Das System der Rechtslehre
von Johann Gottfried Fichte.
Dritter Teil.
Erster Abschnitt
[Bürgerrechte und Menschenrechte]
10) Ist das Bürgerrecht schlechthin alles Recht, oder gibt es jenseits desselben noch ein Recht, und auf welche Weise? Dies ist eine gar nicht leicht zu beantwortende Frage, von deren Entscheidung es abhängt, was der Verlust des Bürgerrechts nach sich ziehe. Ist es alles Recht, so folgt daraus Fortjagen ohne alle Barmherzigkeit, Totschlagen, wenn man sich des Verbrechers nicht sonst erwehren kann, wie ein wildes Tier. Behält er aber dennoch, nach dem Verluste alles Bürgerrechts, ein rein menschliches Recht übrig, so müssen wir dieses wenigstens schonen, und sehen, welche Grenze dies unsrer Behandlung desselben zieht.
Ich sage, allerdings gibt es noch ein rein menschliches Recht außer dem Bürgerrechte. Alles, was Mensch ist, ist möglicher Weise ein Werkzeug des Sittengesetzes: dazu eben ist die formale Freiheit. Wenn er es nun jetzt sichtlich nicht ist, so kann er es doch werden. Jeder, in welchem die Vernunft nur zum klaren Bewusstsein durchgebrochen ist, erkennt auch Jeden dafür an.
Gibt nun dies dem, der offenbar die erscheinende Bedingung jener Fähigkeit zur Sittlichkeit, die formale Freiheit und Besonnenheit nicht zeigt, einen Rechtsanspruch auf Schonung? Offenbar nicht. Der Rechtsbegriff ist ein gemeinsamer Begriff, ein wechselnder zwischen Individuen, sich gründend auf ein Faktum, auf das Beide sich berufen können, über welches sich dieselben einander müssen überführen können. Die Prämisse des Beweises: ich habe Recht, ist nimmer die: ich habe einen freien, d.i. durch mich zu richtenden, besonnenen Willen. Diese Prämisse kann der Vorausgesetzte nicht aufstellen; er kann darum keinen Rechtsbeweis führen gegen die Gemeinde oder den Staat. Kommt es darum allein auf das Recht an, so ist kein Grund, ihn zu schonen; es ist nicht unrecht, dass ihn der Staat willkürlich behandelt. Äußerlich und objektiv gültig erweisen also kann er nicht. Aber in seinem Gewissen sieht es doch die Gemeinde und der Staat ein, und weiß es wohl. -
(NB. So sagen wir: die Rechtslehre entwickelt den für alle Zeiten gültigen Vernunftstaat, in welchem die Vernunft durchgebrochen ist, nicht den nur in einer früheren Zeit möglichen, rohen. Diese Betrachtung geht uns Nichts an). Also jener Zustand legt ihnen eine Pflicht auf. Ob es also auch gleich nicht gegen das Recht ist, so ist es doch gegen die Pflicht; das Recht aber kann nie etwas Pflichtwidriges gebieten.
Also sein Menschenrecht, das ihm zwar nicht durch sein Recht, wohl aber durch die Pflicht aller Andren zu Teil wird, ist zu schonen. - Was sagt dies? Er kann frei und dem zufolge sittlich werden. Sein Leben ist dazu die Bedingung; also sein Leben ist zu schonen. Was hat sein Leben für eine Bedingung? Besonnene Freiheit, bürgerliche Tugend zu entwickeln. Weiter keine: also es muss durchaus auf diese Bedingung beschränkt werden. Bürger kann er nicht sein, aber er kann zum Bürger erzogen werden: (eben so wie das unmündige Kind). Er gehört, nachdem er die besondre Strafe, die etwa sein Vergehen verdient hat, und die nicht zur Besserung ist, sondern zur Verhinderung des Verbrechens bei ihm, und sodann bei Andern dienen soll, welche bei körperlichen Angriffen, und so auch beim Morde in körperlicher Züchtigung besteht, in das Besserungshaus.
Das Resultat dieser Sätze wäre: die Lebensstrafe ist in keinem Falle zulässig. (Ich habe mich bestrebt, bei dieser so sehr bestrittenen Materie, wo ich die Untersuchung auf ein der gewöhnlichen Ausübung widersprechendes Resultat geführt habe, so klar zu sein, als möglich).
Dass man einen Menschen unter keiner Bedingung mit Bedacht und Besonnenheit um irgend eines Zweckes willen töten dürfe, erkennt das allgemeine Bewusstsein an. Wer hält es für erlaubt, einen Rasenden, an dessen jemaliger Wiederherstellung alle Kunstverständigen verzweifeln, oder einen unheilbaren Kranken zu töten, um sich der Mühe zu entbinden, den Ersteren zu bewachen, dem zweiten die Qual zu verkürzen: ungeachtet Niemand Hoffnung hat, dass dieselben jemals sich oder Andern werden nützlich werden? Nur beim Verbrecher macht man diese Ausnahme. Warum bei diesem? Weil man seinen Zustand als mit Freiheit sich zugezogen betrachtet, wie man den der Andren nicht ansehen kann: weil man ihm Sittlichkeit anmutet Mit welcher Wahrheit, davon nachher; weil man dieser Voraussetzung zufolge ein absolutes Strafrecht aufstellt, Jeden zu behandeln nach dem Gesetze, das er durch sein Handeln aufstellt. Zugestanden; das Recht ist nicht dagegen: wer darum nichts Höheres kennt, denn das Recht. Auch dieser hat zwar keinen positiven Grund, aber der erste Grund, sei es auch nur der, weil er nicht weiß, was er mit dem Verbrecher machen soll, reicht ihm hin, ihn wegzuschaffen, weil Nichts dagegen ist. Wer aber ein sittliches Gewissen hat, und Religion, als absolute Hingebung in den Willen Gottes, dem ist seine Pflicht dagegen, und es wird ihm die Pflicht aufgelegt, den Verbrecher dennoch in der Welt zu dulden, bis die Natur, d.i. Gott, ihn wegnimmt. Man setzt bei ihnen voraus einen freien Willen. Diesen aber grade haben sie nicht, und das ist der Grund ihrer Ausschließung. Sie sind allerdings Wahnsinnige, nur von einer gefährlicheren Art, als die, die wir Alle dafür erkennen. Die letzteren verlieren die wirkliche Sinnenwelt und den Zusammenhang der Dinge in ihr. Jene verlieren die Rechtswelt und den Zusammenhang der Freiheitsäußerungen. So muss man sie betrachten und behandeln.
Richtige Maxime. Man muss schlechthin Jeden behandeln, als ob er frei, und der Sittlichkeit empfänglich wäre; diese Forderung durchaus Keinem schenken. (Es wird im Leben sehr dagegen gefehlt durch Unterlegung psychologischer Erklärungsgründe). Nämlich, damit er diese Freiheit bekomme: (dass er sie nicht hat, weiß der Verständige wohl). Zum Freiwerden aber gehört Leben, denn dass ich Jemanden, der keine Freiheit hat, totschlage, damit er sie bekomme, lässt sich nicht sagen. Also das Recht geht nicht bis zur Todesstrafe.
Die subjektive Bedingung der richtigen Beurteilung dieses Gegenstandes ist die: dass man die Sittlichkeit und die Rechtlichkeit rein geschieden habe, und die letztere gar nicht betrachte als einen Teil der ersteren, sondern nur als ihre Bedingung. Es kann Etwas Recht sein, das doch durchaus unsittlich ist. (Die absolute Anmutung der Freiheit, und das Wegwerfen des Menschen ohne sie, ist aller Ehren werte, streng rechtliche Denkweise. Wer zu ihr sich nicht einmal erhoben hat, sondern alle Erscheinungen in der Menschheit erklärt als psychologische Phänomene, nach einem Naturgesetze, der ist tief verächtlich; in ihm ist nicht einmal die ganz gemeine Rechtlichkeit zum Durchbruche gekommen. Beide sind jedoch einseitig. Wer das Reich der psychologischen Notwendigkeit gar nicht verkennend, jene Anmutung betrachtet, als das durch die Vernunft verordnete Erziehungsmittel zur Freiheit, und sie auf die Sphäre, in der sie ein solches Mittel sein kann, beschränkt, der vereinigt Alles in dem höheren Standpunkte der Sittlichkeit. Der Sittliche hat gar keinen Gesichtspunkt, als den der sittlichen Erziehung und Vervollkommnung seiner selbst, und Andrer. Dies ist ihm der Lebenszweck). In der Ausübung ist die Bedingung, dass ein Volk und seine Regierung wirklich über die bloße Rechtlichkeit sich zur Einsicht in die Sittlichkeit erhoben habe. Das mag sich nun in der Wirklichkeit verhalten, wie es will; in den Schulen der Philosophie darf darauf nicht Rücksicht genommen werden.
Mein Einwurf (a.a.O. S.120.), wer den Mörder hüten solle, ist leicht zu beantworten. Eben der, der den durch unsern Arzt für wahnsinnig Erklärten hütet, den wir darum nicht töten, und auf dieselbe Weise. Behandelt ihn als einen gefährlichen Wahnsinnigen.