Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poseie der Reformation Teil 2

Diese Richtung drängte vielmehr notwendig vom Epos zum modernen Roman; und zwar durch die Wichtigkeit, die sie der Subjektivität eingeräumt, sowie durch die Herrschaft, die sie demzufolge dem Verstande zuteilen mußte. Beides aber widersprach der Natur des Epos. Das Epos ist der Mensch in der Welt, der Roman die Welt im Menschen. Dort verschwindet das Subjektive in dem großen Strom des Weltganges, der, weil er im Zweck und Ursprung unerforschlich, nur durch die Phantasie gleichsam divinatorisch aufzufassen ist. Im Roman dagegen ist nicht das Faktische, nicht die plastische Gewalt der Handlungen, sondern deren Motiv der eigentliche Gegenstand der Darstellung. Die pragmatische Motivierung aber, diese Naturgeschichte des inneren Menschen, ist wesentlich Sache des Verstandes, und der Verstand, da es ihm weniger um die Schönheit als um Deutlichkeit und Klarheit zu tun ist, wählt sich überall die freieste Form des Ausdrucks: die Prosa. Der Roman ist daher die Poesie des Verstandes in ungebundener Rede.

Hiernach können jedoch die sogenannten Ritter-und Volksromane, obgleich sie die alten Heldengedichte auch bereits in Prosa aufgelöst hatten, noch keineswegs zu den eigentlichen Romanen gezählt werden. Sie adoptierten die Prosa nicht aus innerem Bedürfnis, sondern aus leidiger Not, weil die Lesewelt für den Vers schon zu flügellahm geworden war. In ihnen ist noch gewaltiger Stoff, und nichts als Stoff. Die Phantasie, wenngleich schon bedeutend abgeschwächt, hat noch immer die Alleinherrschaft, ihre Helden stürmen noch immer von Tat zu Tat, von Abenteuer zu Abenteuer, während der spätere Romanheld sich passiv in sich selbst zurückzieht, retardierend, reflektierend, exponierend und räsonierend, eine Art von Maulheld, der nicht die Ereignisse macht, sondern von den Ereignissen gemacht wird. Es handelt sich hier nicht mehr um ein großes objektives Weltbild, sondern um ein subjektives Seelengemälde.

Von diesem seinem Ziele ist indes der Roman der Periode, in welche wir hier eingetreten sind, noch weit entfernt. Der regierende Verstand stand soeben noch in der derbsten Blüte seiner Lümmeljahre, er hatte die Poesie, wie andere unnütze Dinge, prüfend in ihre Elemente zerlegt, und nun wollten die auseinandergefallenen Glieder nicht wieder zusammenpassen. Da schloß er aus Abscheu vor der gemeinen Volksphantasie, die, ihn beständig in seinem mühsamsten Kalkül störend, dazwischenfuhr, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der ebenbürtigen Gelehrsamkeit. Und so erzeugten die beiden, wie bei der ersten Erdformation der Urwelt, jene mißgeschaffenen Ungeheuer von Romanen, wahre Mammuts und Mastodone, deren ungestalte Riesenleiber Gras und Blumen des Parnasses zertrampelten und sich Holz und Rinde ungeschlacht zum Fraße brachen.

Dies begab sich aber, bei der deutschen Gelehrtengründlichkeit, nicht ohne vorherigen Anlauf weitläufiger Vorstudien. Der unfruchtbare Verstand, da er sich der erfinderischen Phantasie vornehm entschlagen hatte, mußte nun erst beim Auslande in die Schule gehen und sich anfangs mit bloßen Übersetzungen begnügen. Unter diesem aus der Fremde herbeigeholten Sukkurs zeichnet sich besonders der berühmte Amadis von Gallien aus, ein Held zweifelhafter, wahrscheinlich ursprünglich portugiesischer Herkunft, der aber zunächst über Frankreich zu uns gekommen. Er tiostiert noch frisch und keck genug durch ganz Europa, gleichsam zum letzten Scheidegruß des alten Rittertums, hat sich indes auf seiner Fahrt doch schon manches Neue abgesehen. Unter seiner Pickelhaube macht sich bereits ein leiser Ansatz zum künftigen Haarbeutel bemerkbar; ja, seine funkelnde Pickelhaube selbst gemahnt uns nicht selten an Don Quichottes Barbierbecken, das bekanntlich Mambrins Helm vorstellen soll.

Endlich aber faßten sich denn doch die Gelehrten ein Herz und brachen massenhaft und unter nicht geringem Lärm mit  ihren Liebes- und Heldengeschichten aus den Studierstuben in die erstaunte Welt hervor. Alle diese Helden- oder Wundergeschichten, wie sie gleichfalls genannt werden, lassen sich trotz der Feindschaft und Gehässigkeit, womit sie zum Teil selbst untereinander hadern und streiten, dennoch an einigen allen gemeinschaftlichen Familienzügen leicht als eine Sippschaft erkennen. Was uns zunächst fast schreckhaft an ihnen auffällt, ist ihre monströse Unförmlichkeit, eine elementarische Konfusion aller möglichen und unmöglichen Dichtungsarten, die hier chaotisch nebeneinander liegen und kaum noch den Versuch machen, sich zu einem organischen Ganzen zu gestalten. Da sind mitten in die episch sein sollende prosaische Erzählung lange Reimereien, einzelne Lieder, zierliche Schäferspiele, ja ganze Dramen eingeschoben, und zwischendurch, um die Verwirrung vollkommen zu machen, laufen noch sogenannte »Nebengeschichten«, die mit der Hauptsache gar nichts zu schaffen haben und einen am Ende völlig unentwirrbaren Knäuel von Verwicklungen bilden. Kein Wunder daher, daß fast jeder dieser Romane mehrere Foliobände füllt, wie denn z.B. die »Aramena« des Herzogs Ulrich von Braunschweig nicht weniger als 6822 Seiten enthält.

Noch widerlicher aber berührt uns die allgemeine Herabstimmung des Lebens, die sich hier kundgibt. Die frische, kühne, wildfreie Waldeinsamkeit erscheint jetzt als ein französischer Lustgarten mit verschnittenen Bäumen, bunten Scherbenbeeten und geradlinigen Alleen; die ungezogenen Gebirgsquellen sind eingefangen, um unten als Fontänen artige Kunststücke zu machen, die Berg- und Waldgeister haben sich in bleiche stumme Statuen heidnischer Götter und Allegorien, die ganze Natur in einen großen Konversationssaal verwandelt. Aus den Rittern aber sind schnöde Kavaliere und Kammerherren, aus den alten Heldentaten und Abenteuern adelige Spazierfahrten und Hoffeste geworden. So wird von Jos. Ulr. König in seinem »August im Lager« eine ordinäre Heerschau allen Ernstes als hochwichtiger Heroismus gefeiert, wo unter anderen Allegorien auch die Eintracht erscheint, »das silberhelle Haar hinterwärts von einem Band umwunden und unausreißlich fest in einen Zopf gebunden«.

Hiernach ist denn auch die Liebe, da sie, wie beim Verfall des Minnegesanges, rein konventionell geworden, hier nur noch als eine einmal hergebrachte Arabeske und Einrahmung des eigentlichen Textes verwendet; und was für eine Liebe! In der »Asiatischen Banise« von Zigler z.B. haranguiert eine liebende Prinzessin, mit einem Dolche in der Hand, den sie verschmähenden königlichen Liebhaber folgendermaßen: »So schaue demnach, unbarmherziger Tyranne, wie dieses verspritzte Blut auf ewig um Rache wider dich schreien und dein unempfindliches Herze Tag und Nacht vor den Göttern verklagen soll. Rühme dich nicht, diamantene Seele! daß dich deine Prinzessin bis in den Tod geliebet und um dieser Liebe willen ihre Brust durchbohret habe, denn dieser Stich wird mir durchs Herze, dir aber durch die Seele dringen, mir kurze Schmerzen und dir ewige Qual verschaffen: weil dich mein blutiger Geist auch bis ans Ende der Welt verfolgen, stündlich vor deinen Augen schweben und dir deine Grausamkeit vorrücken soll!« In solcher konvulsivischen Erhitzung suchte jetzt die Liebe, weil nicht mehr empfunden und durchaus unwahr, sich überall selbst zu überbieten; einem Furchtsamen vergleichbar, der seinen defekten Mut durch furchtbares Bramarbasieren zu verdecken und zu ersetzen meint. – Außer dieser gemeinsamen Physiognomie aber hat diese Literatur noch einen ganz allgemeinen Grundtypus: Das ist ihre unerhörte Langweiligkeit.

Wie verbreitet übrigens dieselbe gewesen, mag man schon daraus abnehmen, daß der Magister Schwab in Leipzig noch zu Gottscheds Zeiten allein aus dem 17. Jahrhundert über anderthalbtausend solcher deutscher Romane besaß. Es ist bei so immenser Fabrikation daher natürlich, daß sie, trotz aller Familienähnlichkeit, sich mehr oder minder in die Arbeit teilen mußten; und so wollen wir denn versuchen, sie nach ihrer speziellen Hantierung wenigstens in einige Hauptgruppen zu sondern.

Die bei weitem zahlreichste Klasse ist die der eigentlich Gelehrten, denen es lediglich um eine breite Schaustellung ihrer Gelehrsamkeit zu tun ist, wo alle erdenklichen Artikel des Wissens, nur leider eben die Poesie nicht, unter der Firma irgendeines gleichgültigen Liebespaares mit großer Prätention und Selbstschätzung an die lernbegierige Lesewelt ausgeboten werden. Man könnte ihre Romane poetische, gewissermaßen toll gewordene Realenzyklopädien nennen. Zierlicher nennt sie Birken in seiner Vorrede zur Aramena: »Gärten, in denen auf den Geschichtsstämmen die Früchte der Staats- und Tugendlehre mitten unter Blumenbeeten angenehmer Gedichte herfürwachsen und zeitigen«; und Lohenstein sagt: »die Weisheit und ernste Wissenschaft müssen der Grund, jenes (das Dichten) der Ausputz sein, wenn ein gelehrter Mann einer korinthischen Säule gleichen soll.« – Solcher korinthischen Säulen aber gab es hier vorzüglich drei: Zesen, Zigler und Lohenstein selbst.

Philipp von Zesen benutzt in seiner »Assenat« beiläufig die magere Geschichte des Patriarchen Joseph, um uns in kurzhüpfenden Sätzen und langatmigen Anmerkungen über das Staatsregiment und den Hofprunk Ägyptens aufzuklären. Er verwahrt sich daher auch ausdrücklich gegen jeden Verdacht etwaiger Erfindung und nennt selbstzufrieden seinen Roman eine Staats– und Liebesgeschichte. Dabei hat er eine solche Freude darüber, etwas Originaldeutsches zu schreiben, »worin auch eine liebliche Ernsthaftigkeit gemischet wäre«, daß er in der Hitze seines puristischen Patriotismus flink alle Fremdwörter verdeutscht und dadurch eine wunderliche Abenteuerlichkeit der Sprache zutage fördert, die in der Tat höchst ergötzlich und jetzt wohl nur noch das einzige Genießbare an dem dickleibigen Buche ist. – Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen (1663–1697) dagegen hat sich insbesondere auf das Ethnographische gelegt. In seiner berühmten »asiatischen Banise, oder blutiges, doch mutiges Pegu, in historischer und mit dem Mantel einer Helden- und Liebesgeschichte bedeckten Wahrheit beruhend« schildert er uns die Sitten und Gebräuche eines barbarischen Volks und beginnt den Roman fürchterlich genug mit: »Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des Himmels, zerschmettere die Pracht deiner mit Gold bedeckten Türme, und die Rache der Götter verzehre alle Besitzer der Stadt, welche den Untergang des königlichen Hauses befördert oder solchen nicht nach äußerstem Vermögen auch mit Daransetzung ihres Blutes gebührend verhindert haben. Wollten die Götter, es könnten meine Augen zu donnerschwangeren Wolken und diese meine Tränen zu grausamen Sündfluten werden: ich wollte mit tausend Keilen als ein Feuerwerk rechtmäßigen Zornes nach dem Herzen des vermaledeiten Bluthundes werfen und dessen gewiß nicht verfehlen; ja es sollte alsobald dieser Tyrann samt seinem götter-und menschenverhaßten Anhange überschwemmt und hingerissen werden, daß nichts als ein verächtliches Andenken überbliebe!« – Doch Daniel Caspar von Lohenstein überbot sie alle, indem er in seinem »großmütigen Feldherrn Arminius nebst seiner durchlauchtigen Thusnelda« (1689) endlich alles, was damals die Gelehrten wußten oder zu wissen sich einbildeten, Geographie, Völker- und Länderkunde, Astrologie und Geschichte unausreißlich fest in einen ungeheueren Zopf zusammengebunden, der für jeden Kopf paßte und daher auch in der Tat eine geraume Zeit lang in die Mode kam.

Eine zweite, der vorigen nah verwandte Gruppe bilden die Rätselromane, riesenhafte Geschichtsscharaden, deren politische Nüsse, je härter sie zu knacken, nur um so willkommener und angesehener waren. Sie sind ganz besonders bezeichnend für ihre Zeit. Das invalide Rittertum hatte sich bei den Höfen in Pension gegeben, welche nun ihrerseits das Rittertum vorstellen sollten, und die Höfe, da ihnen der auf das Christentum gebaute Staatsorganismus abhanden gekommen, hatten dafür ihre Sache auf eine Kabinettsweisheit gestellt, die nicht durch die Treue, sondern durch die Überlistung und Schwäche der andern stark werden wollte; ein überkünstliches Gewebe von Halblügen, Schlauheiten und Täuschungen, das sie prächtig: ratio status nannten. Und eben dies ist der Gegenstand dieser Rätselromane. Sie handeln mit unendlicher Wichtigtuerei von den geheimen Hofintrigen, und wie der ratio status reden sie von dem und jenem und meinen etwas ganz anderes. So erzählt uns Dietrich von dem Werder in seiner »Diana« (1644) eine Menge Liebeshistorien von Dinanderfo, Lodafo, Lastevin usw., und versteht darunter die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und seiner Helden; weshalb denn damals rühmend gesagt wurde, daß man diesen Roman »zum ersten Male der Fabel wegen, das erste- bis drittemal der Reden und Sachen und das viertemal der politischen Weisheit und verdeckten Geschichte wegen lesen müsse«. – Der Meister dieses Versteckspiels aber war der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig.Sämtliche Prinzessinen seines Romans »Der durchlauchtigen Syrerin Aramena Liebesgeschichte« sind Allegorien von Ländern, Künsten und Ereignissen seiner Zeit; und in seiner »Octavia« bildet die Erzählung der römischen Geschichte von Claudius bis Vespasian nur den Rahmen für achtundvierzig Episoden, worin ebenso viele Begebenheiten und Zustände der damaligen Höfe rätselhaft angedeutet werden. Diese verhüllten Hofrätsel sind nicht mehr zu lösen, denn jene Zustände sind, wie das Buch, längst vergessen. Dauernder aber ist das Andenken des Verfassers selbst, der ein tätiges und segenreiches Regentenleben mit seiner Rückkehr zur Kirche würdig beschloß.

Das alte Heldengedicht, oder wenn man es so nennen will: der Ritterroman, beruhte, wie wir oben gesehen, wesentlich auf der Kirche, ihrer Verherrlichung und Verteidigung. Nachdem aber die Reformation die alte Kirche erschüttert und in eine bloße praktische Erbauungsanstalt eingerichtet hatte, sind auch in der Poesie sofort an die Stelle der Mystiker die Moralisten eingerückt. Unter ihnen hat besonders der braunschweigische Superintendent Andreas Heinrich Buchholz sich hervorgetan. Seine beiden Romane: »Herkules und Herkuladisla« sowie: »des christlich deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Walisca Wundergeschichte« (1659), in welchem letzteren die Bekehrung zum Christentum geschildert wird, haben dreierlei höchst löbliche Zwecke. Der wohlgesinnte Superintendent will nämlich zeigen, »daß die Deutschen nicht lauter wilde Säue und Bären sind«; er will ferner die beliebten Ungeheuerlichkeiten des Amadis, »die Amadisschützen«, aus dem Felde schlagen; und endlich dartun, wie die Gottesfurcht der eigentliche Mittelpunkt aller Tapferkeit und Liebe sei. Allein es ist ihm schlecht geglückt. Seine deutschen Großfürsten sind immer noch ganz waidliche Bären geblieben; auf seinem Feldzuge gegen Amadis ficht er gegen die altritterlichen Wunder mit ebenso ungeheuerlichen Wunderlichkeiten: Entführungen, Weltschlachten, Errettungen usw.; und die Gottesfurcht seiner Helden hat, trotz der zahllos eingemischten geistlichen Lieder und Gebete, etwas so trocken Schulmeisterliches, daß man an ihre Frömmigkeit sowie an ihre Tapferkeit oder Liebe nicht im mindesten glauben kann.

Einigermaßen glücklicher waren die Naturalistenin ihrem Kampfe gegen den vornehm künstlichen und bombastischen Schwulst des Arminius Lohenstein und seiner Genossen und Nachfolger, indem sie einfach der betrunkenen Anspannung eine nüchterne Abspannung entgegensetzten. Es scheint auf den ersten Blick nichts leichter, als das an sich Verkehrte über den Haufen zu werfen, wenn man die zähe Macht der Gewohnheit und der Gelehrtenprätention, welche jederzeit der Menge imponiert, nicht mit in Anschlag bringt. Jedenfalls aber ist dabei mit dem bloßen Gegensatze wenig geholfen; man muß entweder das Nichtsnutzige unwiderstehlich totlachen oder, was freilich wirksamer und schwieriger ist, Besseres bieten. Beides war indes hier keineswegs der Fall. Christian Weise (1642–1708) sucht ganz ernst und ehrbar »die Sachen also vorzubringen, wie sie naturell und ungezwungen sind«, und lenkt daher in seinen Romanen (die drei klügsten Leute; die drei ärgsten Erznarren; der politische Näscher) von der modischen Verstiegenheit kopfüber ins Wirkliche, Gewöhnliche, ja Gemeine hinab, so daß Leibniz mit vollem Recht von ihm sagt: »daß er etwas schmutzig zu reden kein Bedenken trage.« Mit solcherlei Natürlichkeit war aber der Poesie ebensowenig gedient als mit der Unnatur Lohensteins. Und ebenso »naturell« und unwirksam ist auch die Religionsansicht, womit er überall das Gemeine würdig auszustatten sich bemüht. Einen Vorschmack davon gibt schon der ganz praktische Zweck, den er in seinen »notwendigen Gedanken der grünenden Jugend« der Poesie setzt, indem er dort sagt: »sofern ein junger Mensch zu etwas Rechtschaffenes will angewiesen werden, daß er hernach mit Ehren sich in der Welt kann sehen lassen, der muß etliche Nebenstunden mit Versschreiben zubringen.« Dieser gar nicht jugendlich grünende Gedanke ins Religiöse übersetzt, will eben nichts anderes sagen, als: kümmere dich nicht sonderlich um alles Höhere, sondern sei nur hübsch artig und fromm, damit es dir wohlgehe auf Erden; denn die Vernunft lehrt: »Nichts ist gut, was nicht einen guten Ausgang hat.« Ein Grundsatz, den uns Weises Romane in dem Charakter des sogenannten Curiosus eindringlichst predigen, und der von seinen zahllosen Nachahmern, z.B. in Riemers politischem Stockfisch, politischem Maulaffen usw., des breiteren ausgeführt wird. Also bildet sich schon damals die knollige Wurzel jener selbstsüchtigen Genußreligion und praktischen Lebensphilosophie, welche späterhin zur Weltherrschaft gelangen sollte.

Zu den Naturalisten, wenngleich in einem etwas umfassenderen Sinne, muß auch noch eine andere sehr zahlreiche Gruppe, die der Robinsonaden, Schäfer-und Schelmenromane, gerechnet werden. Der Faden der Tradition konnte unmöglich in der Religion abgerissen werden, ohne zugleich auch in dem ganzen darauf basierten Leben eine störende Lücke zu hinterlassen. Um sie auszufüllen, versuchte man daher, unter Beseitigung aller Überlieferung und Erbschaft der vergangenen Jahrhunderte, ein völlig neues Dasein willkürlich zu improvisieren, und griff, wie im Glauben auf ein vermeintliches Urchristentum, hier auf einen sogenannten Naturzustand der Menschheit zurück. Allerdings war das damalige hochfrisierte Leben unpoetisch und närrisch genug. Der sogenannte galante Roman, z.B. v. Winklers »Edelmann«, August v. Bohses »hoher Personen unterschiedliche Liebesgeschichten« und »Liebeskabinett für Damen« und vor allen: »Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier« geben uns ein getreues Bild dieser zum Teil schon durch die Büchertitel angedeuteten Seltsamkeiten. Man mußte sich also wohl endlich aus dem konventionellen Zwange in die Freiheit hinaussehnen, und wäre es auch nur die momentane Täuschung einer Maskenfreiheit gewesen. Und eine solche Maskerade der vornehmen Sozietät war in der Tat der aus jenem Gefühl und Bedürfnis entstandene Schäferroman: eine imaginäre Welt, wo der galante Kavalier aus Langerweile zur Abwechslung einmal unter die Hirten flöten ging; es war eben nur ein anders gewickelter Zopf, eine Unnatur gegen die andre.

Gründlicher gingen in dieser Richtung die Robinsonaden zu Werke, indem sie nicht bloß das Kostüm wechselten, sondern wirklich ein Leben ohne Herkommen, Kultur und Gesetz herzustellen suchten. Ihr Urahn, der schon 1721 ins Deutsche übersetzte Robinson Crusoe des Engländers Daniel Defoe, tat es lediglich aus Not, sein einsames Naturleben ist daher noch vollkommen berechtigt und oft von rührender Schönheit. Seine zahllosen Nachkommen dagegen, der deutsche, italienische, sächsische, fränkische, westfälische, schlesische, geistliche, medizinische, moralische, unsichtbare Robinson usw., haben in ihrer abgeschmackten Abenteuerlichkeit schon etwas durchaus Willkürliches und die Prätention, aus der Not eine Tugend machen zu wollen. Eine ganze Kolonie von Robinsonen finden wir endlich auf der »Insel Felsenburg«, einem zu seiner Zeit sehr beliebten Romane von Schnabel, wo Seefahrer der verschiedensten Nationalitäten und Physiognomien unter ihrem »Altvater« auf eigene Hand einen Staat ohne Staat und eine Religion ohne Kirche gründen. Aber es gelingt nicht sonderlich; das Ganze kränkelt an weiter Gewissensfreiheit, gelegentliche Seeräubereien und Entführungen sind ihre Heldentaten, und das bißchen Frömmigkeit hat eine protestantisch abgeblaßte Färbung, die oft schon an den späteren Pietismus erinnert.

Man sieht, von diesen schiffbrüchigen Abenteurern bedarf es nur noch einer kleinen Schwenkung zu den eigentlichen  Schelmen. Man könnte jene Robinsonaden, da sie doch mehr oder minder einen angeblich besseren Naturzustand anstreben, immerhin noch die Idealisten, die Schelmenromane dagegen Realisten nennen, indem die letzteren die alte Aventüre gerade zu in die gemeine Wirklichkeit verpflanzen. Sie wollen nicht, wie die Robinsonaden, reformieren und anstatt der überlieferten langweiligen und unnatürlichen Sozietät etwas vermeintlich Höheres geben; sie setzen vielmehr keck die offenbare Anarchie entgegen und sind daher mit Zivilisation, Ehre, Sitte, Staat und Kirche in einem fortwährenden Krieg auf Tod und Leben begriffen. Sie repräsentieren auf eine bitterwahre, aber oft höchst ergötzliche Weise das gefallene, entadelte Rittertum, die aus dem Stegreif lebende Raubritterschaft der niederen Volksschicht. Ihr eigentümlicher Reiz liegt in dem poetischen Hauche, welcher die Freiheit selbst in ihrem extremen Mißbrauch noch begleitet.

Es ist begreiflich, diese allgemeine Herabstimmung mußte edlere Gemüter mit Zorn und Schmerz erfüllen und somit eine bisher größtenteils noch schlummernde Seelenkraft, den Humor, gewaltsam herausfordern. Gervinus nennt den Humor eine Krankheit des Geistes und Gemütes, die das Unerträgliche sich erträglich zu machen suche, wo einem Individuum oder Volke die Fähigkeit oder Möglichkeit gebricht, gesund und resolut im Glauben und in der Poesie zu leben. Und in der Tat, grade dies war jetzt der Fall, die durch die Reformation hervorgerufenen schwankenden Zustände waren die Krankheit, deren poetisches Symptom die Humoristik ist. Denn der Humor ist eben nichts anderes als der Konflikt der höheren menschlichen Anlage mit der jämmerlichen Gegenwart und Wirklichkeit, gleich wie Stein und Stahl in ihrem Zusammenstoße Funken geben, die oft das Nächste und Gewöhnlichste unerwartet scharf und seltsam beleuchten. Er hat daher in seinem Grundwesen etwas durchaus Tragisches, von dem er sich nur dadurch unterscheidet, daß er gegen das Unerträgliche nicht unmittelbar ankämpft, vielmehr von dem buntverworrenen Lebensteppich mit keckem Wurfe nur die fadenscheinige Kehrseite aufdeckt und so den falschen Glanz durch sich selbst vernichtet; sein Organ ist nicht das Pathos, sondern die Ironie und der Witz. Und eben dieser individuelle Tiefblick, der stets vom Besonderen auf das Allgemeine, von der zufälligen Erscheinung auf deren verhüllten Urgrund dringt und mit seinen raschen Streiflichtern häufig das Abgebrochene und Sprunghafte der Lyrik annimmt, unterscheidet den Humor auch von der ganz äußerlichen Parodie und Satire. Oder wer möchte wohl Cervantes' Don Quichotte, diese große Tragödie des Rittertums, oder die Witzgefechte der weisen Narren Shakespeares Satire nennen? – Wir finden zwar, unter ähnlichen Verhältnissen und aus demselben Gefühle des Konflikts, schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival einige humoristische Züge; aber erst unmittelbar nach der Reformation blitzen die blanken Geschosse, bei Sebastian Brant, Fischart u.a., immer dichter und deutlicher auf, bis endlich dieser oppositionelle Geist, mit dem fortwährend wachsenden Gegensatze von Ideal und Wirklichkeit, in künstlerischem Selbstbewußtsein völlig herrschend wird und in allen möglichen Abstufungen und Schattierungen den eigentlichen Inhalt unseres modernen Romanes bildet.

Und diese Wahrnehmung führt uns hier auf den einzigen wahrhaften und großartigen Roman jener Zeit; auf den »abenteuerlichen Simplicissimus« von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, oder German Schleifheim von Sulsfort, auch Samuel Greifensonn von Hirschfeld, wie er sich abwechselnd annagrammatisch in seinen Werken genannt hat. Dieser im Jahre 1669 erschienene Roman hätte, der Zeitfolge nach, allerdings schon früher erwähnt werden sollen, ja, er gehört überhaupt nur insofern dem gegenwärtigen Abschnitte an, als er, wenngleich nicht als ein Werk der Reformation, doch nur in Folge der Reformation und in genauem Zusammenhange mit derselben ins Leben treten konnte. Wir stellen ihn aber absichtlich an den Schluß dieser Romanenschau, weil er fast alle vorbezeichneten Gruppen humoristisch in sich umfaßt und eben durch diese Humoristik die eigentliche Brücke vom Mittelalter zum modernen Romane darstellt.

Wie im Don Quichotte ist es auch hier das scheidende Rittertum, das furchtbare Epos des Dreißigjährigen Krieges, das in seinen geistigen Hauptmomenten, gleichsam als ein vom anbrechenden Morgen überraschtes verspätetes Gespenst, an uns vorübergeht; hier wie dort, nicht elegisch klagend, sondern in der scharfen Beleuchtung einer alles durchdringenden humoristischen Weltansicht. Gleich zum Anfang weht uns, wie ein Abschiedsgruß der alten Zeit, der Waldeshauch des Spessart an; aber mitten aus dieser mit tiefem Naturgefühl geschilderten Waldidylle streckt uns auch schon überall die Verwilderung der bäuerischen Knollfinken ihre tölpelhaften Bärentatzen entgegen. Ein wahrer Triumph des überlegenen Witzes ist es, wie Simplex nun, aus jener Waldeinsamkeit in die Welt gestoßen, als Page des Kommandanten von Hanau in verstellter Narrheit die Verbildung der Vornehmen narrt, die ihn zu narren meint; oder wie er später, durch unverhoffte Glücksfälle reich geworden, selbst gar possierlich den galanten Freiherrn spielt, dessen Wappen ein Kopf mit Hasenohren und Schellen ist. Die politische und religiöse Weisheit jener Zeit wird durch einen wirklichen Narren vertreten, der sich für Jupiter hält, ein deutsches Weltreich ohne Fürsten und Abgaben, eine geläuterte Universalreligion ohne Kirche gründen und alle, die dawider glauben, mit Schwefel und Pech martyrisieren will. Dem Einsiedlertum, das damals häufig nur noch als ein löbliches Handwerk betrieben wurde, ist bei aller schuldigen Ehrfurcht überall etwas langbärtig »Antiquitätisches« beigegeben; und von der Konfusion der sich kreuzenden Religionsparteien sagt Simplex: »Zu welchem Teil soll ich mich dann tun, wann ja eins das andere ausschreiet, es sei kein gut Haar an ihm. Sollte mir wohl jemand raten, hineinzuplumpen wie die Fliegen in einen heißen Brei? Es muß unumgänglich eine Religion recht haben und die andern beide unrecht; sollte ich mich nun zu einer ohne reiflichen Vorbedacht bekennen, so könnte ich eben so bald eine unrechte als die rechte erwischen, so mich hernach in Ewigkeit reuen würde.« Aber er wählte doch und wurde katholisch. Und so kommt denn der ehrliche Simplex, nachdem er durch alle Wandelungen der wilden Zeit frisch und keck sich hindurchgeschlagen, zu der Überzeugung, daß im Leben nichts beständig als die Unbeständigkeit, und kehrt endlich selbst als Einsiedler in die Waldesstille wieder zurück, von der er ausgegangen.

Aus dem reichen Personal des Simplicissimus hob Grimmelshausen späterhin noch einzelne Gestalten selbständig hervor und verarbeitete sie zu besonderen höchst ergötzlichen Novellen, in denen gelegentlich die Treuherzigkeit des Simplex selbst ironisiert wird. So den »seltsamen Springinsfeld, einen weiland frischen, wohlversuchten und tapferen Soldaten und nachmalen ausgemergelten, abgelebten, doch dabei sehr verschlagenen Landstörzer und Bettler«, ferner »die Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage, wie sie anfangs eine Rittmeisterin, hernach eine Hauptmännin, ferner eine Lieutenantin, bald eine Marketenderin, Musketiererin und letztlich eine Zigeunerin abgeben«; und endlich in seinem »wunderbarlichen Simplicianischen Vogelnest«, einen Vagabonden, welcher durch ein Vogelnest sich unsichtbar macht und aus diesem Versteck, gleich dem Studenten im »hinkenden Teufel«, die Sünden und Torheiten seiner Zeit belauert. Leider wollte indes der Dichter anderweit der Welt zeigen, daß er nicht bloß volkstümlich, sondern auch gelehrt sein könne wie andere. Er hat daher auch noch einige Romane im damaligen vornehmen Modetone geschrieben: »Proximus und Lympida«, »Dietwalt und Amelinde«, und »der keusche Joseph samt seinem Diener Musai«; und das alles hat er allerdings ebenso gut wie die Gelehrten, d.h. sehr schlecht und langweilig gemacht.


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