Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poesie der modernen Religionsphilosophie Teil 3

Diesen galant tänzelnden und zuletzt bedenklich ausgleitenden Dichtern sehen wir eine andere Gruppe in den sogenannten Bremer Beiträgen sich gegenüberstellen. Die Bremer, oder wie sie eigentlich heißen: »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes«, entstanden aus dem Überdruß mehrerer jungen Poeten an der Gottschedschen Tyrannei, und wurzeln zum Teil noch in der Anschauungsweise des Halberstädtschen Kreises, aus welchem sogar Hagedorn und Gleim selbst sich anfangs daran beteiligten. Die übrigen nennenswerten Mitglieder dieser neuen Gruppe sind – außer Zachariae und Gellert, die wir in andrer Beziehung schon oben erwähnt haben – vorzüglich Ebert, Giseke, Cramer, Adolf Schlegel, Rabener, und zuletzt auch Klopstock. Alle diese mittelmäßigen Poeten – wenn wir, wie sich von selbst versteht, Klopstock ausnehmen – haben nichts Neues geschaffen, sondern bloß vorbereitet; sie bilden nur den mehr kritischen als produktiven Übergang von Hagedorn zu Klopstock. Mit dem ersteren sympathisiert am meisten noch Ebert in seiner Lyrik, und zum Teil auch Giseke, mit Klopstock dagegen Cramer und Adolf Schlegel. Rabener, der Satiriker unter ihnen, hat natürlicher weise seine besondere Domäne für sich, die er sich möglichst bescheiden und enge eingehegt. Behutsam und unter ironischen Bücklingen berührt er kaum die Schellenkappe, ohne den eigentlichen Narren der Zeit irgend herzhaft herauszufordern. Seine Satiren sind im Grunde nur ein Alteweibergeklatsch über die minuziöse Misere der damaligen Kleinstädterei und Dorfteufeleien und daher grade so langweilig als ihr Stoff.

Der allgemeine Grundcharakter aber, der diese Gruppe von der vorigen wesentlich unterscheidet, ist der größere Ernst  der Gesinnung und, mit diesem besseren Gewissen, auch die größere Wahrheit der Empfindung. So haben sie zunächst von dem Inhalt der Anakreontiker vorzüglich nur die Freundschaft mit herübergenommen und sie aus der Gleimschen Tändelei zu einer männlichen Tugend herausgebildet; ihre ganze Lyrik ist fast nur ein wehmütiger Nachklang ihres jugendlich aufstrebenden Zusammenlebens in Leipzig. Gellert sowie Schlegel, Rabener und Giseke sagen, daß die Freundschaft sie singen gelehrt, und Klopstock hat später in seiner Ode »Wingolf« die zerstreuten Genossen noch einmal im Geiste um sich versammelt und dem Jugendbunde ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Diese Wehmut und Treue konnte indes begreiflicherweise mit Crébillon, Grasset, Batteux etc. nicht bestehen; daher gingen sie, da ihre Poesie noch unsicher experimentierte und sich anlehnen mußte, immer mehr von dem leichtsinnigen Franzosentum der Halberstädter zu den tieferen Engländern über. Ebert übersetzte Glovers Leonidas und Youngs Nachtgedanken, welche der nachfolgenden Literatur für lange Zeit eine melancholische Mondscheinbeleuchtung gaben. Am fühlbarsten aber zeigt sich der Unterschied in dem redlichen Eifer, womit sie auf dem religiösen Gebiet sich der Mode gewordenen Freidenkerei entgegenstemmen. Giseke polemisiert gegen die Spinozisten, Cramer wendet sich zuletzt beinah ausschließlich zum Kirchenliede, und selbst der sanfte Gellert tritt plötzlich geharnischt gegen die Deisten auf. Allein es war mehr eine versuchte Vermittelung als ein offener Kampf. Sie fochten nicht mit den unmittelbaren Waffen der Religion, sondern wollten durch die poetischen Schönheiten derselben bekehren; ja Cramer hielt den Freigeistern die Bibel als »ein Werk des Geschmacks« vor, deren Betrachtung eine »Andacht des Witzes und einer regelmäßigen Einbildung« sei.

Diese Richtung, so unscheinbar und verschleiert sie beginnt, hat doch in ihren allmählichen Entwickelungen und Konsequenzen unsere ganze moderne Literatur revolutioniert. Sie erscheint sehr bald schon als entschiedenes Ästhetisieren des Christentums, laviert dann eine Zeitlang zwischen dem Kreuzfeuer einer sublimen Sentimentalität und des unsterblichen groben Menschenverstandes, beiden sich biegsam akkommodierend, bis endlich im siegreichen Fortgange das ursprüngliche Verhältnis völlig umgekehrt, das bisherige bloße Mittel zum Zweck und an die Stelle der Religion die Kunst gesetzt wird, die nun allein das Christentum vertreten und die Erziehung des Menschengeschlechts übernehmen soll. Je näher wir aber nun dem unmittelbaren Kampfplatze rücken, um so schroffer, schärfer und rascher wechseln die Gegensätze; die sich kreuzenden Intentionen und Interessen werden komplizierter und verworrener und die unendlichen Staubwolken, die sie aufwühlen, immer dichter. Wir müssen uns daher, um den Faden nicht zu verlieren, notwendig darauf beschränken, aus dem großen Geistergetümmel nur die führenden Momente möglichst klar hervorzuheben.

Herder (1744–1803) war der erste eigentliche Ästhetiker des Christentums. In seinen frühesten und bedeutendsten religiösen Schriften: in der »ältesten Urkunde des Menschengeschlechts«, im »Geist der hebräischen Poesie« und in den »Briefen über das Studium der Theologie«, entschleiert er mit einem seiner Intention vollkommen entsprechenden und bis dahin unerhörten Glanz und Aufschwung der Sprache nicht sowohl das göttliche Geheimnis als vielmehr das menschlich Große der heiligen Schriften, er lehrt nicht Religion, sondern zeigt nur, wie schon sie sei, und vindiziert David und den Propheten auch als Dichtern den Vorrang über die Poesie des klassischen Altertums. Aber er beschränkte sich hierbei nicht auf die heiligen Schriften. Wie Brockes vor ihm fast kindisch versucht, hat Herder in einem höheren und umfassenderen Sinne in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« den religiösen Glauben zugleich auch aus der Schönheit der äußern und der Menschennatur zu interpretieren unternommen. »Gang Gottes in der Natur« – sagt er dort – »die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat, sie sind das heilige Buch, an dessen Charakteren ich buchstabiert habe und buchstabieren werde. Überall hat uns die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion geführt, und diesen Weg verfolgend, sehen wir zuletzt das dunkelstrahlende Licht als Flamme und Sonne aufgehen. –« Es ist dieselbe ganz außerordentliche Empfänglichkeit und poetische Divinationsgabe, die auch seine »Stimmen der Völker« hervorgerufen: gleichsam eine Generalkarte der Poesie, welche die poetischen Individualitäten aller Zeiten und Völker der Erde in ihren Volksliedern nachweist. Und diese Universalität der Weltbetrachtung führte gleichzeitig auch noch in anderer Richtung zu einer literarischen Erscheinung, auf die wir später, wo sie sich selbständig entwickelt, noch einmal zürückkommen müssen.

Man sieht und fühlt es überall unwillkürlich heraus: Herders Christentum war weniger Sache der Erkenntnis als der Phantasie, mehr eine poetische Mythologie der Religion als ein tieferes Eindringen in die ewigen Grundlagen dieser Mythologie. Daher sinkt er, wo es unmittelbar ein solches Eindringen galt, in seinen Kirchenliedern, ungeschickt bis zur trocknen Nüchternheit herab; daher sehen wir ihn im zunehmenden Alter, als die jugendliche Schnellkraft der Phantasie versagte, immer mehr der rationalistischen Aufklärung verfallen und schmerzlich an sich selber irre werden. Auch dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß er in seinen Völkerstimmen häufig den wahren Klang verfehlt und namentlich in der Übertragung des spanischen Volksepos vom »Cid« diese felsenkantige Heldengestalt mannigfach abgemeißelt und modernisiert hat. Aber man vergesse nicht, wie verknöchert damals die Theologie und wie gelehrt und pedantisch die Poesie von ihrem volkstümlichen Urquell abgewendet war. Und so hat denn Herder jedenfalls, worauf es zunächst ankam, nach beiden Richtungen hin einen erfrischenden Hauch gebracht, der noch jetzt belebend fortwirkt; ein unvergängliches Verdienst, das wir dankbar anerkennen sollen.

Dieselbe Anerkennung aus demselben Grunde verdient Klopstock, und zwar in so höherem Maße, als Herder eigentlich nur Nachdichter, Klopstock aber selbständig schöpferisch und also unendlich wirksamer war. Klopstock hat, was die besten seiner Zeitgenossen dunkel wollten, das von allen geahnte Morgenrot heraufbeschworen, er hat in der Tat die deutsche Poesie innerlich und äußerlich neugeschaffen, indem er ihr einen ewigen Inhalt und eine strenge würdige Form wiedergab. Er hatte zuerst den Mut, sie aus der trostlosen Verwirrung des Unglaubens und des gelehrten Aberglaubens auf ihren natürlichen Ursprung: auf Religion und Vaterlandsliebe, zurückzuweisen; und es lag nur in dem allgemeinen Mißverhältnis der einzelnen Menschenkraft zu so hohen Intentionen, wenn er sein großes Ziel nicht vollkommen erreichte.

Auch Klopstocks Christentum (wie sich hier überall von selbst versteht: als literarische Erscheinung) ist, gleich dem Herderschen, ein ästhetisches und spezifisch protestantisches, indem es mit mehr oder minder poetischer Willkür, dem subjektiven Emanzipationsprinzip des Protestantismus gemäß, lediglich auf die schwanke Spitze des individuellen Gefühls gestellt wird. Seine Messiade sollte ein National-Epos werden; aber sie ist beides nicht geworden, weder ein Epos noch wirklich national, eben durch jene rein subjektive Auffassung. Denn das Epos ist, seiner eigentümlichen Natur nach, die Darstellung einer allgemeinen Weltanschauung, wo, wie in der Weltgeschichte, die Tatsachen reden und das Individuum demütig zurücktritt. Der Gegenstand der Messiade ist ungefähr derselbe wie in Eschenbachs Parzival: das göttliche Erlösungswerk. Allein Eschenbachs Epos ruht auf dem festen Grunde eines von der Zeit getragenen allgemeinen Glaubens, dessen symbolischer Typus nur der persönliche Parzival ist, während in der Messiade der Glaube gleichsam erst wieder neu aufgefunden werden muß. Daher dort alles objektiv, hier alles ideal: ein abstrakter Himmel und die bloße Rhetorik gestaltloser Engel und Dämonen, aus protestantischer Unkenntnis oder Abneigung aller altkirchlichen Tradition entkleidet, womit uns z.B. Dante so gewaltig durch Himmel und Hölle führt. Daher bei Dante und im Parzival lauter Handlung und in der Messiade lauter Empfindung und endlose Reden über diese Empfindung, mithin das Elegische vorwaltend. Ja selbst die Teufel werden hier rührend, und es ist bekannt, daß die Damen in zärtlicher Sorge den Dichter bestürmten, den liebenswürdigen Teufel Abadona am Ende des Werkes noch zu begnadigen. – Gleich wie demnach die Messiade kein Epos, so ist auch ihre Form nichts weniger als national. Wir geben gern zu, daß die Poeten vor Klopstock größtenteils triviale Reimschmiede waren, als sei der Reim nicht der Poesie wegen, sondern die Poesie nur um des Reimes willen da. Aber nicht der Reim war daran schuld, sondern die allgemeine Gedankenlosigkeit der Zeit. Es ist überhaupt ein seltsames Mißverständnis, die Poesie einer Nation von ihrer eigentümlichen Form, als etwas ganz Zufälligem, trennen zu wollen; beide gehören notwendig zueinander wie Leib und Seele und geben eben zusammen erst die Poesie. Und so ist denn auch der Reim so alt wie die deutsche Dichtung und hat durch alle Zeiten melodisch fortgetönt bis auf den heutigen Tag. Es war daher die eigentliche Aufgabe Klopstocks, ihm belebend seine uralte nationale Bedeutung und Würde wiederzugeben, anstatt ihn in vornehmer Verachtung fortzuwerfen. Jedenfalls aber war der dafür gewählte Hexameter ein störender Mißklang und nur den Gelehrten verständlich und genehm.

Derselbe Grundirrtum hat auch seine Dramen verdorben. In seinen sogenannten Bardieten wird ebenso willkürlich ein ungermanisches Altertum mit ganz unhistorischen Druiden und Barden improvisiert und in einem Tränenbade von Empfindsamkeit bis zur völligen Unkenntlichkeit verwaschen. Gleich wie man damals die Religion auf ein angebliches Urchristentum zurückführen wollte, so ist hier das Deutschtum ohne irgendein Mittelglied an eine fabelhafte Urwelt geknüpft, die niemals war, und an eine nordisch-heidnische Mythologie, die niemand kannte. Es gibt wohl in der ganzen deutschen Literatur kaum etwas Unmöglicheres als diesen Klopstockschen Hermann in der »Hermannsschlacht«, ein weinerlicher Held, der nichts tut, als von dem, was er tun sollte, seine Thusnelda zärtlich unterhalten, und in einer wunderlich verzwickten Senecaschen Lapidarsprache mit dem Munde Schlachten liefert. Gleichwohl war die großartige Vaterlandsliebe, die diesen dramatischen Versuchen zum Grunde lag, etwas so unerhört Neues, daß sie ganz Deutschland aufrüttelnd elektrisierte und überall mannigfachen Widerhall weckte. Aus allen Gauen brachen plötzlich mit wütendem Schlachtgeschrei langbärtige Barden hervor, die Klopstocks Vaterländerei karikierten und unter denen Kretschmann als »Ringulph« am lautesten brüllte.

Das Wahrste in Klopstocks Dichtung sind seine Oden. In der Lyrik ist diese subjektive Gefühlspoesie in ihrer angeborenen Heimat und daher fast überall hinreißend, erschütternd oder erhebend. Nur daß auch hier das fremde antikisierende Idiom oft hemmend einwirkt und, wie bei Herder, namentlich das eigentliche Kirchenlied zerstört hat. Wer könnte auch nach alkäischem Versmaß künstlich skandierend beten? Ohne Zweifel ist durch solche Stilexerzitien unsere Sprache reinlicher, geschmeidiger und marmorglatter geworden; ob und was aber unsere Poesie dabei gewonnen, wäre noch eine andere Frage. Das gelehrte Silbenstechen, hinter dem sich das hohle Pathos so bequem verbirgt, ist eben nicht mehr wert und jedenfalls noch unpopulärer als die Schmetterlingsjagd nach Reimen.

Klopstocks reiche Erbschaft ist an die deutsche Dichterfamilie bis in die entferntesten Verwandtschaftsgrade verteilt  und versplittert worden. Das Bardengebrüll zwar, als bloße Modenarrheit, hatte sich bald heiser geschrien und wieder verloren. Um so eifriger aber wurde das antike Wesen von den nachfolgenden Odisten übernommen und gepflegt, um die eigene Armut damit anständig zu dekorieren. Unter ihnen ist J.A. Cramer der zarteste, Voß der gröbste und Ramler der eigentliche Virtuos dieser fremden Lyra. Auch der von Klopstock angeregte Patriotismus verwandelte bei den Epigonen seine ursprüngliche Gestalt und Bedeutung. Klopstock hatte Deutschland gemeint; aber es gab kein Deutschland, sondern nur Viele kleine Vaterländchen von Schwaben, Österreichern, Preußen, Katholiken, Lutheranern und Kalvinisten, die alle einander feindnachbarlich haßten. Vergeblich strebte Klopstock, und nach ihm der Wiener Jesuit Denis, über allen das alte Kaiserliche Banner wieder aufzupflanzen: das morsche heilige römische Reich, es hielt nicht mehr zusammen. In dieser Not hatten sich daher die meisten, wie Gleim, Ewald von Kleist, Ramler etc., endlich zu einem gemeinschaftlichen Kultus um die Heldengestalt der Zeit, um Friedrich II., zusammengeschart. Aber der große König, der kein Deutsch verstand, verachtete sie; und Liebe ohne Gegenliebe ist nie von gesegneter Dauer. So rächte es sich, daß Klopstock, die große Vergangenheit und alle nationalen Erinnerungen verschmähend, den Patriotismus unmittelbar an ein ideales Ur-Vaterland knüpfen wollte.

Von mächtiger Einwirkung dagegen, und die ganze Physiognomie unserer modernen Poesie bis auf den heutigen Tag bestimmend, war die von ihm emanzipierte und kühn an dem Höchsten im Menschen geschulte Empfindsamkeit. Die hausbackene Verständigkeit hatte sich nämlich damals soeben breit und gemächlich zu Neste gesetzt, um das Menschheitswohl auszubrüten, als ihr Klopstock das Kuckucksei des subjektiven Gefühls unterzulegen wagte. Die Brutwärme war aber gar zu gering; und so fuhr ihnen in dem kalten Klima unversehens der Bastard der falschen Sentimentalität mit aus: das dem Wahren und Großen nicht mehr gewachsene Gemüt, auf das Unbedeutende, Gemeine, ja Nichtswürdige angewendet, die Affektation mit den bloßen Flittern der Poesie, jene unmoralische innere Lüge, wie sie fast ein Menschen alter lang durch die Teegesellschaften und Leihbibliotheken ging und in den unerschöpflichen Romanen von Lafontaine das Land verwässerte, während sie in Tiedges Urania sogar vornehm wurde und den philosophischen Katheder bestieg.

Ohne Gefühl oder, wenn man es so nennen will: ohne Empfindsamkeit, gibt es freilich begreiflicherweise überhaupt keine Poesie, denn das dichterische Gefühl ist eben die potenzierte Fähigkeit, das Große, Wahre und Schöne zu empfinden. Das Gefühl allein ist indes hiernach nichts an sich, es lebt, wie eine biegsame Liane, nur mit und in seinem Objekt, von dem es erst seine Bedeutung und Weihe oder seine Lächerlichkeit empfängt. Gleich wie aber im Körper, wenn die natürliche Harmonie der einzelnen Organe gestört ist, sich oft die verkehrtesten Appetite und Gelüste selbständig hervortun, so ist auch die Sentimentalität nur eine Verstimmung und Krankheit der Poesie, indem sie, wie bei einer Straßburger Gans, das Gefühl auf Kosten der anderen Seelenkräfte einseitig und monströs auffüttert und herausbildet und, je nach der Verschiedenheit des Gegenstandes ihrer absonderlichen Liebhabereien, die verschiedensten Grade und Abarten aufweist.

Auch hier, wie fast überall, hat Goethe den rechten Mittelpunkt getroffen. Der Inhalt seines Werther ist nicht dies oder jenes zufällige Symptom, sondern der eigentliche Grund der ganzen Krankheit, eben jenes unordentliche Überfüttern des subjektiven Gefühls, des »wie ein krankes Kind gehaltenen Herzchens«, dem sich Liebe, Ehe, Tatenberuf und der ganze Weltgang als nichtig und völlig unberechtigt akkommodieren und beugen soll. Ja, Gott selbst soll den kranken Jüngling mit verhätscheln helfen und vom Christentum für ihn eine besondere Ausnahme machen, da nur die um den Sohn Gottes sein sollen, die der Vater ihm gegeben hat, »ihm aber sein Herz sagt, daß ihn der Vater für sich behalten wolle«. In diesem merkwürdigen Romane ist, wie nirgend sonst, der Kampf dieses krankhaften Gefühls mit der Wirklichkeit wie ein Prozeß meisterhaft und mit der klarsten Besonnenheit bis zu seinen äußersten Konsequenzen hindurchgeführt und schließt mit wahrhaft poetischer Gerechtigkeit, da der Held nicht an Lotte, nicht an »den fatalen bürgerlichen Verhältnissen«, sondern an der allgemeinen Unmöglichkeit der eingebildeten Alleinherrschaft des überhobenen Gefühls zuletzt durch unvermeidlichen Selbstmord zugrunde geht. – Der Siegwart von Martin Miller erscheint dagegen nur wie eine abgeblaßte Karikatur Werthers, indem er, anstatt einer wenngleich falschen Weltansicht, sich zahm und übergenügsam lediglich in das Schneckenhäuschen der Geschlechtsliebe zurückzieht, das er nun, mühsam und mit seinen Fühlhörnern fast blödsinnig umhertastend, durch mehrere Bände mit sich fortschleppen muß. Hier fängt die Krankheit gleich mit dem Tode an: der ganze Lebenslauf des Helden ist ein bloßes Verschmachten. Erst will er aus idyllischer Grille Mönch werden, da bringen ihn die Blicke seiner Marianne, die ihn im Konzert »bei einem Triller so schmachtend und bedenklich ansah, daß ihm die Tränen in die Augen schossen«, plötzlich auf Heiratsgedanken; dann wieder, da Marianne von ihrem barbarischen Vater in ein Kloster gesteckt wird, wendet er abermals sein Inwendiges um, wird nun wirklich Mönch, hängt ganze Stunden lang mit den Augen am stillen Mond und schreibt melancholische Episteln an Gott und seinen Engel Marianne, bis der verliebte Kapuziner endlich auf ihrem Grabe aus seinem langweiligen Dasein in das glückselige Land hinüberscheidet, »wo gekränkte Zärtlichkeit und Menschheit keine Tränen mehr vergießen«. Und das sollte ausdrücklich, dem selbstmörderischen Werther gegenüber, das Bild einer tugendhaften Liebe vorstellen! Uns aber kommt vielmehr der ganze Rührbrei mit seinem ewigen Mondschein, Tränenseufzern und Liebestrillern jetzt nur wie eine sehr ergötzliche Parodie der Sentimentalität vor, und die feierlichen Illustrationen Chodowieckis dazu, der dabei offenbar den Schalk im Nacken hatte, verstärken noch den komischen Eindruck.

Sehr berühmt und beliebt in dieser Mondscheinprovinz war auch der Schweizer Geßner. Rousseau war damals soeben mit seinem imaginären Heer von Wilden in die überbildete Sozietät eingebrochen und hatte durch seine angeblichen Urgefühle und Urtugenden allerdings die Sentimentalität bedeutend vorbereitet und vertieft. Der wohlgezogene Geßner suchte nun, bis zum »ersten Schiffer« und auf den »Tod Abel's« zurückgreifend, diese wilde Urwelt durch moderne Empfindsamkeit zu zähmen und anständig zu frisieren. Seine Idyllen haben daher durchaus etwas Theatralisches; die Dekorationen, wie sie ihm sein schönes Vaterland vormalte, sind zum Teil vortrefflich, wenn nur keine Menschen dabei wären und alles zu bloßer Komödie machten. – Diese Dekorationsmalerei ist später von Salis, Kosegarten und Matthisson als selbständiges Metier aufgenommen worden; von Salis am naturwahrsten; am pomphaftesten mit forcierten Knalleffekten und nicht ohne einiges verspätete Bardengebrüll dazwischen von Kosegarten, während der elegante Matthisson die Landschaft sauber kräuselt und mit antiken Tempelchen und melancholischen Burgruinen verschnörkelt, dann alles mit griechischem Lavendelwasser überwaschend und wieder retuschierend, bis am Ende nichts übrigbleibt als eitel Lüge. Unter ihnen ist ohne Zweifel Hölty der unschuldigste und liebenswürdigste, und dem edlen Ursprung der Sentimentalität am getreuesten geblieben. Seine Empfindung ist in dem kleinen Kreise, den sie umfaßt, durchaus wahr, seine Natur wirklich in stilles Abendrot versenkt, seine ganze Poesie eine wehmütige Todesahnung.

Aus diesem Naturkultus und jener fabelhaften Urwelt haben Voß und Lafontaine die Sentimentalität endlich in das Familienleben der Gegenwart eingeführt und glücklich unter Dach und Haube gebracht. In Voß' »Luise« hat sich die Heimatlose, der dünnen Mondscheinkost überdrüssig, bei den Fleischtöpfen der »wirtlichen Hausfrau« behaglich zur Ruhe gesetzt und lehrt in Schlafrock und Pantoffeln salbungsvoll die Philosophie des Philistertums. Bei Lafontaine dagegen wird die Werthersche Abgötterei mit dem kranken Herzchen weitläufig zu einer praktischen Religion ausgesponnen, die alle Sünde mit Tränen, nicht der Reue, sondern der gekränkten Weichlichkeit, rein wieder abwäscht. Ein oder zwei überaus zärtliche Liebespaare, ein polternder Bramarbas von Husarenobersten und Onkel, der betrogen, und ein kindischer Papa, der gerührt wird, bilden die stehende Mythologie dieser Romane, die längst vergessen sind, aber fast ein Menschenalter hindurch als Hauspostille in keiner Familie fehlen durften und das ohnedem konfuse Gewissen der Gebildeten noch unendlich konfuser machten.

Neben diesen Kohlgärten hatte indes das Gefühl, das Klopstock wieder geltend gemacht, sich andere, mächtigere Bahnen gebrochen. Die dadurch erhöhete Stimmung ernsterer Gemüter konnte unmöglich weder mit dem trockenen Buchstabenglauben der Orthodoxen noch mit der ordinären Freidenkerei Voltaires sich dauernd zufriedenstellen. Und so sehen wir den aus Klopstocks Schule hervorgegangenen Stolberg, nachdem er lange mit der Zeit und mit sich selbst gerungen, sich plötzlich und gänzlich von jenen Abgründen zurückwenden und mit einem in solchen Dingen allein entscheidenden Mute Freundschaft, häusliche Ruhe und Schriftstellerruhm an seine Überzeugung setzen. In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1819 an Fouqué über das »Kunstgeschwätz, welches in atheistischem Sinne dem Menschen einräumen will, was eine Gabe Gottes ist. Diese Schwätzer fühlen nicht, und können nicht fühlen, wie sehr sie den Menschen, das Göttliche in ihm verleugnend, erniedrigen. – Kraftvolle Darstellung wahrhaft adeliger, durch Religion geheiligter Gesinnung, in welcher Kraft von der Selbstverleugnung ausgeht und dann in Demut einhergehet, welche im Vertrauen auf Gott den höchsten Heroismus gibt, dessen bedarf es nur.« – Aber die gesteigerte Empfindsamkeit, unmittelbar auf die Religion bezogen, erzeugte zugleich auch einerseits die angespannte Verstiegenheit der seraphischen Odisten, die Klopstock noch überfliegen wollten und von dem himmlischen Konzert nur die Posaune kannten; und andrerseits den Pietismus, der nur eine anders formulierte Sentimentalität ist.

Weit über allen festen Boden hinaus erhob Lavatern ein mystisches Ahnungsvermögen und eine Glaubenskraft, die fast zur Leidenschaft wurde. Unmittelbare Gemeinschaft mit der Gottheit ersehnte er. »Meine Seele«, schreibt er 1777 an Gaßner, »dürstet nach einem lebendigen Zeugen des lebenden Jesus. Ich bedarf nichts wenigeres als einen unmittelbaren Jesus. Mit Wort und Schall kann ich mich nicht mehr begnügen.« Und dieser Gesinnung gemäß sagt er (Handbibliothek für Freunde, 1791): »Ich halte den konsequenten Katholiken für eines der verehrungswürdigsten und seligsten Produkte der Menschheit, für das wundervollste Wunder – könnt ich nicht mißverstanden werden, ich würde die Hyperbel wagen zu sagen, für einen anbetungswürdigen Anbeter. Welche Kraft und welche Demut, welche Erhöhung und welche Vernichtung seiner selbst vereinigen sich in ihm!« – Ebenso schrieb er an Stolberg: »Ich verehre die katholische Kirche als ein altes, reichbeschnörkeltes, majestätisches, gotisches Gebäude, das uralte, teure Urkunden bewahrt. Der Sturz dieses Gebäudes wurde der Sturz alles kirchlichen Christentums sein.«

Fragt man nun, warum denn ein solcher Mann, bei dieser Gesinnung und bei seiner redlichen und unerschrockenen Offenheit, nicht wirklich katholisch geworden, so antwortet er selbst darauf in seinem Briefe an Stolberg vom 5. April 1800: »aus Abscheu vor der Intoleranz und vor der anmaßenden Unfehlbarkeit der katholischen Kirche.« Allein diese rücksichtlich der Kirche von ihm offenbar mißverstandene Unfehlbarkeit hat er doch für seine eignen religiösen Meinungen unbedenklich und vielfach selbst in Anspruch genommen; denn »des Menschen Überzeugung ist sein Gott«, sagt er in demselben Briefe. Der Grund lag vielmehr ohne Zweifel tiefer, als er selbst es wußte. Die Idee eines leiblich gegenwärtigen Gottes war die Aufgabe seines Lebens und, da er sie nicht in der Kirche suchte, seine Krankheit. Es lag darin, daß er die von ihm so inbrünstig ersehnte fortwährende Offenbarung nicht, wie die Kirche in der Eucharistie, als eine allen Christen gemeinsame erfaßte, sondern in allen Lebensmomenten als ein spezielles Wunder an seiner Person allein erfahren wollte; eine Erwartung und Begierde, die gegen sein Lebensende immer ängstlicher und ungestümer wurde. Nicht ohne Grund vielleicht verglich daher sein Freund Cuningham diese stete Begier nach mehrerer Offenbarung mit Thomas' Zweifeln. – Und so wollen wir denn gern seine eigenen versöhnlichen Worte auf ihn selber anwenden: »Religion ist Gottes Verehrung nach dem Lichte, das jedem gegeben ist. Gott erntet nicht, wo er nicht gesäet hat, und sammelt nicht, wo er nicht hingelegt hat.«

Was Lavatern bedeutend macht, der heroische Glaube und die Idee einer ununterbrochenen göttlichen Offenbarung, sehen wir dagegen bei Jung-Stilling in extremer Einseitigkeit fast schon in Karikatur umschlagen. Sorglos studiert dieser in Straßburg fort, ohne zu wissen, wovon er morgen leben soll, denn Gott, weil er ihn darum gebeten, wird und muß ihm zur rechten Zeit weiterhelfen. Die flüchtige Äußerung eines ihm bis dahin beinah gänzlich unbekannten hysterischen Mädchens ist ihm eine göttliche Eingebung, und im Vertrauen darauf schließt er sofort mit ihr eine nachher gleichwohl übelgeratene Ehe. – Jener Offenbarungsglaube liegt nicht nur seiner Selbstbiographie (Heinrich Stilling's Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, 1778) zum Grunde, sondern wird auch in seinen Romanen (Theobald, Herr von Morgenthau etc.) in allen Verzweigungen mannigfach variiert. Wir sind weit davon entfernt, die göttliche Leitung jedes einzelnen und die Kraft des Gebetes zu bezweifeln. Aber wäre Gottes Hand so sichtbar, wäre sie außer dem Bereich des Gewissens und der von ihm eingesetzten Heilmittel der Kirche überall auch in weltlichen Dingen so unmittelbar stoßend, diktierend, so hätten wir eben keine Tugend mehr, sondern eitel Fatalismus. Und diesem Fatalismus verfiel allerdings auch Stilling eine Zeitlang. Selbst beim Beten, sagt er, habe ihm der Zweifel ins Ohr gelispelt: »Dein Beten hilft nicht; denn was beschlossen ist, geschieht.« Ebenso kann jener Glaube, da die göttliche Führung doch nur vermittelst unserer eigenen inneren Regungen, Wünsche und Stimmungen wirksam sein soll, menschlicherweise sehr leicht zur Selbsttäuschung oder zu einem geistlichen Hochmut führen, der sich in dieser unmittelbaren Familiarität für ein besonders auserlesenes Werkzeug Gottes hält; und es klingt wenigstens sehr bedenklich, wenn Stilling von einer frommen Gemeinde von »Stillingsfreunden« spricht oder uns erzählt, daß er und seine Frau zuweilen auf der Reise wie Engel Gottes aufgenommen worden und daß die Vorsehung etwas ganz Sonderbares und Großes mit ihm vorhaben müsse. – Nur wer durch vollkommene innere Heiligung seine Seele zum reinen Spiegel Gottes gemacht, mag ohne Täuschung darin lesen und Wunder erfahren, ja selber Wunder tun. Den Ernst dieser Bedingung und seine Ohnmacht, sie vollkommen zu erfüllen, fühlte der redliche Stilling in seinen stillsten Stunden gar wohl; daher oft seine tiefe Schwermut. »Wenn die Qual der Verdammten in der Hölle«, sagte er einst zu seiner Frau, »auch nicht größer ist als die meinige, so ist sie groß genug.« Und eben dieser durch sein ganzes Leben gehende Schmerz, der nur hohe Seelen heimsucht, macht seine Erscheinung so rührend und belehrend. Gleichwohl sind er und Lavater die unfreiwilligen Begründer jenes modernen exklusiven Pietismus geworden, der bis heut in seinen visionären Abirrungen sich als eine Mission Auserwählter geltend machen will.

Weit entfernt von dieser Unruhe, von diesem Schwanken zwischen Angst und maßlosem Vertrauen, ist Matthias Claudius, der wackere Wandsbecker Bote, der zwischen Diesseits und Jenseits unermüdlich auf und ab geht und von allem, was er dort erfahren, mit schlichten und treuen Worten fröhliche Botschaft bringt. Er gehört allerdings zu den Pietisten jener Zeit, insofern auch bei ihm ein starkgläubiges Gefühl den Kampf gegen Unglauben und toten Buchstabenglauben aufgenommen, aber er ist durchaus heiter und erscheint unter ihnen wie einer, der gefunden hat, was jene so rastlos suchen. Wie der Abendglockenklang in einer stillen Sommerlandschaft, wenn die Ährenfelder sich leise vor dem Unsichtbaren neigen, weckt er überall ein wunderbares Heimweh, weiß aber mit seinen klaren Hindeutungen dieses Sehnen, wie schön oder vornehm es in Natur oder Kunst sich auch kundgeben mag, von dem Ersehnten gar wohl zu unterscheiden. Denn »der Mensch«, sagt er, »trägt in seiner Brust den Keim der Vollkommenheit und findet außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Konterfeis in dem sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach und hängt sich so freudig und begierig an sie, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können, wenn sie getroffen sind, sehr angenehm täuschen und überraschen, aber nimmermehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Leben – und das kann niemand geben, als der es hat.«

Man sieht, der Hergang dieser geistigen Bewegungen ist ein natürlich historischer. Die Achtung vor dem Alten war vernichtet, und das Neue befriedigte nicht; so entstand, in der Schwebe zwischen beiden, bei der Majorität die Gleichgültigkeit, der Indifferentismus. Die noch übrigen religiösen Gemüter machten daher Reaktion: es kam der Pietismus, d.i. die Revolution des Gefühls gegen den Verstand. Allein das Gefühl ist auch nur ein Faktor des religiösen Glaubens, und sie hatten demnach nur eine Einseitigkeit statt der anderen. Der Pietismus setzt das Positive, die göttliche Offenbarung, aus der Kirche in die Menschenbrust; jeder soll seine eigene Offenbarung, gleichsam sich selber Kirche sein. Und da das Gefühl an sich flexibler und ausschweifender ist als der Verstand, so hat der Pietismus die unsinnigsten und frevelhaftesten Sekten und namentlich in der Poesie, in deren Gebiet er, seiner Natur nach, stets unverständig hinüberspielt, einerseits die pantheistischen Dithyramben, andrerseits die schafmäßigen Liebesseufzer vom Lämmlein Jesulein ausgeboren. Dieser Pietismus ist den Katholiken ganz fremd, ja unmöglich; er ist von spezifisch protestantischem Charakter und, da die Extreme immer nur wieder die entgegengesetzten Extreme provozieren, wohl am wenigsten geeignet, wie manche noch immer sanguinisch hoffen, jemals eine wahrhafte Versöhnung der Konfessionen herbeizuführen.


Letzte Änderung der Seite: 27. 09. 2021 - 03:09