Leben mit dem Krieg. Süddeutshland im Krieg mit und gegen Napoleon

von Ute Planert

5. Integration und Desintegration

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Nach den vorausgegangen Ausführungen läßt sich die Wirkung der Revolutions- und napoleonischen Kriege auf die Südweststaaten weniger als Fanal zur Staatsintegration denn als Destabilisierungsfaktor begreifen. Zwar bildete die durch den Krieg ausgelöste »territoriale Revolution« den Auftakt moderner Staatlichkeit, doch zunächst gingen aus den Wirren der napoleonischen Feldzüge nicht nur Untertanen und Gemeinden, sondern auch die Staaten mit immensen Schulden hervor. Das württembergische Finanzministerium bezifferte die Kriegsausgaben und -verluste von 1793 bis 1813 mit 65 Millionen Gulden und hatte dabei den Heeresetat noch gar nicht mitgerechnet. Etliche Gemeinden hatten noch Jahrzehnte an der Schuldenlast zu tragen, und auch eine Reihe außerordentlicher Steuern verlängerte die Belastung der Bevölkerung in die Friedensjahre hinein. Abgesehen von einem kurzlebigen Markt für Kriegsgeräte und Ersatzprodukte für die gesperrten englischen Erzeugnisse, der nach der französischen Niederlage rasch zusammenbrach, war die Wirtschaftsbilanz der napoleonischen Ära schlicht katastrophal. Die erhaltene Armenberichte aus den Oberämtern zeigen, daß die Zahl derjenigen, die von den Unterstützungsleistungen der Gemeinden abhingen, ständig im Steigen begriffen war. Die Unehelichenquote stieg, immer mehr Bettler und Vaganten bevölkerten die Straßen, und überall nahm die Zahl der Prozesse wegen Diebstahls und Bettelbetrugs zu. In den Garnisonsstädten  blühte die Prostitution. Münzfälschungen und »Accisdefraudationen« - Schmuggel - können als zeittypische Delikte gelten.

Die Verelendung breiter Bevölkerungskreise machte sich im Südwesten nicht erst im Vormärz, sondern bereits während der Koalitionskriege bemerkbar. Weil die öffentlichen Armendeputationen von den Kriegsfolgen überfordert waren, gründete sich in Stutgart schon 1805 der erste bürgerliche Armenverein. Zwischen 1810 und 1817 stiegen die Preise für Lebensmittel um das Drei- bis Fünffache; verwüstete Felder und ungünstige klimatische Bedingungen ließen die Not insbesondere 1815/16 so groß werden, daß die Menschen »Gras, Klee, Wurzeln und Heu; Kleye und Mehlstaub« kochten.  Rund 44.000 Württemberger wanderten zwischen 1816 und 1822 auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen aus.  8.4 Prozent der von der württembergischen Berufszählung  1817 Erfaßten lebte von der Armenhilfe lebten, und der im selben Jahr unter dem Vorsitz der Königin und mit tatkräftiger Hilfe bürgerlicher Frauen gegründete Württembergische Armenverein berief sich ausdrücklich auf die durch den Krieg und die anschließende Mißernte ausgelöste Not.

Der Krieg barg spezifische Verarmungsrisiken, die auch die Geschlechter unterschiedlich betrafen. Während die Desertion die materielle Existenz einer Familie vernichten konnte, war auch der Kriegsdienst mit Verarmung verbunden, denn der Sold der Gemeinen reichte kaum aus, diese selbst, geschweige den eine Familie zu versorgen. Etliche Rekrutierte baten daher um die Erlaubnis, zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen zu dürfen. Der »Bettel der Soldatenweiber und - kinder« war den Behörden notorisch bekannt. Zwar war die ehedem private Unterstützung von Kriegsinvaliden mit Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals in einen staatlichen Unterhaltsanspruch umgewandelt worden,  doch war er an so langjährige Dienstzeiten geknüpft, daß nur wenige Soldaten Ansprüche anmelden konnten. Auch die Witwenversorgung blieb unzureichend, und so verwundert es nicht, daß Frauen  unter den Armen des Landes überproportional vertreten waren Die Vielzahl derer, die die erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllten, konnten nur auf die Bewilligung von Gratialen, Gnadengeschenken, hoffen.  Noch in der zweiten Jahrhunderthälfte fühlte sich daher der Bischof von Rottenburg veranlaßt, zu Spenden für die Veteranen der antinapoleonischen Kriegen  aufzurufen.
Nicht nur der Krieg selbst, auch die Erinnerung an den Krieg taugte im Südwesten nicht zum Vehikel der Staatsintegration. Dazu hatte der politische Bezugsrahmen zu oft gewechselt, hatte man zu lange auf der - von der Warte des neuen nationalen Paradigmas  aus betrachtet - falschen Seite gestanden. Für die Heimgekehrten aus den napoleonischen Kriegen gibt es in Baden und Württemberg keine öffentlichen Ehrenbezeigungen, keine besonderen Pensionen, keine Denkmäler oder Medaillen. Die Staaten regierten erst, als sich Ende der 1830er Jahre die überlebenden Soldaten in Veteranenvereinen zusammenschlossen und um die Verleihung von Kriegsauszeichnungen petitionierten. Sowohl Baden als auch Württemberg bemühten sich dann darum, ihre Geschichte zu bereinigen und die von unten erzwungenen Ehrungen in den Kontext der dominanten Erinnerung von der erfolgreichen »deutschen Erhebung« zu stellen. Die badische Felddienst-Auszeichnung schloß alle Kriegsteilnehmer an den Feldzügen vor 1806 aus und wurde bezeichnenderweise zum  25. Jahrestag des Landwehr-Ausmarsches gegen Frankreich  verliehen. Auch in Württemberg war die offizielle Erinnerung selektiv: Der erste Entwurf der württembergischen Kriegsgedenkmünze nahm nur auf die erfolgreichen Kriege gegen Frankreich zwischen 1813 und 1815 Bezug. Die tatsächlich geprägten Münzen verwiesen dann zwar doch auf alle Feldzüge und bezogen die Teilnehmer aller Kriege ein. Aber sie trugen den gekrönten Anfangsbuchstabe des regierenden Königs Wilhelm I., der  im Gegensatz zu seinem Vater Friedrich als bekennender Gegner Napoleons den Übergang Württembergs zu den Allierten mit vorbereitet und  die württembergischen Truppen  im Kampf gegen Frankreich befehligt hatte. Mehr als eine Generation nach den Ereignissen wurden die Münzen mit dem W nun am Geburtstag und am 25jährigen Thronjubiläum des regierenden Monarchen verliehen. Dadurch stellte man die Veteranenfeiern nicht nur in den Dienst aktueller landespatriotischer Staatsintegration, sondern suchte die württembergische Vergangenheit auch im deutsch-nationalen Sinn umzudeuten. Offenbar mit Erfolg: Die von der Ständekammer anläßlich des Thronjubiläums gestiftete Siegessäule blendete die napoleonische Vergangenheit komplett aus und stellt nur Schlachten dar, die 1814 im Kampf gegen Frankreich für den damaligen Kronprinzen erfolgreich verlaufen waren. Und eine 1842 den Veteranen im Oberamtsbezirk Münsingen gestiftete Fahne hielt kurz und bündig fest: »Zum Andenken an den Befreiungskampf Deutschlands«.

Ebenso wenig wie der Krieg selbst bot die ungeschminkte Kriegserinnerung Anknüpfungspunkte für die Integration der Territorialstaaten im deutschen Südwesten. Im Gegensatz zu Preußen trat hier denn auch das Militär als Integrationsfaktor gegenüber Wirtschaftsförderung, Verfassungspolitik, sozialer Integration durch Armenfürsorge in sozialdisziplinierender Absicht und der Herstellung eines patriotischen Landesbewußtseins zurück. Gleichzeitig erwies sich der Sog des Nationalen als so stark, daß die Geschichte der Rheinbundstaaten  im Sinne des borussifizierten Mythos der Befreiungskriege umgedeutet werden mußte, um überhaupt zum Bestandteil der offiziellen Erinnerungspolitik werden zu können. Der zeitliche Abstand von 25 Jahren erleichterte diesen Vorgang ebenso wenig wie die Tatsache, daß vergleichsweise wenige Soldaten die Schlachten auf Seiten der Rheinbundarmeen überlebt hatten. An dieser Umdeutung und Bereinigung ihrer Geschichte wirkten selbst die Veteranenvereine mit und forderten in den Festschriften zu ihren Erinnerungsfeiern dazu auf, das - Zitat - »Mißgetön der Klage, das noch hervortönt aus blut’ger Schlacht« zum Verstummen zu bringen.  Das Trauern und die Totenklage wurde anderen Institutionen überlassen - der katholischen Kirche vor allem, den Familien der Angehörigen und der mündlichen Überlieferung des dörflichen Gedächtnisses. Die nationale Erinnerung braucht Helden und Sieger - wer sich in dieses Muster nicht fügte, fiel der Geschichtsklitterung oder dem Vergessen anheim.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03