Vor dem Vesperbilde

von Luise Hensel

Seh' ich dir im Schoß die bleiche
Blutgefärbte Gottesleiche
Mit den Wunden ohne Zahl,
Wag' ich nicht, den Blick zu heben,
Muß in tiefer Brust erbeben,
Fühle Scham und Reuequal.

     Denn ich bin's, die ihn geschlagen,
Bin der Grund von deinen Klagen,
Von der namenlosen Qual,
Die dein reines Auge rötet;
Denn ich habe ihn getötet –
Weh! mit Sünden ohne Zahl!

     Schmerzensmutter! Reine! Milde!
Ja, ich will vor deinem Bilde
Laut bekennen den Verrat.
Wollt' ich meine Schuld verschweigen,
Müßten selbst die Steine zeugen
Wider meine Missetat.

     Wisse. dreiunddreißig Jahre
Liebte mich der Wunderbare,
Er, dein Sohn und Gottes Sohn;
Hat um mich gedient, gelitten,
Wider meinen Feind gestritten,
Und – mein Undank war sein Lohn.

     O, wie hat er treu geliebet!
Hat sich in den Tod betrübet,
Weil ich Liebe ihm versagt!
Ist in bittrer Schmach gestorben,
Hat mit Blut um mich geworben,
Ach, um mich, die ärmste Magd. –

     Doch fortan nun dir zu Fügen
Will ich mit dir weinen, büßen,
Daß ich dir erschlug den Sohn.
Woll'st, o Milde! für mich flehen,
Daß gesühnt ich möge stehen
Selig einst vor seinem Thron.

Wiedenbrück, 1859

Letzte Änderung der Seite: 08. 11. 2024 - 19:11
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