Friedrich Lehne und der Jakobinerclub in Wöllstein - Eine historische Analyse
von Michael Gnessner
Wöllstein als jakobinische Hochburg 1792/93
Wöllstein, ein Dorf in Rheinhessen, erlangte während der Mainzer Republik 1792/93 besondere Bedeutung als jakobinische Hochburg und »revolutionäres Musterdorf«. In diesem kurzen Zeitraum – als französische Revolutionstruppen linksrheinisches Gebiet besetzt hielten – wurden auch in Wöllstein die Ideale der Französischen Revolution lebendig. Unter dem Einfluss der Mainzer Jakobiner, die sich in der »Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit« in Mainz zusammenschlossen, schlossen sich die Wöllsteiner früh der neuen Republik an. Sie pflanzten einen Freiheitsbaum als Symbol der Freiheit, hielten Volksversammlungen ab und beteiligten sich aktiv an der republikanischen Bewegung.
Der alte Feudalalltag geriet ins Wanken: Die neuen Machthaber propagierten demokratische Gremien und die Abkehr von feudalen Strukturen – z.B. Abschaffung ständischer Privilegien und Grundabgaben – ganz im Sinne von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese Parolen entsprachen, so versuchte man zu vermitteln, sogar christlichen Werten: Der Wöllsteiner Kaplan Gerhard Münch betonte in einem Pamphlet aus dem Jahre 1793, die Revolution richte sich zwar gegen die Fürstenkirche, aber nicht gegen die Religion. Im Gegenteil, die Ideale der Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – entsprächen dem Ideal der christlichen Nächstenliebe. Münch, der sich selbst augenzwinkernd als »Bürgerkaplan« bezeichnete, ermahnte seine Landsleute, ein guter Patriot zu sein bedeute ungeachtet der Herkunft, sich für die beste Verfassung – was nach seiner Ansicht die republikanische französische Verfassung war – zu entscheiden. Diese Haltung verdeutlicht die politischen Positionen des Jakobinerclubs: radikaldemokratisch, antifeudal, republikanisch und bereit, die Angliederung an Frankreich mitzutragen, um die Freiheitsrechte durchzusetzen. Viele Wöllsteiner fühlten sich fortan als »Neufranken«, als neue französische Bürger im Geiste der Revolution.
Zu den zentralen Forderungen des Jakobinerclubs in Wöllstein gehörten demnach:
- Demokratie und Volksrechte: Einführung von Volksversammlungen und Mitbestimmung der Bürger gegenüber fürstlichem Absolutismus).
- Gleichheit vor dem Gesetz: Abschaffung feudaler Privilegien der Adeligen und Stände, Ende der Leibeigenschaft und Frondienste.
- Freiheitsrechte: Meinungs- und Pressefreiheit, persönliche Freiheitsrechte nach dem Vorbild der französischen Menschen- und Bürgerrechte.
- Patriotismus der neuen Art: Unterstützung des Anschlusses an die Französische Republik als Garant der Freiheitsideale, ungeachtet der deutschen Herkunft.
- Säkularisierung in Maßen: Trennung von politischer und kirchlicher Macht; gleichwohl versuchte man, gläubige Bürger einzubinden – wie Münch betonte, stehe wahre christliche Moral nicht im Widerspruch zur Revolution.
Diese politischen Positionen wurden in Wöllstein nicht nur theoretisch vertreten, sondern auch praktisch inszeniert. So wurde etwa öffentlich der Freiheitsbaum gefeiert und revolutionäre Lieder gesungen. Ein zeitgenössischer Beobachter nannte Wöllstein deshalb ein »Dorf voll Enthusiasmus für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«. Allerdings ist ungewiss, wie weit die einfache Landbevölkerung diese neuen Ideen tatsächlich trug – zeitgenössische Berichte rühmen den Eifer der »braven Bürger von Wöllstein«, doch inwieweit dies alle sozialen Schichten erfasste, bleibt unscharf. Historiker weisen darauf hin, dass die Revolution von manchen als Befreiung, von anderen aber als fremdbestimmte französische Herrschaft wahrgenommen wurde. Besonders umstritten ist, ob die Mainzer Republik – und mit ihr die lokalen Jakobinerclubs – breite Unterstützung in der Bevölkerung hatten oder vor allem von einer kleinen jakobinischen Elite und der französischen Besatzungsmacht getragen wurden. Diese Unsicherheit gilt auch für Wöllstein: Quellen über Mitgliederzahl und Zusammensetzung des lokalen Klubs sind spärlich. Bekannt ist lediglich, dass neben Pfarrer Münch wohl einige fortschrittliche Bürger (möglicherweise Lehrer, Handwerker oder Winzer) die Bewegung anführten. Insgesamt aber wird Wöllstein in der Forschung als herausragendes Beispiel dafür gesehen, dass revolutionäre Ideen 1792/93 sogar in ländlichen Gemeinden Fuß fassen konnten.
Friedrich Lehnes Rolle im Wöllsteiner Jakobinerclub

Friedrich Lehne (1771–1836), war ein junger Mainzer Literat und begeisterter Jakobiner, spielte eine besondere Rolle im revolutionären Geschehen, auch im Kontext von Wöllstein. Lehne studierte in Mainz und war Schüler des radikalen Professors Andreas Joseph Hofmann. Ende 1792 – mit nur 21 Jahren – trat er der Mainzer Jakobinergesellschaft bei und machte sich schnell einen Namen als Revolutionspoet und Publizist. Er verfasste Flugschriften, Gedichte und Lieder, um die republikanischen Ideale zu verbreiten. Dabei wandte er sich auch gezielt an die ländliche Bevölkerung Rheinhessens.
Berühmt wurde insbesondere das »Lied der Freien Wöllsteiner«, das Lehne im Jahr 1793 verfasste. Dieses Lied – eine auf die Melodie der Marseillaise gedichtete Hymne – drückte die demokratischen Bestrebungen der Wöllsteiner Bürger aus und lobte ihren Einsatz für die Freiheit. Er schrieb es angesichts einer erfolgreichen Abstimmungskampagne in Wöllstein, bei der die Bürger mit überwältigender Mehrheit ihre Unterstützung für die republikanischen Ziele und den Anschluss an Frankreich bekundet hatten. Das Lied wurde 1793 in Mainz gedruckt, eingeleitet von einem begeisterten Vorwort, das die »lieben Brüder und braven Bürger von Wöllstein« für ihre patriotische Gesinnung ausdrücklich als vorbildlich hervorhob. Darin feierte Lehne den kleinen Ort als Musterbeispiel revolutionären Eifers – offensichtlich sollte Wöllstein als Inspiration für andere Gemeinden dienen. Ein prägnanter Vers im Lied lautet etwa: »Entflieht oder sterbt! … Wir pflanzten uns den Freiheitsbaum; der soll noch unsern Enkeln blüh’n«. Solche Zeilen unterstrichen den kompromisslosen Freiheitswillen. Lehnes dichterisches Talent wurde im Dienst der Revolution zu einem Agitationsmittel, das auch über Mainz hinaus Wirkung entfaltete. Seine Schriften und Lieder kursierten im gesamten republikanischen Umfeld – Nachweise seiner Gedichte finden sich nicht nur in Rheinhessen, sondern bis nach Norddeutschland und sogar Siebenbürgen.
In Wöllstein selbst war Lehne zwar kein dauerhaft ansässiges Mitglied, doch seine propagandistische Unterstützung war wichtig. Einerseits motivierte er die lokalen Jakobiner moralisch durch sein Lob; andererseits verknüpfte er die dörfliche Bewegung mit der größeren revolutionären Sache. Am 17.01,1793 hielt Friedrich Lehne im Mainzer Jakobinerklub eine vielbeachtete Rede, in der er seinen Lehrer Hofmann pries und gleichzeitig mahnte, man dürfe nicht nachlassen und müsse die Revolution konsequent vorantreiben. Diese Worte dürften auch für die Aktivisten in Orten wie Wöllstein bestimmt gewesen sein, die auf den Rückhalt und die Impulse aus Mainz angewiesen waren. Lehne fungierte somit als Vermittler zwischen dem intellektuellen Zentrum der Revolution in Mainz und den Basisbewegungen in der Region. Sein Lied für Wöllstein war ein Ausdruck dieser Vernetzung: Es adoptierte die Stimme der Landbürger und integrierte sie in den Chor der revolutionären Propaganda.
Lehne selbst bezeichnete die Wöllsteiner später als besonders treue Freiheitsfreunde. Damit unterstrich er ihre Bedeutung für den gesamtpolitischen Erfolg. Seine Hymnen und Gedichte, ob für Mainz oder Wöllstein, verfolgten stets ein Ziel: patriotischen Eifer zu wecken – sei es für die Verteidigung der Mainzer Republik oder für den angestrebten Anschluss an die Französische Republik. Tatsächlich stimmten im März 1793 die von den besetzten Gebieten gewählten Vertreter (darunter vermutlich auch ein Delegierter aus Wöllstein) für die Eingliederung in die französische Nation. Lehnes Schriften begleiteten diese Abstimmung ideologisch. Seine Rolle war somit die eines Revolutionsbarden und Agitators, der dem Jakobinerclub in Wöllstein ideellen Rückhalt gab und dessen Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Ohne offiziell Vorsitzender oder Funktionär in Wöllstein zu sein, war er doch ein wichtiger Impulsgeber und Verbündeter der lokalen Jakobiner.
Soziale Netzwerke und regionale Auswirkungen des Wöllsteiner Klubs
Der Jakobinerclub in Wöllstein stand nicht isoliert da, sondern war Teil eines dichten Netzwerks revolutionärer Akteure in Rheinhessen. Enge Verbindungen bestanden insbesondere zum Zentralclub in Mainz. So traten etwa Wöllsteiner Patrioten wie Pfarrer Münch persönlich im Mainzer Jakobinerklub auf – er hielt dort 1793 einen Vortrag, in dem er als »Bürgerkaplan« die Vereinbarkeit von Christentum und Republik erläuterte. Dies zeigt, dass die kommunikativen Kanäle zwischen der Stadt und den Dörfern offenstanden: Ideen, Redner und Schriften zirkulierten intensiv. Wöllstein war für die Mainzer Revolutionäre ein wertvolles Beispiel, dass die Revolution auch auf dem Land Anhänger fand. Umgekehrt schöpfte der Wöllsteiner Klub Legitimation daraus, von prominenten Demokraten wie Lehne und Hofmann unterstützt und gelobt zu werden. Eine Art patriotisches Solidaritätsgefühl verband die Freiheitsfreunde in Stadt und Land.
Auf regionaler Ebene blieb das Wirken des Wöllsteiner Jakobinerclubs nicht ohne Folgen. Zunächst zeigte sich ein Strahlkraft-Effekt: Andere Gemeinden der Umgebung orientierten sich an diesem »Musterdorf«. Zeitgenössische Presseberichte und Lieder verbreiteten den Ruf Wöllsteins als vorbildlich – was sicherlich Druck auf Nachbardörfer ausübte, ebenfalls den neuen Idealen zuzustimmen. Als im Frühjahr 1793 die Wöllsteiner in überwältigender Zahl für die neue Republik eintraten, dürften sich auch unentschlossene Gemeinden eher angeschlossen haben. Allerdings gab es auch Widerstände: Konservative Kräfte – etwa Teile des Klerus oder Anhänger des alten Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal – betrachteten die Entwicklungen mit Argwohn. In einigen Orten der Region kam es zu Spannungen zwischen Revolutionären und Traditionalisten. Über konkrete Konflikte in Wöllstein ist wenig bekannt, doch lässt die Tatsache, dass Pfarrer Münch fliehen musste, darauf schließen, dass Gegner der Revolution ihm das Leben vor Ort unsicher machten.
Tatsächlich brach im Juli 1793 mit der Rückeroberung der Region durch preußisch-österreichische Truppen die junge Freiheit jäh zusammen. Das Experiment der Demokratie endete auch in Wöllstein abrupt. Die Freiheitsbäume wurden gefällt, die Jakobinerclubs verboten, viele führende Köpfe verfolgt. So floh Friedrich Lehne beim Fall von Mainz im Juli 1793 gemeinsam mit anderen Republikanern nach Frankreich. Auch der Wöllsteiner »Bürgerkaplan« Münch entkam den Konterrevolutionären: Er schloss sich den französischen Truppen an und kämpfte – tragischerweise – in der Vendée (im Westen Frankreichs) gegen aufständische Royalisten, wo er fiel. Sein Schicksal verdeutlicht, wie eng verbunden die Wöllsteiner Bewegung mit der französischen Revolution war: Einige ihrer Protagonisten gingen buchstäblich für die Sache der Freiheit in den Krieg.
Dennoch hinterließ der Jakobinerclub nachhaltige Spuren. Als die Franzosen nach dem Frieden von Campo Formio 1797 zurückkehrten und das Linke Rheinufer endgültig annektierten, wurde an die früheren Netzwerke angeknüpft. Im März 1798 organisierte der französische Regierungskommissar Rudler eine offizielle Volksabstimmung über die Vereinigung mit Frankreich. Wiederum zählte Wöllstein zu den engagiertesten Gemeinden: Der zum juge de paix (Friedensrichter) ernannte Jakobiner Stephan Lewer, der nun in Wöllstein amtierte, unterschrieb als einer der Ersten eine Adresse der Wöllsteiner Bürger, in der diese um Aufnahme in die „République mère“, die französische Mutterrepublik, baten. Dies zeigt, dass die während der Mainzer Republik geknüpften loyalen Verbindungen zu Frankreich fortbestanden. Wöllstein wurde nun Verwaltungssitz eines Kantons im Département Donnersberg. Ehemalige Revolutionäre übernahmen lokale Ämter – so eben Lewer als Friedensrichter – und setzten die neuen Gesetze um. Die sozialen Netzwerke der Jakobiner verwandelten sich teils in formelle Amtsstrukturen der französischen Herrschaft.
Diese Integration brachte Vor- und Nachteile: Einerseits erhielten die Bürger Rechtsgleichheit nach Code civil, moderne Verwaltungen und wirtschaftliche Freiheiten. Andererseits zeigte sich unter Napoleon Bonaparte bald eine restriktivere Politik. Viele ursprüngliche Jakobiner standen loyal zu Frankreich, stießen sich jedoch an Napoleons autokratischem Regierungsstil. Ein Beispiel liefert Stephan Lewer in Wöllstein: Als der Präfekt 1802 anordnete, nur noch Französisch als Amtssprache zu verwenden, protestierte Lewer entschieden. Er argumentierte, das rein Französische überfordere die einheimischen Schöffen und nannte das Sprachdekret unverhältnismäßig. Tatsächlich erreichte der Wöllsteiner Friedensrichter – offenbar als Einziger im gesamten Département – dass bestimmte Urkunden weiterhin auf Deutsch abgefasst werden durften. Dieser Erfolg war allerdings nur von kurzer Dauer; Lewer wurde bereits 1803 durch einen einheimischen Beamten ersetzt, mutmaßlich weil sein Eintreten für die lokalen Bedürfnisse in Paris missbilligt wurde. Der Vorgang illustriert die regionalen Auswirkungen der jakobinischen Bewegung: Die einstigen Revolutionäre versuchten auch unter napoleonischer Verwaltung, die Interessen »ihres« Volkes zu vertreten, und gerieten dabei in ein Spannungsfeld zwischen idealistischen Zielen und der Realität eines straff organisierten Imperiums.
Insgesamt lässt sich sagen, dass der Jakobinerclub in Wöllstein ein Katalysator für Demokratisierung in der Region war. Kurzfristig inspirierte er umliegende Gemeinden und zog engagierte Persönlichkeiten an, was die revolutionäre Bewegung im Rhein-Main-Gebiet stärkte. Langfristig blieben viele der geknüpften sozialen Netzwerke bestehen: ehemalige »Klubisten« kannten einander und wirkten später – ob in französischen Ämtern, im Bildungsbürgertum oder in liberalen Zirkeln – weiter zusammen. Ihr früher Zusammenhalt im Kampf für Freiheit schuf ein Bewusstsein, das auch im 19. Jahrhundert nicht ganz erlosch. So betrachtet, reicht Wöllsteins Einfluss über seine Größe hinaus: Die Erinnerung an das »Musterdorf« lebte als Beispiel frühen demokratischen Aufbegehrens fort, und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beriefen sich liberale Denker auf die Tradition der Mainzer Republik.
Seit dem 18.03.2025 ist die Gemeinde Wöllstein auch ein »Ort der deutschen Demokratiegeschichte«, um an die Ereignisse 1792/93 zu erinnern.
Friedrich Lehne in napoleonischer Zeit und Vormärz
Die Ereignisse von 1792/93 prägten Friedrich Lehne zeitlebens. Nach dem Zusammenbruch der Mainzer Republik ging er – wie viele Jakobiner – ins französische Exil. Er diente in Paris in der Verwaltung und als Soldat der Nationalgarde, später in Straßburg, und kehrte 1798 nach Mainz zurück, als die Region französisch geworden war. Unter Napoleon machte der ehemalige Jakobiner dann Karriere im Bildungs- und Verwaltungsbereich, blieb aber den Idealen der Jugend verpflichtet. Zunächst zeigte er sich noch begeistert vom Ersten Konsul: Anlässlich von Napoleons Machtübernahme 1799 verfasste er einen Hymnus, in dem er den jungen »neuen Cäsar« überschwänglich als Retter der Republik und »Friedensgeber« pries. Auch schon 1797 hatte er Napoleon in einem Gedicht verherrlicht. Doch wie viele frühe deutsche Jakobiner konnte sich Lehne mit Napoleons zunehmend autoritärer Politik nicht dauerhaft anfreunden. Zwar gehörte er in der Folge zu der von Napoleon geschaffenen neuen Elite – den grands notables de l’Empire – und zählte zusammen mit dem Mainzer Maire Franz Konrad Macké und Präfekt Jeanbon St. André zu den prominenten Honoratioren des Départements. Napoleon wusste die Erfahrung und Verwaltungstalente der Ex-Jakobiner zu schätzen und band sie ein. Doch innerlich vollzogen viele von ihnen, auch Lehne, einen Wandel vom radikalen Revolutionspatriot zum gemäßigten Liberalen.
Lehne selbst blieb dabei ein Diener der Freiheit unter wechselnden Herren, wie ein Historiker es formuliert hat. In französischer Zeit wirkte er z.B. als Professor der schönen Wissenschaften in Mainz (Mayence) und als Konservator für Altertümer. Er nutzte das Wohlwollen des Präfekten Jeanbon St. André, um archäologische Forschungen zu betreiben und das kulturelle Erbe von Mainz zu sichern – ein etwas anderes, aber friedliches Betätigungsfeld, das seinen aufgeklärten Interessen entsprach. Politisch trat Lehne nach 1800 zunächst weniger offensiv in Erscheinung; jedoch blieb er publizistisch tätig: 1798 begründete er mit einem Mitstreiter die Zeitung »Beobachter vom Donnersberg«, eine republikanische Wochenschrift. Diese vertrat weiterhin die Ideale der Revolution und erschien bis 1801, geriet aber nach Napoleons Staatsstreich zunehmend in Konflikt mit den Zensurbehörden. Der einst glühende Jakobiner musste erleben, wie die Pressefreiheit wieder beschnitten wurde – ein klarer Rückschlag gegenüber den Errungenschaften von 1792/93. Gleichwohl bewahrte Lehne seine Überzeugungen, In seinen Schriften jener Zeit ist spürbar, dass er der republikanischen Sache innerlich treu blieb, auch wenn er sich mit direkten Angriffen auf das Regime zurückhielt.
Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft im Jahre 1814 und der Angliederung Rheinhessens an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt stand Friedrich Lehne in der Ära des Vormärz erneut an vorderster Front der liberalen Öffentlichkeit. Von 1816 bis 1822 fungierte er als Herausgeber der »Mainzer Zeitung«, die zeitweise als »Neue Mainzer Zeitung« erschien. Diese Zeitung entwickelte sich unter seiner Leitung zum führenden liberal-oppositionellen Blatt in Hessen. Sie zeichnete sich durch mutige Kritik an staatlicher Reaktion aus. So prangerte Lehne in Leitartikeln die scharfe Pressezensur, die engstirnige Kleinstaaterei in Deutschland und die restaurativen Tendenzen der Obrigkeit an. Ludwig Börne, einer der bekanntesten Publizisten jener Zeit, lobte die »Mainzer Zeitung« als hervorragendes Presseorgan. Lehnes frühere revolutionäre Gesinnung schimmerte deutlich durch – er kämpfte nun mit der Feder für konstitutionelle Freiheiten. Sein Eintreten für eine offenere Gesellschaft brachte ihn freilich in Konflikt mit den Behörden des Großherzogtums: 1822 wurde die Zeitung vorübergehend verboten und der Herausgeber seines Amtes enthoben. Doch hatte er bereits Maßstäbe gesetzt. Viele der von ihm thematisierten Anliegen – z.B. die Forderung nach Aufhebung der Zensur und nach nationaler Einheit – sollten in den folgenden Jahrzehnten die liberale Bewegung bis zur Revolution von 1848 prägen.
Charakteristisch für Lehne war, dass er sein Netzwerk aus der Revolutionszeit weiterhin nutzte. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts stand er in regem Kontakt mit anderen ehemaligen Mainzer Jakobinern und »Klubisten«. Darunter waren Persönlichkeiten wie Nikolaus Müller, Heinrich Karl Brühl oder Karl Anton Schaab – allesamt frühere Mitstreiter, die nun als Künstler, Professoren oder Juristen im bürgerlichen Leben von Mainz wirkten. In diesem Kreis vollzog sich auch der politischer Wandel des ehemaligen Jakobiners: Die stürmische Begeisterung der Jugend wich einer bürgerlich-sozialliberalen Haltung. Man blieb den Grundwerten von Freiheit und Gleichheit verbunden, vertrat sie aber mit gemäßigteren, reformerischen Tönen statt mit revolutionärer Radikalität.
Lehnes Lebensweg spiegelt somit die Entwicklung vieler deutscher Jakobiner wider – von der Revolution über das Napoleonische Kaiserreich bis zur frühen liberalen Opposition im Vormärz. Immer wieder suchte er nach Wegen, demokratische Ideen unter wechselnden Bedingungen zu fördern. Noch im fortgeschrittenen Alter galt sein Einsatz der historischen Bildung: als Stadtbibliothekar und Altertumsforscher in Mainz trug er dazu bei, das Erbe der Vergangenheit zu bewahren. Auch dies kann man als politisches Statement verstehen – die Würdigung des lokalen kulturellen Erbes war Teil der bürgerlichen Emanzipation und Identitätsbildung nach der Revolution.
Fazit
Der Jakobinerclub in Wöllstein und Friedrich Lehne stehen exemplarisch für die frühdemokratischen Bestrebungen im deutschen Raum zur Zeit der Französischen Revolution. In Wöllstein zeigte sich, wie revolutionäre Ideen in einer ländlichen Gemeinschaft umgesetzt werden konnten – mit Freiheitsbaum, Volksfesten, demokratischen Liedern und leidenschaftlichen Bürgern, die bereit waren, alte Bindungen zu lösen und Neuland zu betreten. Friedrich Lehne wiederum verkörpert den Revolutionsidealisten, der seine Überzeugungen auch unter veränderten Vorzeichen weiterverfolgte. Als junger Jakobiner dichtete er für die Freiheit; als gereifter Mann focht er publizistisch für Verfassung und Bürgerrechte. Beide – der Wöllsteiner Jakobinerclub und Lehne – waren eng verknüpft: sein Lobgesang »Lied der freien Wöllsteiner« verbindet ihren Namen untrennbar.
Gleichzeitig macht die Geschichte deutlich, dass frühe demokratische Bewegungen mit Widersprüchen und Unsicherheiten behaftet waren. So bleibt fraglich, ob die Mehrheit der Wöllsteiner die neuen Ideen aus vollem Herzen unterstützte oder ob eine engagierte Minderheit den Ton angab. Ebenso ist der Übergang zur napoleonischen Ära ambivalent zu bewerten: Einerseits setzten sich viele Forderungen der Jakobiner, wie rechtliche Gleichheit, Abschaffung der Feudalordnung, dauerhaft durch; andererseits ging die strenge französische Verwaltung mit neuen Zumutungen einher, wie zum Beispiel mit Sprachvorschriften oder dem verpflichtenden Militärdienst, die selbst glühende Patrioten vor Ort ernüchterten. Friedrich Lehne und seine Gesinnungsgenossen mussten lernen, Kompromisse einzugehen, ohne ihre Ideale ganz zu verraten.
Historisch wird die Mainzer Republik – und damit auch der Wöllsteiner Beitrag – heute unterschiedlich bewertet. Manche Historiker, wie Franz Dumont, würdigen sie als Vorläufer demokratischer Bewegungen in Deutschland, andere betonen stärker die Abhängigkeit von der französischen Armee und Zwangsmaßnahmen gegenüber Widerständlern. Diese Debatte spiegelt sich auch im konkreten Fall Wöllstein: War es ein echter Aufbruch der »Bauern und Bürger« für ihre Rechte oder vor allem das Werk einiger intellektueller Revolutionäre unter französischem Schutz? Die Antwort liegt wohl in der Mitte. Wöllstein war weder passiver Spielball fremder Mächte, noch eine vollends autonom entstandene Demokratie-Oase – sondern ein produktives Zusammenwirken lokaler Akteure mit den großen Umbrüchen der Zeit.
Unbestreitbar ist, dass der Jakobinerclub in Wöllstein und Persönlichkeiten wie Friedrich Lehne einen nachhaltigen Impuls gaben. Ihre Vision von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hat spätere Generationen beeinflusst. Friedrich Lehne starb 1836 in Mainz, doch sein Lebenswerk – vom Revolutionslied bis zur liberalen Zeitung – macht ihn zu einem Frühdemokraten deutscher Geschichte. Und Wöllstein trägt bis heute den Titel „Ort der Demokratiegeschichte“ – eine Gedenkplakette im Ort erinnert an die Ereignisse von 1792/93. Damit wird sichtbar, was Historiker Jörg Schweigard pointiert formuliert: Die frühen Jakobiner wirkten als „Wegbereiter der deutschen Demokratie“. Wöllstein und Lehne gehören zweifellos in diese Reihe der Wegbereiter – trotz aller Rückschläge und Ambivalenzen war ihr Kapitel ein bedeutender Schritt auf dem langen Weg zu freiheitlichen Verfassungen in Deutschland.
Quellenlage:
Die vorliegende Analyse stützt sich auf zeitgenössische Berichte und neuere Forschungen. Insbesondere die Edition der Protokolle des Mainzer Jakobinerklubs sowie regionale Studien liefern Einblicke in Wöllsteins Rolle. Friedrich Lehnes eigene Schriften und Briefe, zusammengefasst in späteren Publikationen, beleuchten sein Denken. Wo die Quellenlage unsicher ist, wurde dies im Text kenntlich gemacht. So bleibt die genaue soziale Zusammensetzung des Wöllsteiner Jakobinerclubs unklar – die Begeisterung im Ort wird zwar vielfach gerühmt, doch harte Zahlen fehlen. Ebenso beruhen Bewertungen von Lehnes Wirken im Vormärz teils auf indirekten Zeugnissen (z.B. zeitgenössischen Rezensionen seiner Zeitung). Trotz solcher Unschärfen ergibt sich insgesamt ein stimmiges Bild: Wöllstein und Friedrich Lehne stehen symbolisch für den Geist von 1793 auf deutschem Boden – eine frühe Blüte demokratischen Denkens, deren Nachklang bis in die Vormärzzeit reichte