Faust. Eine Tragödie
von Johann Wolfgang von Goethe
Dom
Amt, Orgel und Gesang.
Gretchen unter vielem Volke. Böser Geist hinter Gretchen.
Böser Geist:
Wie anders, Gretchen, war dir's,
Als du noch voll Unschuld
Hier zum Altar tratst
Aus dem vergriffnen Büchelchen
Gebete lalltest,
Halb Kinderspiele,
Halb Gott im Herzen!
Gretchen!
Wo steht dein Kopf?
In deinem Herzen
Welche Missetat?
Betst du für deiner Mutter Seele, die
Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief?
Auf deiner Schwelle wessen Blut?
– Und unter deinem Herzen
Regt sich's nicht quillend schon
Und ängstet dich und sich
Mit ahnungsvoller Gegenwart?
Gretchen:
Weh! Weh!
Wär ich der Gedanken los,
Die mir herüber und hinüber gehen
Wider mich!
Chor:
Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla.
(Orgelton.)
Böser Geist:
Grimm faßt dich!
Die Posaune tönt!
Die Gräber beben!
Und dein Herz,
Aus Aschenruh
Zu Flammenqualen
Wieder aufgeschaffen,
Bebt auf!
Gretchen:
Wär ich hier weg!
Mir ist, als ob die Orgel mir
Den Atem versetzte,
Gesang mein Herz
Im Tiefsten löste.
Chor:
Judex ergo cum sedebit,
Quidquid latet adparebit,
Nil inultum remanebit.
Gretchen:
Mir wird so eng!
Die Mauernpfeiler
Befangen mich!
Das Gewölbe
Drängt mich! – Luft!
Böser Geist:
Verbirg dich! Sünd und Schande
Bleibt nicht verborgen.
Luft? Licht?
Weh dir!
Chor:
Quid sum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus?
Cum vix justus sit securus.
Böser Geist:
Ihr Antlitz wenden
Verklärte von dir ab.
Die Hände dir zu reichen,
Schauert's den Reinen.
Weh!
Chor:
Quid sum miser tunc dicturus?
Gretchen:
Nachbarin! Euer Fläschchen!
(Sie fällt in Ohnmacht.)