehr England, Preußen und Österreich vom ersten Augenblicke der Pariser Revolution bis auf diese Stunde den entschiedensten Willen gezeigt, den Frieden aufrecht zu erhalten, d. h. auf der Verteidigung zu bleiben und abzuwarten, ob der Dämon, welcher sich in Frankreich zu gestalten droht und der bis jetzt noch mit seiner eigenen Geburt kämpft, aus diesem Lande hervortreten und sich auf Deutschland werfen wird.

Diese Stellung der Verteidigung ist den Mächten keineswegs gleichgültig, da sie ihnen notwendig die Meinung aller gesunden Köpfe und unverdorbenen Herzen bei sich selbst und beim Feinde zuwenden muß und ein solcher Krieg, wie er hier zu erwarten steht, nicht bloß mit Kabinettsmitteln, sondern mit den Herzen der Völker geführt werden muß. Um dieses großen Vorteils willen werden die Mächte diese Stellung der Verteidigung nie aufgeben.

Ist also von der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit oder Unvermeidlichkeit des Krieges die Rede, so ist immer nur der Blick auf Paris zu richten, immer nur genau zu achten, ob die Leidenschaft und der Übermut der Volkspartei die Regierung mit sich fortreißen oder gar über den Haufen werfen wird, um das goldene Zeitalter einer zweiten Bonapartischen Ära herbeizuführen.

Wo ist nun das Resultat unserer ganzen Betrachtung? Daß es Zeit ist, an uns selbst zu denken und nicht mit unnützen, uns fernliegenden Fragen auf eine solche Art zu spielen, daß dadurch eine gediegene nationale Gesinnung untergraben werde. Zwingt Frankreich uns, auf den Kampfplatz zu treten, so handelt es sich mehr als je um das Dasein. Nicht daß wir glaubten, unsere Sache stände so schlecht, daß die Franzosen uns leicht zermalmen könnten, wie ihre leichtsinnigen Exaltierten das wohl denken, sondern weil ein Kampf keinen anderen Charakter haben kann, der für alles umfassende Interessen geführt wird und aus großen Leidenschaften hervorgeht. Rüsten wir Deutsche uns nicht mit einer Gesinnung und einem Gefühle aus wie im Jahre 1813, so wird Deutschland schwierigen Umständen nicht gewachsen sein, und es kann dann aus den Fugen gerückt werden, in welche die Pariser Frieden es festgestellt hatten.

Die weiteren möglichen welthistorischen Folgen haben wir angedeutet. Die Mächte rüsten zu diesem Kampfe, weil sie ihn zu erwarten haben. Lassen wir Untertanen uns nicht in unserer eigenen Brust überfallen; rüsten wir uns mit einem Gefühle und einer Gesinnung, die dem großen Augenblicke entsprechen, und tragen wir so in jene materiellen Rüstungen die Seele hinein, ohne welche sie nimmermehr einem Feinde widerstehen werden, der alles mit Leidenschaft tut.

Wenn wir mit dieser inneren und äußeren Tüchtigkeit das Schlachtfeld betreten, so dürfen wir auf einen glücklichen Ausgang dieser neuen Krise hoffen.

Die Franzosen sind ein leichtsinniges Volk; sie stürzen sich aus bloßer Eitelkeit in diesen Kampf und bilden sich ein, über die Deutschen eine solche moralische Überlegenheit zu haben, daß, wenn sie nicht durch eine unerhörte Übermacht überwältigt würden, der entschiedenste glückliche Erfolg nicht zweifelhaft sein könnte. – Gegen diese Übermacht glauben sie sich nun durch die Empörungen gesichert, die den europäischen Mächten überall Fesseln anlegen sollen, und so sehen sie in dem bevorstehenden Kampfe kaum eine Gefahr. – Sie individualisieren sich den ganzen Krieg zu einer Schlacht von Austerlitz und Jena; sie vergessen den lange zweifelhaften Kampf, den sie allein gegen die österreichische Macht zu führen gehabt haben, sie vergessen, daß, wenn im Jahre 1799 der Krieg schnell bis an die Grenzen der Dauphins versetzt worden ist, nicht mehr als eine Hilfsmacht von 20 000 Russen dazu mitgewirkt hatte, daß sie es jetzt mit einer ganz anders zugeschnittenen, eingerichteten und belebten Streitkraft der deutschen Mächte zu tun haben, endlich, daß sie selbst nicht eines Sinnes, nicht eines Gefühles sind. Nichts ist heute gewöhnlicher, als den Begriff des ganzen Volkes der bloßen Volkspartei einer Hauptstadt zu substituieren, und doch ist dies immer mehr oder weniger eine illusorische Vorstellung, und die Wirkung dieses mehr oder weniger großen Irrtums wird im praktischen Leben nie ausbleiben.

Mögen sie sich ihren Illusionen, ihrer exaltierten Eitelkeit hingeben, sie werden, wenn wir Deutsche unsere Pflicht tun, sehen, daß ihre hochfahrenden Pläne zu nichts führen, daß sie in dem Elende der Völker versiegen werden, die der Fuß des Krieges zertritt. Wir aber, wir Deutschen alle, müssen gefaßt sein, diesem Dämon zu begegnen, und dazu bedürfen wir die Kraft eines edlen Selbstgefühls, also neben der Treue gegen unsere Fürsten, gegen unser Vaterland, auch die Treue gegen uns selbst.


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